Als er endlich durch die vielen gewundenen Gänge die Gemächer seines Sohnes erreicht hatte und die Tür öffnete, war ihm gleich klar, dass er zu spät war. Der Raum war leer. Fast hatte er das Gefühl, hier hätte niemals jemand gewohnt. Er spürte einen Stich in der Gegend seines Herzens wie er ihn sehr, sehr lange nicht mehr gespürt hatte. Es fühlte sich nach Verlust an.
Es gab einen weiteren Ausgang ganz in der Nähe der königlichen Gemächer, die sie normalerweise nutzen, wenn sie sich etwas Privatsphäre wünschten. Er führte zu einer kleinen Plattform über dem Fluss. Ein paar Bäume umrandeten den Platz und schützen ihn vor neugierigen Augen. Sie suchten diesen Platz in der Regel auf, wenn sie alleine sein wollten.
Offenbar hatte sein Sohn jeglichen Fragen aus dem Weg gehen wollen und jetzt konnte er ihn tatsächlich nicht mehr fragen.
Langsam senkte der Elbenkönig den Kopf und seufzte leise auf. Jetzt würde er warten müssen bis sein Sohn wieder kam. Wenn er wiederkam.
Er konnte sein Volk in der jetzigen Situation nicht sich selbst überlassen. Sie brauchten Unterstützung, Führung, jemanden, dem sie ihre Sorgen offenbaren konnten. Und er wusste nicht, wer außer ihm das tun konnte. Da gab es niemanden, dem er das überlassen konnte. Er vertraute nicht vielen. Legolas hätte er den Wald überlassen. Aber keinem anderen.
Miriel war ihrem Großvater gefolgt und stand hinter ihm in der Tür. Sie hatte sich umgezogen. Sie trug ein grünes Wollkleid und keine Schuhe. Sie war normalerweise kein Freund von Kleidern, aber dieses hier war gemütlich. Sie hatte es im Kleiderschrank ihrer Großmutter gefunden und es angezogen. Ihr Vater war fast ausgerastet, weil sie es genommen hatte. Sie war ziemlich grob geworden. Sie verdrängte den Gedanken. Sie liebte das Kleid einfach, weil es so einfach und gemütlich war.
„Was?" fragte sie ihren Großvater, der stand da wie ein betröppelter Hund.
„Jetzt kann ich nicht mehr mit ihm reden" seufzte er schwermütig.
„Ich habe nicht einmal gemerkt, dass ihn etwas bedrückt. Und so langsam frage ich mich, ob ich das jemals getan habe. Ich habe meine eigenen Ängste und Sorgen vorgeschoben und seine übersehen. Jetzt ist er weg und mir bleibt nichts anderes übrig als zu warten bis er wieder kommt! Wenn er denn wiederkommen wird!"
„Jetzt wirst du auch noch sentimental" grummelte sie und strich ihre schwarzen Haare zurück.
„Was ist nur los mit dir, Miriel? Warum bist du so zu deinen Eltern? Sie lieben dich. So sehr. Deine Mutter war so glücklich als sie dich endlich in den Armen hielt und dein Vater auch. Du bist ihr ganzer Stolz. Warum weist du sie so ab?"
Trotzig sah sie ihn an, warf die Haare in den Nacken und verschwand. Das ging ihn kein bisschen was an.
Leicht verzweifelt und ziemlich verstört, machte sich Thranduil schließlich auf den Weg zurück in sein Büro. Die Arbeit würde ihn sicher etwas ablenken. Er wünschte sich gerade sehr, seine Frau wäre wieder hier. Sie hatte immer Rat gewusst. Und sie hatte gefühlt, wenn es ihrem Sohn nicht gut ging.
Es sah ganz so aus als hätte er als Vater versagt und seinen Sohn sehr enttäuscht. Er war ihm sicher nicht der Vater, der er hätte sein sollen.
Legolas hatte ihre beiden Taschen nach oben getragen. Der Platz war groß genug für die Adler und sie kamen auch keine fünf Minuten nach dem er mit seiner Frau und seinen Kleinen oben angekommen war. Er verstaute ihre Taschen, half Arwen mit den Zwillingen auf einen Adler und stieg mit den Mädchen auf den anderen auf.
