Kapitel 5
Früh am Morgen hatte König Thranduil beschlossen mit seiner Enkeltochter zu reden. Alles andere hatte einfach keinen Sinn mehr und er befürchtete, dass er, wenn er sie nicht endlich zum Reden brachte, seinen Sohn entgültig verlieren würde.
Er wollte unbedingt verstehen, warum sein Sohn so tief verletzt war und was seine Enkeltochter dazu brachte, so schlecht von ihren Eltern zu reden.
Es dauerte eine geraume Weile bis er in seinem Gewand steckte. Unter seiner hellblauen Tunika trug er ein weißes Hemd mit kunstvollen Stickereien, eine grünbraune Hose und weiche braune Lederstiefel mit Silberrand und Stickereien in Silber. Seine Haare hingen ihm heute lose über den Schultern und er gedachte auch nicht sie zusammenzubinden. Er wollte ja nur mit seiner Enkelin reden und keinen Staatsempfang veranstalten. Er wollte natürlich wirken und nicht steif und höfisch. Immerhin sollte es ein persönliches Gespräch werden.
War es vielleicht das, was seinem Sohn fehlte? Nähe?
Das musste er herausfinden.
Er eilte durch die Gänge zu den Gemächern seiner Enkelin.
„Miriel?"
Er riss die Türen auf und betrat den Raum.
„Miriel?"
„Herr"
Eine junge Elbe verneigte sich.
„Eure Enkeltochter ist am Morgen mit einer Schar Krieger aufgebrochen um den Wald zu säubern und eine Horde Orks zu jagen."
„Was?"
„In der Nacht ist ein Flett etwas außerhalb überfallen und niedergebrannt worden. Alle Bewohner sind tot. Bis auf einen kleinen Jungen, Herr!"
Er rieb sich die Schläfen.
„Warum hat man mich nicht geweckt?"
„Verzeihung, Herr. Aber Eure Enkeltochter sagte, dass sei nicht nötig. Ihr wäret müde und wolltet etwas ruhen und sie würde das schon regeln. Man hat sie gewähren lassen!"
„Törichtes Kind!" fluchte er und eilte in den Ratssaal.
„Eine Versammlung. Los, ruf alle zusammen!" fuhr er einen Elben an, der an einem der Fenster stand und leise sang.
Miriel seufzte leise auf. Sie hatte befürchtet, dass er sie heute drauf ansprechen würde. Es war ja nur eine Frage der Zeit bis er das tun würde. Das hatte sie genau gewusst. Vor allem jetzt wo ihre Erzeuger einfach so abgereist waren. Nach Rivendell. Zu ihrem ach so tollen Großvater.
Sie seufzte leise und rieb sich den Nacken. Sie waren seit Stunden auf den Pferden. Sie hatten sicherlich 20 Spinnen erwischt und es auch geschafft zwei Nester auszuräuchern. Aber es wurde immer schwerer. Sie hatten eine Art Schutzwall um ihr Wohngebiet aufgebaut. Aber wie lange der Stand halten würde, wussten sie alle nicht.
An einem der letzten Nester hatten sie Spuren der Orks entdeckt und waren ihnen so gleich gefolgt. Die matthellgrünen, neuen Stiefel drückten gegen ihre Wade und hinterließen leicht schmerzende Reibespuren. Ihre braune Hose war durchgescheuert und ihr blassbeiges Hemd war mehr als nur etwas schmutzig. Ihre Haare verdienten das Attribut Elbenhaar schon lange nicht mehr. Sie fühlte sich eher wie ein Strohsack. Aber sie musste dafür sorgen, dass diese Orks gefasst wurden. Das war ihre Aufgabe.
Zumindest hatte sie sich die selbst so gestellt.
Zu allem Übel fing es jetzt auch noch an zu regnen. Binnen Sekunden waren sie alle klatschnass.
„So kommen wir nicht weit, Miriel"
Sie sah auf.
„Was redest du für einen Schwachsinn" schnauzte sie Ren an. Sie kannte ihn schon sehr lange. Er war einer ihrer Freunde. Zumindest war er ein Freund, in dem Sinne, was sie unter Freund verstand. Vielleicht sah er das anders. Aber das kümmerte sie auch nicht sehr viel.
Ren sah sie aus großen, gütigen, braunen Augen an. Er kannte sie schon sehr lange. Vielleicht besser als sie sich selbst und er sah über vieles hinweg, was sie ihm so am Tage an dem Kopf schmiss. Er war geduldig. Ein Jäger eben.
„Miriel, es ist kalt. Es regnet. Man sieht kaum die Hand vor Augen. Lass uns rasten!"
„Dann verlieren wir sie ganz aus den Augen. Die Spuren werden verwischen. So finden wir sie nie!" Schrie sie wütend.
