„Keine Sorge", sagte sie. „Du läufst einfach schnurstracks auf die Absperrung vor dem Bahnsteig für die Gleise neun und zehn zu. Halt nicht an und hab keine Angst, du könntest dagegen knallen, das ist sehr wichtig. Wenn du nervös bist, dann renn lieber ein bisschen."
(J. K. Rowling)
1. Ligusterweg: Zwischenstation
„Einer ist gegangen
ohne Gruß und Wort,
räumt den halbgeleerten
Kelch vom Tische fort! …" (Karl Mayer)
Kein bisschen WiedersehensfreudeAus den Gesprächen während der Fahrt, die ihn völlig außen vor ließen, hörte Harry heraus, dass das Wohnzimmer und der Flur gestrichen wurden und somit das Haus bis zum Abend gesperrt war. Sie setzten Dudley bei einem Freund ab, von dem er abends nach Hause gehen sollte. Tante Petunia verbrachte den Nachmittag in einem Friseursalon, Onkel Vernon im Büro und Harry im Auto auf dem Parkplatz vor Onkel Vernons Firma. Er schlief.
Gegen sieben Uhr ging es dann zum Ligusterweg.
Fassungslos starrte Harry, den schweren Koffer und Hedwigs Käfig in den Händen, auf die Frontansicht des Hauses der Dursleys. Er mochte nicht glauben, dass er tatsächlich wieder hier war. Alles in ihm sträubte sich und doch musste er sich letzten Endes zusammenreißen und einem unablässig schimpfenden Onkel Vernon ins Haus folgen.
„Ich hätte nie gedacht, dass du es wagst, noch einmal bei uns wohnen zu wollen! Ich hätte nie gedacht, dass dieses Pack dich noch einmal zu uns abschiebt! Die wissen wohl gar nicht, wo sie mit dir hinsollen, wie?"
Im Flur entledigte sich Onkel Vernon seiner Jacke. Harry, dem die Sicht auf die Treppe versperrt war, konnte Dudley nur am zarten Klang seines Trampelns und am Geruch einer fetten Hühnerkeule erkennen: „Warst du noch in der Stadt? Hast du mir was mitgebracht?"
„Mehr oder weniger!" grinste Harry und Onkel Vernon fuhr ihn an: „Das findest du witzig, Bursche!"
Sirius hätte es witzig gefunden!´ schoss es Harry durch den Kopf und er biss fest die Lippen aufeinander.
Onkel Vernon schnaubte: „Will dich denn keiner von deinen elenden Zaubererfreunden?"
„Vernon!" protestierte Tante Petunia, die eben aus der Küche kam, winkte schnell den Nachbarn von gegenüber zu und schloss hektisch die Tür.
Harry erwiderte nichts und machte sich auf die nächste Spitze gefasst.
„Was ist mit diesem ... diesem Paten, von dem du mal geredet hast?" - Trotzdem zuckte Harry zusammen.- „War das dieser blasse, magere Kerl vom Bahnhof?"
„Nein!"
„Ja, aber, wo ist er denn? Kann der dich nicht nehmen?"
Harry fuhr herum: „Er ist tot! Verstehst du? Tot! Er wird nie wieder kommen! Selbst du mit deinem Spatzenhirn musst einsehen, dass dieser Umstand die Möglichkeit, mich bei sich aufzunehmen, etwas erschwert!"
Alle drei waren zusammen gezuckt. Tante Petunia schielte noch einmal besorgt aus dem Fenster zu den Nachbarn und Dudley hob die Keule auf, die ihm vor Schreck heruntergefallen war. Er wischte sie kurz an seinem Shirt ab und verzog sich dann kauend ins Wohnzimmer. Da er nun doch nichts bekommen würde, interessierte ihn mehr die x-te Wiederholung eines schwachsinnigen Actionfilms, welchen er sorgfältig studierte, um ihn mit seinen Kumpels nachzuspielen.
