Es schellte sehr laut und nachhaltig an der Tür.
„Harry!" bölkten Onkel Vernon aus dem Wohnzimmer und Tante Petunia aus der Küche, „Aufmachen!"
Harry, der gerade im Schrank unter der Treppe hockte und seine alten Schulsachen aufräumte, schlurfte zur Tür. Was sollte er sich lange mit denen herumstreiten? Er öffnete und ihm blieb vor Überraschung der Mund offen stehen.
„Du?"
„Komm ich ungelegen?" Kingsley grinste ihn breit an.
„Ähm ... ähm ..."
„Wer ist denn da?" Onkel Vernon schob seinen Kopf so weit es ging und mit so wenig körperlicher Bewegung wie möglich über die Sessellehne und schielte in den Flur. Als er den riesigen, schwarzen Mann im dunklen Mantel in der Tür stehen sah, fiel er beinahe vom Sessel.
„Wer sind Sie denn?" keuchte er und hüpfte ungelenk zur Tür, „Kenn ich Sie? Zu wem wollen Sie?"
„Guten Tag, Mr. Dursley! Verzeihen Sie bitte die unangemeldete Störung!"
Onkel Vernon brummte ein „Naja, halb so schlimm!". Offensichtlich war er von Kingsleys höflicher Art beeindruckt. Vielleicht schüchterte ihn allerdings auch nur sein Erscheinungsbild ein; er sah aus, wie ein Killer aus einem Gangsterfilm. Folglich fand Dudley, der mittlerweile ebenfalls aus der guten Stube kam, ihn ziemlich cool und beguckte ihn ungeniert.
„Also, was kann ich für Sie tun, Mr. ...?"
„Kingsley Shaklebolt! Ich komme gerade direkt vom Ministerium in London und wollte einmal bei Ihnen nach dem Rechten sehen!"
Onkel Vernon machte ein dermaßen verdutztes Gesicht, dass Harry sich auf die Lippen beißen musste, um nicht laut zu lachen.
„Ministerium? Nun, ich weiß nicht. Meine Steuererklärung war vollkommen in Ordnung."
„Ihre Steuererklärung interessiert mich nicht im Geringsten, Mr. Dursley. Ich bin gekommen, um Harry abzuholen."
„Wirklich? Jetzt schon? Warte kurz, ich geh packen!" Und schon war Harry die Treppe hoch gestürzt. Er war der Meinung, dass er noch keine ganzen vier Wochen hier verbracht hatte, doch er konnte sich auch täuschen. Schließlich hatte er fast ununterbrochen in seinem Zimmer gehockt, abwechselnd gelernt und gewütet und jede Anordnung der Dursleys missachtet. Doch sie hatten ihn deswegen nicht hinaus geworfen. Er musste tatsächlich einen absolut ver- beziehungsweise gestörten Eindruck machen. Oder es hatten sich doch Mitglieder des Ordens für ihn eingesetzt und Onkel Vernon vielleicht bei der Arbeit eingeschüchtert.
Dann kam ihm der entsetzliche Gedanke, dass er vielleicht nicht direkt zum Fuchsbau sollte, sondern nach London! Harry hielt ihn seinen Packbewegungen inne und atmete schwer. Er war sich sicher, dass er das nicht aushalten würde!
Unten im Flur fühlte sich Onkel Vernon gerade persönlich beleidigt, da er auf einen Zauberer hereingefallen war und wollte ihm gerade die Tür vor der Nase zu schlagen, als Tante Petunia aus der Küche kam: „Wer ist denn da, Vernon? Oh, wer sind Sie denn?"
„Kingsley Shaklebolt und höchst erfreut, Sie kennen zu lernen, Mrs. Dursley!"
„Oh", flötete Tante Petunia, ganz berauscht von dem Charme des Fremden und wollte ihn tatsächlich gerade auf eine Tasse Kaffee einladen, als Harry von oben brüllte: „Kingsley, fliegen wir oder soll ich den Besen erst mal einpacken!"
Tante Petunia zuckte zurück, als wäre sie gerade im Begriff gewesen, ein Tier zu streicheln, das ihr im letzten Augenblick doch als zu ekelhaft erschienen war.
„Pack ihn ein; wir fliegen nicht." rief Kingsley zurück und grinste die Dursleys zufrieden an.
„Sie können draußen warten!" schnaubte Onkel Vernon und stieß gegen die Tür, doch Harry war dazwischen gesprungen. Keuchend, da er die Treppe fast herunter geflogen war, und seine Angst mühsam unterdrückend fragte er: „Geht´s zum Fuchsbau?"
Kingsley wusste genau, was Harry meinte und sagte beruhigend: „Erst einmal geht es zum Fuchsbau! Keine Sorge, wir stecken dich nicht gleich in dieses Haus!"
„Nicht gleich?" Harrys Gesicht wurde verschlossen, „Wann?"
„Das werden wir sehen, Harry! Fakt ist, dass ihr nicht die ganzen Ferien über im Fuchsbau bleiben könnt, da er nicht sicher genug ist. Aber wir werden sehen!"
Ergeben schlurfte Harry die Treppe hoch. Er hatte ja damit gerechnet. Und es tat gar nicht mal so doll weh, wie er befürchtet hatte. Es kroch keine lähmende Angst in ihm hoch bei dem Gedanken, bald wieder in Sirius´ Haus zu sitzen; in dem Haus, das er so gehasst hatte. Aber das mochte noch kommen. Erst einmal wollte er sich auf den Fuchsbau und auf seine Freunde freuen. Er brachte sogar ein kleines Grinsen zustande, als er an Mrs. Weasleys erfreutes Gesicht dachte.
Etwas später stand Harry am Bahnhof und wunderte sich ein bisschen. Kingsley hatte kaum ein Wort über Harrys bevorstehende Reise verloren, sondern sich lediglich an der „Dussligkeit der Muggel" auf ihrem Fußmarsch hierher erfreut.
Sie wollten ihn also mit einem ganz normalen Muggelzug fahren lassen. Das war vermutlich momentan ungefährlicher als jede andere Art der Fortbewegung. Das Flohnetzwerk wurde schon letzten Sommer überwacht. Apparieren hatte Harry noch nicht gelernt. Sie hätten ihm zu Ehren einen Portschlüssel erschaffen können, doch vermutlich wachte da das Portschlüsselbüro im Ministerium ebenfalls streng drüber.
„Bringst du mich eigentlich?"
„Nein, tut mir leid, dafür habe ich keine Zeit! Ich werde in fünf Minuten in London erwartet und muss mir noch einen geeigneten Kamin suchen."
Harry setzte sich auf seinen Koffer und nahm die Fahrkarte von Kingsley entgegen.
„Dir wird schon nichts passieren! Niemand wird vermuten, dass der berühmt-berüchtigte Harry Potter sich in einen muffigen und mit Graffiti verzierten Interregio setzen würde." Kingsley lachte laut und kehlig über seinen Scherz, „Ottery St. Catchpole ist deine Station. Die Weasleys holen dich ab. Viel Spaß und benimm dich!"
„Aber ... können wir denn den Kaminen wieder trauen?" fragte Harry besorgt.
Kingsley nickte: „Dumbledore hat dafür gesorgt! Ich benutze außerdem Ein-Weg-Flohpulver. Das haben Snape und ein paar Kollegen entwickelt. Allerdings solltest du dich von jedem Kamin fernhalten! Versuch ja nicht ohne ein Ordensmitglied durch´s Flohnetzwerk zu reisen!"
„Schon gut. Hatte ich nicht vor!"