Sie erhoben sich hoch in die Luft. Es dauerte nicht lange und sie hatte den großen Grünwald hinter sich gelassen. Legolas sah nach unten. Dort unten am Fluss hatte er seine Frau zum ersten Mal gesehen. Ein leichtes Lächeln glitt über sein Gesicht. Es war schon so lange her und er war längst nicht mehr so unbeschwert wie damals.
Die Reise verlief sehr schweigsam. Die Mädchen beobachteten neugierig das Land. Sie waren noch nie außerhalb des Waldes gewesen. Ein einziges Mal waren sie in Richtung Esgaroth gefahren. Auf dem Fluss. Aber sie waren nicht in die Stadt. Für sie war es etwas ganz Tolles und sie genossen die Reise sehr. Sie freuten sich darauf ihre Großeltern wieder zu sehen. Sie hatten sie erst einmal gesehen. Die kleine Gweneth konnte sich kaum daran erinnern. Sie war einfach noch zu klein gewesen.
Eirien war sehr schweigsam, nahm aber alles begierig und neugierig auf. Sie brauchte nicht viele Worte. Ihre Eltern verstanden sie auch so.
Am frühen Nachmittag erreichten sie Rivendell. Man hatte ihrem Vater ihre Ankunft bereits angekündigt und er erwartete sie gemeinsam mit Celebrian, den Zwillingen und Anoriel.
Ihre Mutter und ihre Schwester trugen beide zartfliederfarbene Kleider. So sahen sie einander noch ähnlicher als es so und so schon der Fall war. Beide hatten silberblondes Haar, lilablaue Augen. Sie waren groß gewachsen und schlank, sanftmütig und sehr geduldig.
Sie begrüßten Arwen, Legolas und die Kinder mit einem herzerwärmenden Lächeln und drückten sie sanft.
Ihre Brüder waren wie eh und je eher ungestüm, zu Scherzen aufgelegt und neckten sie liebevoll. Sie lächelte glücklich. Sie kannte ja die Art wie ihre Brüder ihrer Freude Ausdruck verliehen.
„Hallo, mein Liebes" lächelte Elrond und nahm seine Tochter in den Arm.
„Oh Ada" Sie drückte ihn mal und stellte ihm ihre süßen, kleinen Zwillinge vor.
Elrond lächelte stolz.
„Zwei wunderschöne Jungs. Sie gleichen ihrem Vater!"
Er begrüßte seinen Schwiegersohn auch und drückte ihn.
„Kommt, Kinder. Bringen wir eure Sachen in eure Zimmer und dann treffen wir uns nachher wieder zum Abendessen. Dann können wir reden und ihr erzählt mir alles, was sich zugetragen hat!"
„Ja, Adar. Das machen wir!"
Sie folgte ihm in ihre Zimmer und legte zuerst einmal ihre Zwillinge ins Bett. Legolas hatte sich bei den Adlern bedankt und das Gepäck hinter ihnen hergetragen.
Eirien hatte ihre Großmutter scheu begrüßt und war dann sogleich ihrer Mutter hinterher geeilt. Sie trug ein hellgrünes Kleid und ihre Haare offen, genau wie ihre Mutter. Sie war nur etwas ruhiger in ihrer Art. Aber wenigstens genauso verständnisvoll und klug, auch wenn sie erst 10 Jahre alt war.
Gweneth war da weitaus zutraulicher gewesen und war mit ihrer Oma und ihrer Tante mitgegangen. Sie war neugierig und wollte sich umschauen. Hier sah alles ganz anders aus als zuhause. Sie rannte aufgeregt durch das Tal. Ihr gelbes Kleidchen flatterte im Wind und sie sah aus wie ein kleiner Schmetterling. Ein jeder hatte ein Lächeln im Gesicht beim Anblick des kleinen Sonnenscheinchens.
Summend packte Arwen ihre Kleider in die Schränke. Ihr Vater hatte ihr Zimmer unverändert gelassen und so fühlte sie sich hier schnell wieder zuhause. Zwei wunderschöne handgeschnitzte Wiegen waren ins Zimmer gestellt worden und ihr altes Spielzimmer war zum Schlafzimmer für ihre beiden Töchter umfunktioniert worden.