Einzig Onkel Vernon schien den Inhalt von Harrys Worten gehört und sogar begriffen zu haben, doch er zog es vor, sich auf sicherem Terrain zu bewegen und auf Harrys Beleidigung einzugehen: „Wie kannst du es wagen ..."
Harry drehte sich weg und schlurfte die Treppe hoch. Auf Onkel Vernons gespucktes „Bleib gefälligst hier, wenn ich mit dir rede!" reagierte er nicht.
In seinem Zimmer angekommen, packte er sorgfältig und vor allem langsam seine Sachen aus, um möglichst lange beschäftigt zu sein und dann setzte er sich aufs Bett und atmete tief durch.
Es war grässlich, wieder hier zu sein! Das Atmen fiel ihm schwerer und sein ganzer Körper schien matter und schlaffer zu werden.
Unten hörte er seinen Onkel mit seiner Tante herumschreien; der einzigen, die ihm zuhörte. Die Schimpftiraden über Harry schienen diesmal gar kein Ende zu nehmen. Doch Harry blendete ihn aus. Er zog eine Packung Schokofrösche aus seinem Vorratsbeutel, steckte sich einen in den Mund und suchte dann in seiner Schultasche nach seinem Fotoalbum. Er vergrub sich in die Bilder von seinem Eltern, als sie noch jung waren und blieb am Foto ihrer Hochzeit hängen. Er betrachtete sie liebevoll. Das hübsche, freundliche Gesicht seiner Mutter lachte ihm entgegen. Sie schien beinahe vor Glück zu schweben. Sein Vater stand neben ihr, hatte für seine Verhältnisse unglaublich glatte Haare, was hieß, dass sie lediglich in zwei Richtungen abstanden, und grinste ebenfalls breit. Der Mann neben ihm hätte allerdings beiden die Show gestohlen, hätte er sich nicht bescheiden im Hintergrund gehalten. In einer für Sirius untypischen Art stand er einen halben Meter hinter James und lächelte in einer für ihn wiederum sehr typischen Art ziemlich unwiderstehlich in die Kamera. Er betrachtete abwechselnd Lily und James und warf ab und an Reis und etwas anderes, das verdächtig nach Bertie Botts Bohnen aussah, über ihre Köpfe.
Harry strich mit den Fingern über das leicht vergilbte und ein wenig schmutzige Bild.
Er würde nie sagen, dass er seine Eltern nicht vermisste. NIE! Er dachte nachts an sie, wenn er nicht schlafen konnte und stellte sich vor, wie schön es wäre, jetzt aufzustehen und hinunter ins Wohnzimmer zu gehen. Die beiden würden dann dort sitzen und überrascht aufsehen. Dann würde er sich zu ihnen setzen und nachdem sie sich eine heiße Schokolade und ein paar Kekse gezaubert hätten, würden sie sich unterhalten. Darüber, was sie den ganzen Tag getan hätten (Harry fiel hier immer schmerzlich ein, dass er gar nicht wusste, welchen Berufen seine Eltern nachgegangen waren, doch er verdrängte diesen Gedanken) und Harry würde erzählen, wie er demnächst Ron und Hermine besuchen wollte. Und sie würden lachen und schwatzen, bis seine Mutter streng, doch mit einem lieben Lächeln darauf hinweisen würde, dass sie nun wirklich alle in Bett gehörten. Und natürlich würden Harry und sein Vater ihrer Aufforderung sofort folgen.
Harry lächelte. So an seine Eltern zu denken, war wirklich schön. Und es tat ihm ehrlich leid, dass er sie sich nur vorstellen konnte, da er sie nie kennen gelernt hatte. Doch an Sirius zu denken tat beinahe körperlich weh. Bei ihm musste er nicht irgendwelche Phantasien vermissen; bei ihm vermisste er Wirklichkeiten. Er vermisste sein grinsendes Gesicht im Feuer des Kamins und seine aufbrausenden Reden. Er vermisste sogar seine mürrische Laune und seine Ungeduld, wenn jemand nicht sofort begriff, worauf er hinaus wollte. Und er vermisste die absolut schwachsinnigen Einfälle und Sirius´ unermüdliche Bereitschaft, nach Abenteuern zu suchen.
