Harry und Remus
Dean war gleich nach dem Frühstück heimgefahren. Mit dem Zug und ziemlich erleichtert. Sie verbrachten den Tag wieder mit Aufräumen und Vorbereitungen, da Hermines Eltern am nächsten Tag kommen wollten. Am Abend, als alle vor dem Essen ungewohnt friedlich herumsaßen, klingelte es, worüber Charlie erstaunt und furchtbar dankbar war. Mrs. Weasley öffnete. Drei Personen traten ein, wobei Letztere Mrs. Weasley ganz furchterregend aufkreischen ließ.
Alle stürmten herbei; Harry, Ron und Hermine kamen gemeinsam aus dem Wohnzimmer, wo sie gemeinsam gesessen und gemeinsam ihre Stundenpläne bearbeitet hatten und sogar ein bisschen miteinander gesprochen hatte. Doch jeder von ihnen hatte sich schrecklich allein gefühlt.
Als erster trat Mad-Eye Moody in die Küche der Weasleys und brummte eine allgemeine Begrüßung. Er sah zerknautscht und misstrauisch aus wie immer und schien noch ein paar Macken und Narben mehr zu haben.
Nach ihm kam Professor Lupin in einem langen Mantel und sichtlich mager und blass, weswegen Harry sich fragte, ob bald Vollmond war oder ob sein Lehrer auch so sehr litt wie er. Er schloss, dass beides zutraf.
Schließlich kam die letzte Person in die Küche. Es war Percy!
Seine Mutter stürzte sich auf ihn und schlug und umarmte gleichzeitig. Durch ihr wildes Schluchzen hörte Harry kaum Lupins Worte, als er endlich vor ihm stand.
Lupin lächelte und streckte den Arm nach Harry aus. Als er ihn fest umschloss und Harry sich an seiner schmalen Brust wieder fand, fiel ihm schmerzhaft ein, dass er Sirius nie richtig umarmt hatte. Er erwiderte diese freundschaftliche Geste, auch wenn er sich ein bisschen seltsam dabei vorkam. So nah war er schließlich seinem Lehrer nie gewesen. Lupin wirkte etwas verlegen, doch auch sichtlich erleichtert.
Percy wurde währenddessen von einem zum anderen gereicht. Er gab Erklärungen und Entschuldigungen ab, die niemand verstand, da er mittlerweile auch heulte.
Beim Essen erfuhren endlich alle, wie es Percy ergangen war. Er wollte den Erwartungen seiner Vorgesetzten entsprechen doch er war immer wieder auf Ungereimtheiten gestoßen, die ihn verunsicherten. Aber je mehr er zweifelte, desto tiefer stürzte er sich in die Arbeit, um sich und seine Überzeugungen irgendwie zu erhalten. Doch die Angst, die Geschichten könnten wahr sein, nagte an ihm und die Entfremdung von seiner Familie machte es wider Erwarten nicht besser, sondern schlechter.
Gestern Nacht noch war Charlies Brief angekommen und Percy hatte regelrecht die Flucht ergriffen. Zu lesen, dass seine Familie ihn nicht nur empfangen würde, wenn er jetzt vor ihrer Tür stände, sondern, dass sie ihn sogar vermisste und bei sich haben wollte, war etwas, dass Percy sich nicht einmal mehr hatte träumen lassen.
Und jetzt stand er hier beziehungsweise saß mit seinen Eltern, Geschwistern und deren Freunden am Tisch und war bereit, sich all dem zu stellen und sich ihnen anzuschließen, bedingungslos und absolut, wenn sie ihn noch wollten. Er wurde wieder etwas melodramatisch und Harry, Ron und besonders die Zwillinge ärgerten sich noch immer über seine Reaktionen und Briefe.
Harry saß neben Lupin und hielt sich den ganzen Abend, der aufgrund der zahlreichen Geschichten sehr lang wurde, stets in seiner Nähe auf. Er fühlte sich wie ein Schwimmer, der bis zum Letzten gekämpft hatte und der langsam müde Arme bekam; der in der Nähe des rettenden Ankers umherpaddelte, falls er drohte, endgültig unterzugehen.
Lupin war still und ließ Moody erzählen. Ab und an warf er ein erklärendes Wort ein und lächelte schüchtern, wenn sich bewundernde Blicke an ihn hefteten. Als es ans allgemeine Aufräumen ging, stand Harry mit hängendem Armen an der Treppe und sah Lupin an. Dieser wünschte allen eine gute Nacht und kam zu ihm.
