3. Grimauldplatz: Vergangenheit

Es macht der Freund des Freundes Ketten zu den seinen." (Schiller)

Never thought
This day would come so soon
We had no time to say goodbye
How can the world just carry on?
I feel so lost when you are not by my side
But there's nothing but silence now
Around the one I loved
Is this our farewell? "
(Within Temptation: Our Farewell)

Zum Grimauldplatz

Am Tag ihrer Abreise herrschte ein so unvorstellbares Chaos im Fuchsbau, dass Harry irgendwann die Flucht ergriff. Jeder schrie und suchte irgendetwas. Eulen flogen kreischend umher, gnadenlos gejagt von Krummbein, welcher bis jetzt allen sympathisch durch seine Zurückhaltung aufgefallen war. Ginny schnitt sich in den Finger, Fred stürzte eine Treppe herunter und Mr. Weasley sperrte Pig versehentlich in einem Küchenschrank ein. Harry floh in den Garten und verabschiedete sich von ihm und den übrig gebliebene Wichteln, welche ihm lieblos Erdklumpen entgegen schleuderten. Schließlich kam der Großteil der Weasleys aus dem Haus.

Hermines Eltern waren vor zwei Tagen abgereist und hatten von Dumbledore persönlich einen Kamin bekommen. Der halbe Orden hatte geholfen, ihr Haus zu sichern und Hermine machte sich nun kaum noch Sorgen um sie. Natürlich blieb ein kleines bisschen irrationale Angst, jedoch das konnte sie wegreden.

Mrs. Weasley, Bill und Charlie waren bereits in London und bereiteten ihre Zimmer vor.

Ron karrte seine und Harrys Koffer hinaus. Hinter ihm erschien Ginny mit dem rechten Zeigefinger im Mund und einem missmutigen Gesicht. Die Zwillinge wurden von ihrem Vater noch einmal auf den Dachboden gescheucht, wo sie dem Guhl die Reisetasche entwenden sollten, die dieser vor kurzem entführt hatte. Schließlich kam Remus heraus. Er trug seine schäbige Tasche und zusätzlich noch ein paar sorgfältig verschnürte Tüten.

Dann kam Mr. Weasley heraus: „So, alle hier? Dann geht es los. Harry, Ron und Hermine, ihr nehmt den ersten Schlüssel mit Remus und ich komme dann gleich mit Ginny und den Chaoten hier nach!"

Sie nickten und Remus hielt einen Regenschirm hoch, den sie alle berührten. Harry spürte das bekannte Ziehen hinter dem Bauchnabel und ließ sich so locker wie möglich fallen. Das war seiner Erfahrung gemäß am angenehmsten. Trotzdem stieß er sich ordentlich den Kopf, als er auf dem Boden in der Eingangshalle aufschlug und Hermine direkt auf ihn drauf fiel.

Augenblicklich erhob sich ein Geschrei und Remus fluchte so übel, dass sogar Sirius erschrocken wäre.

Harry half Hermine hoch und schnappte sich sein Gepäck. Dann flüchteten er, Ron und Hermine in die Küche während Remus auf das Portrait losging: „Hältst du wohl den Mund, du verdammte Sabberhexe!"

Herumwirbelnd und übereinander fallend landeten die Zwillinge, Ginny und ihr Vater in der Halle. Harry hielt die Küchentür offen, damit sie dem Gekeife entgehen konnte und Mr. Weasley brüllte wütend: „Ich dachte, wir landen im Kaminzimmer!"

„Ich auch!" entgegnete Remus ebenso wütend.

„Verräter! Elende, stinkende Verräter! Jetzt ist er tot, endlich tot, und ihr treibt hier immer noch euer Unwesen!"

Remus schleuderte außer sich vor Zorn einen Fluch auf das Portrait und die Frau darauf verzog das hässliche Gesicht: „Und das Monster greift mich auch noch an! Das dreckige, blutrünstige Monster! Wie ist er nur daran gekommen? Wie hat er es nur geschafft, mein Haus durch dieses Wesen zu verunreinigen? Nicht, dass die ganzen Schlammblüter genug sind ... NEIN! Der Blutsverräter, der dumme Taugenichts, schleppt eine Bestie an!"

„HALT ENDLICH DEN RAND, BEVOR ICH MICH VERGESSE UND DICH NEBEN DIESEM VERFLUCHTEN HAUS IN DIE LUFT JAGE!"

Das Portrait verstummte und starrte Remus perplex an. Mr. Weasley stand da wie versteinert, doch er besann sich und zog eilig die Vorhänge vor den Rahmen. Die Kinder, die ausnahmslos in der Küchentür hingen, sahen erschüttert zu Remus, welcher schwer keuchend und mit hängenden Schultern in der Halle stand. Dann wandte er sich um und stürmte mit großen Schritten die Treppe hoch.

Harry stolperte in die Küche und schlug die Hände vor´s Gesicht, um sich eiligst zu beruhigen.

„Tag, Kinder! Tut mir Leid, dass ihr nicht netter empfangen werdet!" sagte jemand am Küchentisch und sie sahen Mundungus, der sich langsam erhob, „Kaffee? Saft? Feuerwhiskey?"