Es war gar nicht mal so unwahrscheinlich, dass er irgendwann einmal bei Sirius hätte leben können ... bis ...
Harry schloss die Augen und fühlte sich in eine Vollmondnacht vor drei Jahren versetzt. Er kam gerade aus dem Geheimgang der Peitschenden Weide, Ron, Hermine, den Verräter Wurmschwanz und Remus Lupin hinter, und Sirius Black, einen zotteligen, verwahrlosten Sträfling mit irrem Blick neben sich.
„Vielleicht möchtest du ja bei mir wohnen." Er klang sehr unsicher in der Überzeugung, dass es Harry bei den Dursleys sicher besser gefiel als bei ihm. Harry hatte sofort gefragt, wann er bei ihm einziehen könnte, was ja nur verdeutlichte, wie sehr er sein „Leben" bei den Dursleys hasste. Schließlich war er bereit gewesen, von heute auf morgen bei einem zwar unschuldigen, aber immerhin ziemlich verrückt wirkenden Fremden zu leben.
Er hatte damals instinktiv richtig gehandelt. Doch es hatte sich nie die Möglichkeit ergeben, bei Sirius zu leben, wenn man die Zeit im Haus der Blacks letzten Sommer nicht mitzählte und das tat Harry nicht. Und jetzt war es zu spät.
Aber war es zu spät?
Harry hatte mit Professor Dumbledore gesprochen beziehungsweise er hatte ihn angeschrieen und sein Büro demoliert. Wo er jetzt gerade daran dachte, er würde sich demnächst einmal schriftlich bei seinem Schulleiter entschuldigen.
Er hatte mit dem Fast Kopflosen Nick geredet.
Aber
er mochte es noch immer nicht glauben!
Vor nicht einmal einer
Stunde hatte er den dämlichen Dursleys in die verhassten
Gesichter gebrüllt, dass sein Pate tot wäre und nie wieder
kommen würde und trotzdem klang es wie ein schlechter Scherz,
welcher Sirius hinter der Tür hervorlocken und mit schiefem
Grinsen sagen lassen würde „Jetzt mach hier mal nicht die
Leute wild, Harry!"
Sirius war zwar nicht hinter der Tür hervorgekommen, doch Harry musste an den Vorhang denken, in den sein Pate gefallen war. Er hatte Stimmen aus eben diesem Vorhang gehört und er konnte sich gut vorstellen, dass dort ein paar Menschen hockten, Sirius eingeschlossen, die einfach nur darauf warteten, dass sie jemand wieder herausholte.
Vielleicht sollte er einfach mal ein paar Leute über diesen Vorhang ausfragen. Dummerweise kam keiner der Lehrer in Hogwarts dafür in Frage. Die würden sofort Lunte riechen und ihn ordentlich ins Gebet nehmen.
Harry stand auf und ging zum Fenster. Er starrte hinaus ins Dämmerlicht und suchte geschickt die Straße nach Mitgliedern des Ordens ab, die bestimmt wieder zu seiner Bewachung abgestellt worden waren. Er war sich sicher, dass er wieder beschattet wurde wie ein kostbarer Schatz (oder wie die wichtigste Waffe in einem Kampf), doch es würde wohl niemand Kontakt zu ihm aufnehmen. Moody hatte zwar gedroht, sie würden oft vorbeikommen, aber Harry glaubte, das würden sie nur im Notfall tun. Letzten Sommer hatte er sich darüber geärgert; nun war es ihm nur Recht.
Er entdeckte die getigerte Katze mit den brillenförmigen Ringen um den wachsamen Augen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und konnte nicht umhin, ihr zu zu winken. Professor McGonagall schien darüber etwas verärgert, denn sie sträubte kurz das sorgfältig geputzte Fell und wandte ihm demonstrativ den gemusterten Rücken zu.