„Und, Harry, müde?"
Harry schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Gähnen.
„Wollen wir uns morgen ein wenig unterhalten?" fragte Lupin rau und Harry zuckte mit den Schultern.
„Wir haben den ganzen Tag, dann muss ich für einen Abend nach London. Ich komme aber nachts zurück."
Harry nickte wieder.
„Verlerne das Sprechen nicht, mein Lieber!" tadelte Lupin lächelnd und ging schweren Schrittes nach oben.
Harry und Ron schliefen in Rons Bett und die Zwillinge, die ihr Zimmer den Gästen hatten räumen mussten, lagen bei Ron auf dem Boden. Moody hatte darauf bestanden, bei Lupin zu schlafen. Die schlimmen Vermutungen der Kinder bestätigten sich, als sie Lupin tief in der Nacht schreien hörten. Er brüllte nach Sirius und schluchzte markerschütternd.
Harry schossen Tränen in die Augen und er presste sein Kissen auf die Ohren. Ron klopfte ihm mitleidig auf die zitternde Schulter und die Zwillinge verzogen bedrückt die Gesichter.
Am nächsten Morgen entschuldigte sich Lupin kleinlaut bei allen und verdrückte sich möglichst schnell mit Harry nach draußen. Sie setzten sich in eine wichtelfreie Ecke und schwiegen sich an. Es war nicht zu sagen, wer blasser war. Doch immerhin waren sie zusammen, wie Harry fand und er spürte verwundert eine Art Verbundenheit.
Ähnlich der Verbundenheit, die er im ersten Moment noch gefühlt hatte, als er Ron und Hermine wieder gesehen hatte, die aber gleich darauf wieder verschwunden war und die er bis jetzt vermisste. Oder vielmehr bemerkte er ihr Fehlen. Richtig vermissen tat er sie nicht.
Er genoss es beinahe, mit Lupin hier zu sitzen, doch ihm grauste davor, mit ihm zu reden. Nicht nur, dass er sich noch immer schuldig fühlte; er hatte sogar die irrationale Angst, dass Lupin ihm Vorwürfe machen könnte. Vielleicht würde er sie nicht aussprechen, doch Harry würde es merken, wenn er ihn ansah.
Lupin seufzte und wandte sich Harry zu: „Hast du nicht auch das Gefühl, er würde jeden Augenblick wiederkommen? Durch diese Pforte, durch diese Haustür ...?"
„ ... durch den Kamin." murmelte Harry und zerquetschte einen Grashalm, „Er steckte dauernd im Kamin."
Lupin nickte.
„Er kommt wieder!" sagte Harry schlicht, woraufhin Lupin ihn stirnrunzelnd ansah: „Wie meinst du das?"
„Es kann nicht so einfach vorbei sein! Er wird wiederkommen oder zumindest Kontakt mit uns aufnehmen; das weiß ich!"
„Ist es das, was du weißt oder das, was du wünschst?" fragte Lupin leise. Doch Harry war nicht davon abzubringen: „Voldemort ist zurückgekehrt. In den unterschiedlichsten Formen und Gestalten. Warum sollte Sirius das nicht auch schaffen!"
Lupin war zusammengezuckt und sagte: „Vergleich Sirius nicht mit diesem Monster!"
„Das war nicht meine Absicht ..."
„Schon gut. Aber wir sollten uns abfinden mit dem, was unabänderlich ist!"
„Wir sind Zauberer!" meinte Harry, als erklärte das alles.
„Und trotzdem haben wir keine Macht über den Tod!" sagte Lupin nachdrücklich. Da begann Harry zu schreien: „Hast du damals auch so reagiert, als meine Eltern gestorben sind? Einfach abfinden und gut damit? Hast du nicht versucht ..."
„Harry, sei ruhig!" fuhr Lupin hart dazwischen, „Ich war so allein wie noch nie in meinem Leben! Drei meiner besten Freunde tot und der letzte als Verräter und Mörder in Askaban! Ich wusste weder, was ich denken, noch, was ich tun sollte! Und mittlerweile habe ich auch den letzten verloren ... jetzt habe ich alle verloren!"
Harry schluckte: „Es tut mir Leid!"
Und es tat ihm Leid! Es tat ihm Leid, dass Lupin jetzt allein war oder sich zumindest so fühlte. Und es tat ihm Leid, dass er noch Freunde hatte, die für ihn da sein konnten, die er aber nicht zu würdigen wusste!