„Oh schau nur, Liebling" lächelte sie und zog ihn mit rüber.
„Ist das nicht wunderschön?"
Er sah sich um und nickte.
„Ja, schön!"
Er war etwas bleich im Gesicht und seine Stimme klang zittrig. Sie spürte seinen Schmerz so deutlich als ob es ihr eigener gewesen wäre. Aber sie wollte sich davon nicht entmutigen oder auffressen lassen. Sie würde versuchen ihm zu helfen.
Zärtlich streichelte sie über seine Wange und küsste ihn sanft. Ihr erster richtiger Kuss seit langer Zeit.
Sie spürte wie seine Arme sich um sie schlossen und er sie richtig fest an sich drückte. Tränen schossen ihm in die Augen und er weinte bitterlich.
Langsam sank sie mit ihm auf eines der Betten und zog ihn in ihre Arme, wiegte ihn sanft etwas und küsste ihn auf die Stirn. Sie ließ ihn weinen. Er sollte seinem Kummer nur Luft machen. Vielleicht würde er ihr nun endlich einmal sagen, was ihn bedrückte. Sie war sich ziemlich sicher, dass es das war, was sie vermutete.
Eirien sah erschrocken auf. Sie hatte hinter dem zweiten Bett auf dem Boden gesessen und ihre Kleider ausgepackt. Ihre Eltern hatten sie wohl nicht gesehen oder bemerkt.
„Adar"
Sie rannte zu ihren Eltern und nahm seine Hände.
„Warum weint er, Nana? Warum weint er denn?"
Ihr Stimmchen zitterte vor Aufregung.
„Sh, Eirien. Keine Angst, meine Prinzessin. Dein Ada macht sich nur Sorgen. Es ist nichts Schlimmes!"
Sie sah ihren Vater an. So hatte sie ihn ja noch nie in ihrem Leben gesehen.
„Nur keine Angst, Prinzessin. Es ist alles in Ordnung!" Sie streichelte ihre Wange
Legolas war aufgestanden und atmete tief durch.
„Schon gut. Es geht mir gut"
Er stand auf und verließ das Zimmer. Er wollte seinen Kindern nicht auch noch mit seinen Sorgen zur Last fallen. Sie brauchten nicht zu merken wie es ihrem Vater ging. Sie sollten spielen und fröhlich sein. Es war ja nicht ihre Schuld.
Eirien sah ihrem Vater nach und sah dann ihre Mutter an.
„Nana?"
Arwen sah auf. Sie band ihre Haare zurück.
„Ich weiß. Du verstehst mehr als ich dir zutraue" seufzte sie leise.
„Komm, mein Liebling! Ich erzähle dir, was ich weiß!"
Eirien setzte sich zu ihrer Mutter.
Legolas ließ sich in einem Pavillion nieder und schloss die Augen. Ihm war schon klar, dass er Arwen im Moment sehr aus seinem Leben ausschloss. Überhaupt schloss er alle aus seinem Leben aus. Er spielte zwar mit seinen Kindern, er freute sich über seine Söhnchen, aber in Gedanken war er immer ganz woanders.
Es war ihr aufgefallen, da war er sich sicher. Gleich von Anfang an. So was merkte sie immer. Sie kannte ihn viel zu gut. Vielleicht sogar besser als er sich selbst. Wahrscheinlich wusste sie schon längst eine Lösung, zumindest eine Möglichkeit und wollte wieder nur, dass er von sich aus fragte und redete.
Sicherlich wusste sie schon was ihn bedrückte, zumindest ahnte sie es, auch wenn er es ihr noch nicht so gesagt hatte. Nur sein Vater, der wusste es wohl nicht und er ahnte wohl auch nichts. Er verhielt sich ihm gegenüber ja auch so. Nichts ahnend.
Das einzige, was Legolas sich wünschte, war, dass es seinem Vater auch mal auffiel, wenn es ihm nicht gut ging. Dass er auch mal Zuwendung brauchte und er war es leid darum zu betteln.