Harry war froh, dass sie sich wieder von dem Angriff erholt hatte. Es sah eine zeitlang gar nicht gut aus.
Ein paar Straßenlaternen weiter stand ein schrecklich heruntergekommener Penner, der gerade von einem Ehepaar, das in der sicheren Haustür stand, zusammen gestaucht wurde. Harry beobachtete Mundungus Fletcher ein wenig und schüttelte den Kopf. Diese Verkleidung war vielleicht für eine Großstadt geeignet, doch hier im Ligusterweg hätten die Menschen eher noch einen fliegenden Besen als einen Penner hingenommen. Mundungus apparierte kurzerhand, nachdem die Leute ihre Türen geschlossen hatten, um drinnen vom Wohnzimmer aus die Polizei zu rufen. Harry vermutete stark, dass das Ärger mit McGonagall geben würde.
Es wurde nun ziemlich schnell dunkel. Harry ignorierte den einen nicht ernst gemeinten Ruf seiner Tante, er solle gefälligst zum Abendessen kommen und beobachtete weiter die Straße. Vielleicht tat sich ja etwas Spannendes.
Nach einiger Zeit erschienen an einem schäbig aussehenden Briefkasten geräuschlos die Umrisse eines Mannes. Harry fuhr aus seiner gemütlichen Haltung hoch.
Professor McGonagall war schon vor einer halben Stunde verschwunden. Sie wurde in fliegendem Wechsel von einer nervösen Mrs. Figg abgelöst, die auffällig nach einer ihrer Katzen suchte und sich immer wieder panisch umblickte. Ihre Silhouette entspannte sich, als der Mann auftauchte. Sie wechselte ein paar Worte mit ihm und zottelte nach Hause. Als der Mann hochblickte, duckte Harry sich rasch. Als er nach einer Weile wieder hochsah, stand der Mann noch immer gemütlich herum, besah sich die von Laternen beleuchtete Straße, die fast behaglich wirken könnte, wenn sie nicht so verdammt steril wäre.
Langsam gewöhnten sich Harrys Augen an die Dunkelheit und er erkannte den Auror Kingsley Shaklebolt, der nun seinen Zauberstab zückte. Er sprach leise einen Zauber über das Haus der Dursleys aus und Harry meinte, einen bläulichen Ring zu sehen, der sich um die Mauern legte. Dann verblasste er wieder und Kingsley tippte sich einmal mit dem Stab auf den Kopf. Kurz darauf verschwand er flimmernd.
Harry wusste, dass er sich desillusioniert hatte; das hatte er selbst letzten Sommer erlebt. Harry wandte jetzt seinen Blick und seine Aufmerksamkeit dem Briefkasten zu, welcher unauffällig auf dem Bürgersteig stand. Er hatte ihn dort noch nie gesehen und er war sich ziemlich sicher, dass dieser ein Portschlüssel war, mit dem Kingsley hergekommen war. Er führte bestimmt nach London ins Hauptquartier des Phönixordens.
Das war zwar durchaus interessant, aber momentan verspürte Harry nicht die geringste Lust, sich dort hin zu begeben. Wenn Sirius nun da gewesen wäre ... Andererseits, wenn ihm einmal allzu langweilig werden würde, könnte er sich den Umhang seines Vaters schnappen und ein bisschen lauschen gehen.
Gähnend legte er sich aufs Bett und kehrte zu seinem Gedankengang vor der Observation der Straße zurück: Wen konnte er über den ominösen Vorhang befragen, ohne dass der Orden dies spitzkriegte?
Dummerweise kannte Harry keine Zauberer außerhalb der Schule und Hermine zu bitten, ihm irgendetwas nachzuschlagen ... nun, dann könnte er auch gleich mit den Professoren Dumbledore und McGonagall reden.
Er beschloss, erst einmal ein wenig zu lesen; vielleicht kam die Antwort dann von selbst. Er vertiefte sich in „Mein Gehirn gehört mir – Eine Einführung in die Okklumentik" und schlief darüber ein.