„Ach, Harry! Einmal angefangen, findet so etwas kein Ende! Ein Zauber für deinen toten Paten und dann willst du deine Eltern zurück und womöglich Cedric! Du wirst immer wahnsinniger und nichts funktioniert. Alles geht schief und reißt noch tiefere Wunden!"
Als Lupin verstummte, schwiegen sie eine Weile. Dann setzte Harry mit belegter Stimme wieder an: „Ich habe kaum Zeit gehabt mit ihm . . . es war immer zu gefährlich ... und ich wollte doch so viel ..." Als er zu weinen begann, nahm Lupin ihn in die Arme und tätschelte tröstend seinen verwuschelten Kopf.
Harry war selbst erstaunt, dass er weinen konnte. Es war nicht leicht, vor oder mit anderen zu weinen. Auch nicht, wenn es Ron war.
Harry drückte sich ein bisschen an seinen Lehrer und versuchte, ruhiger zu atmen. Er fragte sich, wie viel er Lupin erzählen sollte beziehungsweise konnte. Sein Lehrer hatte schon genug Kummer und Schmerz zu verarbeiten, was Harry ja gerade erfuhr. Schon der Gedanke, Sirius könnte vielleicht wieder kommen, hatte Lupin etwas aus der Fassung gebracht und er war ein sehr ruhiger, besonnener Mensch. Er würde nicht mehr verkraften. Und so beschloss Harry, auch ihm nichts von der Prophezeiung zu erzählen und der Stein auf seinem Herzen schien noch schwerer zu werden.
Nach einer Weile sagte Lupin mit belegter, kaum hörbarer Stimme: „Ich bin schuld, weißt du? Ich habe mich ihm in den Weg gestellt, aber ich war nicht hartnäckig genug! Ich hätte ihn fesselnd und knebeln, ich hätte ihn versteinern sollen! Alles, nur, ich hab ihn gehen lassen!"
Harry sah erstaunt auf und wischte sich die Tränen vom Gesicht: „Glau-...ben Sie ... das wirklich?"
Lupin ließ den Kopf hängen und antwortete leise: „Ich hab wochenlang mit mir gerungen und gehadert. Ich konnte manchmal an nichts anderes denken! Manchmal, wenn ich träume, dann bleibe ich stehen und lasse mir nicht den Zauberstab aus der Hand fegen. Da reagiere ich schneller und entwaffne ihn und sage: „Tut mir Leid, mein Freund, aber du bleibst hier!" Irgendwie hab ich gespürt, dass das schief gehen würde, deswegen wollte ich ihn aufhalten! Hätte ich es bloß getan!"
„Schwachsinn!" sagte Harry laut und bitter, so dass Lupin ihn ansah, „Schwachsinn! Wenn ich damals nicht ins Ministerium geflogen und in Gefahr geraten wäre, wärt ihr niemals dort aufgetaucht und Sirius wäre noch am Leben!"
„Du wolltest ihn retten, meine Güte! Harry, du bist doch nur dorthin geflogen, weil du dachtest, Sirius wäre in Gefahr! Ich hab dein Verhalten damals verstanden und ich verstehe es heute, wie alle anderen auch! Niemand macht dir einen Vorwurf, außer du dir selbst! Du hast etwas sehr Mutiges getan ..."
„Ich habe etwas sehr Dummes getan; das ist alles!"
„Etwas Mutiges zu tun, bedeutet, sich auf ein Risiko einzulassen! Das ist mutig! Wenn es dann nicht klappt, nennen wir es im Nachhinein dumm und wenn es klappt, nennen wir es heldenhaft! Es ist alles Ansichtssache! Ich weiß nur, dass ich dasselbe für Sirius und auch für dich getan hätte! Und Sirius hat schließlich auch nicht auf mich gehört und ist im Hauptquartier geblieben. Er ist mit uns gekommen und hat sich der Gefahr bewusst gestellt, um dich zu retten! Das ist in einer Freundschaft so!"
Harry wischte sich kurz übers Gesicht und sah Lupin fest an: „Na, dann hast ... haben Sie also auch keine Schuld! Wenn Sirius sich dazu entschlossen hat ... und wir beide wissen, wie er ist, wenn er sich zu etwas entschließt! Dann bringt ihn keiner davon ab! Und ... Sie haben es zumindest versucht. Allein die Absicht zählt!"