„Miriel" nun erhob auch er seine Stimme. „Lass es für heute gut sein. Es reicht jetzt. Durch den Schlamm kommen wir nicht weiter. Alle sind müde und erschöpft. Wir haben heute wahrlich schon genug gekämpft. Wir werden jetzt rasten!"
Wütend sah sie ihn an, musste aber feststellen, dass alle abstiegen und sich einen sicheren Platz im dichteren Blattwerk suchten und sich niederlegten. Sie losten untereinander Wachen aus und verteilten Lembas untereinander.
Ren sah sie an. Sie war wunderschön, wenn sie so aufgebracht und wütend war. Obwohl sie noch schöner war, wenn sie lächelte. Aber sie gewährte anderen nur selten Einblick in ihr Selbst.
„Was?"
Ihre Stimme klang sehr abweisend und fast feindselig. Man untergrub hier gerade ihre Autorität und das brachte sie aus dem Konzept und machte sie unsicher. Sie hasste dieses Gefühl. Sie hasste es wirklich. Und in ihren Augen war das einzig und allein Rens Schuld. Sie wand sich von ihm ab und setzte sich neben ihrem Pferd weit ab von den anderen in den Regen.
Ren seufzte tief auf und band sein nasses Haar zurück. Sie machte es ihm nicht gerade leicht. Aber er wusste genau, dass er so jetzt nicht an sie ran kommen würde. Also ließ er sie einfach in Ruhe und setzte sich zu den anderen ans Feuer. Sie würde schon herkommen, wenn es ihr zu ungemütlich wurde. Da war er sich ziemlich sicher.
Der Rat war sogleich zusammen gekommen.
Thranduil saß missmutig und grummelnd auf seinem Thron und grübelte. Tiefe Falten zogen sich über seine Stirn. Er wirkte sehr, sehr alt heute. Und müde. Vielleicht sogar verzweifelt. Und genau diese Verzweiflung machte ihn irre wütend. Und für gewöhnlich ließ er seine Wut und seinen Missmut an anderen aus.
Es war fast totenstill im Saal. Keiner wagte es zu reden oder auch nur zu atmen. Der Gesang in den Hallen war verstummt. Alle warteten bis er das Wort an sie richtete, was eine lange Zeit nicht geschah.
Erst gegen Spätnachmittag erhob der Elbenkönig sich und sah in die Runde. Sie hatten alle geschwiegen. Kein Wort war in den langen Stunden gefallen.
„Wir müssen ihnen eine größere Truppe nachschicken"
Er klang besonnen, sehr ruhig. Sehr zur Überraschung aller die ein Donnerwetter erwartet hatten.
„Ich werde das sogleich veranlassen!" Einer seiner Berater erhob sich und eilte in die Quartiere der Jäger.
Thranduil sah ihm nach und nickte langsam.
„Ich werde nach Rivendell reisen."
Ein überraschtes Murmeln und Raunen ging durch den Saal.
„Und zwar allein" fuhr er fort.
„Ich möchte, dass ihr gemeinsam dafür sorgt, dass alle hier in Ruhe und Sicherheit leben können. Ich vertraue euch unser Heim an. Ich würde nicht gehen, wenn es nicht wichtig wäre. Aber hier geht es um meine Familie. In allererster Linie um meinen Sohn. Und ich möchte ihm wenigstens einmal in meinem Leben ein guter Vater sein. Ich werde gleich aufbrechen. Sollte Miriel in der Zwischenzeit zurückkehren, so vertraue ich euch ihr an. Sollte das nicht der Fall sein, dann wird Hierolim euch führen und leiten."
Alle nickten und verneigten sich.
Er bat Hierolim zu sich und gab ihm ein paar Anweisungen. Danach eilte er in seine Gemächer und packte. Er würde nicht viel mitnehmen. Er kleidete sich schlicht und wenige Minuten später war von dem würdevollen Elbenkönig nicht mehr viel übrig. Er war sich sicher, dass nicht einmal sein Volk ihn so noch erkennen würde.
Er verließ den Palast durch ihren privaten Ausgang und eilte zu Fuß los. Er wollte um jeden Preis unscheinbar und unerkannt bleiben.
„Heute ist sie aber richtig störrisch" meinte Urophil und sah Ren an.
Er nickte und seufzte „Ja, sie sollte längst hier bei uns am Feuer sitzen und etwas essen und ruhen!"
„Vielleicht solltest du mal nachsehen!"
Ren nickte und erhob sich. Langsam ging er zu der Stelle, an der sie sich niedergelassen hatte. Vergebens wartete er darauf, dass sie ihn anfauchte, weil er sie nicht in Ruhe ließ. Als er die Stelle erreichte, war weit und breit niemand zu sehen. Nur ihr Messer und Bogen lagen auf dem Boden. Panik stieg in ihm auf. Dann rief er nach den anderen.