Lupin verzog den Mund zu einem grimmigen Lächeln: „Ja, vielleicht! Aber ich kenne ihn nun schon so lange!" Er fuhr nicht fort, obwohl Harry erwartet hatte, dass noch etwas kommen würde. Eine Weile schwiegen sie. Dann räusperte Lupin sich: „Du weißt, dass wir demnächst zurück nach London müssen."
Harry nickte stumm, doch er wollte nicht weiter auf das Thema eingehen. Er wollte es wie so vieles weit weg schieben. Dann sah er Lupin an: „Ich bin froh, dass Sie wieder zurück nach Hogwarts kommen!"
Lupin räusperte sich: „Ich auch; das kannst du mir glauben! Die Alternative wäre schließlich, allein in London rum zu sitzen und darauf kann ich wirklich verzichten. In Hogwarts kann ich auch dir helfen! Außerdem glaube ich, es geht in Ordnung, wenn du mich nicht länger siezt. Ich meine, wir sitzen hier jetzt beide und weinen; das wäre irgendwie albern, oder?"
„Soll ich also „du" sagen?"
„Wenn du möchtest! Ich bitte darum!"
„Und du hilfst mir? Ich meine ... du hast ... ihn schon einmal verloren." brachte Harry mühsam über die Lippen, „Ich denke, vielleicht kannst du mir dabei helfen, es irgendwie zu überstehen und nicht durchzudrehen!"
Remus stöhnte schwer und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.
„Ja, ich habe ihn schon einmal verloren! Und ich kann es kaum fassen, dass ich ihn schon wieder verloren habe! Aber diesmal ist es zum Glück anders. Damals hatte ich niemanden! Keine Menschenseele! Jetzt habe ich immerhin dich!" Dieses kleine Geständnis klang warm und freundschaftlich und Harry lächelte leicht: „Ich werde noch mehr versuchen, mich zusammen zu reißen!"
„Weißt du, Harry, die Trauer kann dir niemand nehmen und das ist auch gut so! Sie hilft, darüber hinweg zu kommen. Wenn du nicht weinen oder schreien oder auch gegen deine Freunde wüten könntest, würdest du es gar nicht überstehen!"
„Gegen wen hast du damals gewütet?"
„Gegen jemanden, der nicht mehr da war!"
Harry nickte und legte seinen Kopf in seine Hände. Er dröhnte und Harry hatte das Gefühl, er würde im nächsten Moment platzen. Es war verdammt schwierig, sich auf eine simple Sache, wie die Trauer um einen Menschen zu konzentrieren, wenn noch so viele andere Dinge im Kopf umherschwirrten. Dinge, die man unter Verschluss zu halten beschlossen hatte.
Remus klopfte ihm auf den Rücken. Wie Ron und Hermine spürte auch er, dass das, was Harry fein dosiert aus sich heraus ließ und ihnen erzählte, längst nicht alles war, was ihn bedrückte. Doch im Moment fühlte sich Remus zu schwach, um tiefer zu forschen. Er war froh, dass er bei Harry war und dass er ihn in den Arm nehmen konnte. Es war ein komisches, ungewohntes Gefühl, aber es tat ganz eindeutig gut.
Sie machten sich nach mehreren Stunden wieder auf den Weg zum Haus.
Percy wie auch Moody und Amber waren im Begriff, abzureisen und so schluchzte Mrs. Weasley in den höchsten Tönen. Die drei würden schon heute zum Grimauldplatz reisen und Percys und Ambers Aufnahme in den Orden vorbereiten.
Ron, der nach einem langen Kampf mit sich selbst beschlossen hatte, Harry so normal wie möglich zu behandeln, flüsterte ihm zu, sie hätte noch nie soviel geweint und deutete missmutig auf Hermine, die, entgegen ihres sonstigen, vernünftigen Verhaltens, auch schon wieder feuchte Augen bekam.
Die drei Abreisenden traten vor den Kamin. Mr. Weasley händigte ihnen Flohpulver aus und sie traten ihre kurze Reise an.
„Rons Dad und Dumbledore haben den Kamin umgebaut. Sie haben ihn vom offiziellen Netzwerk abgezweigt, so dass er jetzt nur noch nach Hogwarts und London führt." erklärte Hermine Harry halblaut. Auch sie war der Meinung, dass es im Moment am effektivsten wäre, möglichst normal zu sein.
Auch Remus packte seine Tasche.
„Ich komme heute Nacht wieder. Muss nur etwas abgeben. Ich seh nach dir!" sagte er leise zu Harry, bevor er in den Kamin trat.