„Wage es ja nicht meinen Kindern Alkohol zu geben, Fletcher!" fauchte Mrs. Weasley und kam aus der Speisekammer, „Setzt euch! Geht es euch gut! Es tut mir leid, Harry! Wie fühlst du dich?" Sie legte ihm die kühle Hand auf die Stirn, drückte ihn auf einen Stuhl und wuschelte ihm durch den Kopf: „Das wird schon, glaub mir!"

Bill kam herein, band sich schnell die Haare zurück und trat dann an den Herd: „Eier, Kartoffeln und Spinat?"

„Klingt gut!" sagte Ron matt. Sie fühlten sich alle etwas geschockt. Harry sah sich fassungslos um. Beinahe ebenso fassungslos wie vor fünf Wochen, als er vor dem Haus der Dursleys gestanden hatte.

„Nur ein Haus!" murmelte er und erhob sich wie in Trance.

Aber ein Haus mit schreienden Bildern, welche arme Menschen beleidigten. Das Portrait seiner Mutter hatte also mitbekommen, das Sirius ... gefallen war. Wahrscheinlich wussten es alle Bilder im Haus. Ob sich alle darüber freuten?

Unwillkürlich drehte er sich im Kreis.

Dieselbe Küche. Hier hatten sich Snape und Sirius gegenüber gestanden und bedroht.

Derselbe Tisch. Dieselben Stühle. Hier hatten sie gesessen und gegessen und Sirius und Mrs. Weasley sich um sein Wohl gestritten.

Dieselben Leute. Aber einer fehlte.

„Harry?" Nur gedämpft nahm er Rons Stimme wahr. Er ließ sich von ihm zum Tisch zurückführen und setzte sich.

„Iss was!"

Nach dem Essen gingen alle ins Kaminzimmer. Dumbledore wollte sie dort empfangen, doch er war noch nicht da. Statt seiner trat Snape aus dem Kamin und sagte grimmig, der Direktor käme später. Er betrachtete die Kinder und machte ein Gesicht, als überlegte er sich, was er ihnen Gemeines sagen könnte, als die Tür aufging und Remus eintrat: „Ein hässliches Wort von dir, Snape und ich werfe dich raus; Dumbledore hin oder her!"

„Na, na, Lupin! Wer wird denn gleich so unfreundlich werden?" Snape zog belustigt die Augenbrauen hoch, doch das Lachen verging ihm, als Remus seinen Zauberstab hob: „Hast du mich verstanden?" Snape verließ grummelnd den Raum.

Remus ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen: „Weißt du, Harry! Es ist doch nicht nur ein Haus! Es ist doch alles grässlich hier!" Er klang frustriert und enttäuscht.

Harry schüttelte den Kopf: „Auch damit werden wir fertig!"

Remus hob erstaunt den Blick und begegnete Harrys kämpferischem Gesicht: „Gut, dann packen wir jetzt erst einmal aus!" Er schien sich wieder etwas gefangen zu haben und scheuchte die Kinder nach oben in ihre Zimmer, wo die Koffer bereits auf sie warteten.

„Wo ist eigentlich Kreacher?" fragte Hermine misstrauisch und ihr Blick weitete sich vor Entsetzen, als Remus mit kalter Stimme entgegnete: „Das willst du nicht wissen, Hermine!"

Harry legte seine Sachen ordentlich in die Schränke, nachdem er im Fuchsbau aus dem Koffer gelebt hatte. Ron packte ebenso sorgfältig aus und beide hoben den Kopf als ihr beinahe gemütliches Schweigen von aufgebrachten Stimmen durchbrochen wurde. Mit einem Blick verständigten sie sich und schlichen zur Tür. Unten am Treppenabsatz standen sich Remus und Mrs. Weasley gegenüber.

„Remus, was glaubst du, tust du hier?"

„Einziehen und ein bisschen für Ordnung sorgen, wieso?"

„Du hättest dich mal hören sollen! Die Kinder waren völlig verstört und dann greifst du Severus Snape an ... was tust du denn?"

Remus erwiderte nichts. Mrs. Weasley seufzte und fuhr leiser und eindringlicher fort: „Du erinnerst dich an Dumbledores Worte? Dass du vorsichtig sein sollst und nicht überreagieren? Ich habe es ja für übertrieben gehalten, als er sagte, du ließest dich von Sirius´ Geist ergreifen, aber mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher! Du bist kein aggressiver Mensch und du bist nicht der Herr dieses Hauses!"

Remus hob die Hand. Er schien ganz ruhig zu sein: „Dieses verfluchte Haus hat keinen Herren mehr, Molly! Aber jemand muss Verantwortung dafür übernehmen wie auch für Harry! Jemand muss Snape zeigen, dass er hier nicht machen kann, was er will. Jemand muss dieses Portrait zum Schweigen bringen. Und du musst schließlich jemanden haben, mit dem du schimpfen kannst!"

„Aber das musst du nicht alles allein tun!" fuhr Mrs. Weasley heftig auf und ging nicht auf seine letzte, scherzhaft gemeinte Bemerkung ein.

„Das ist alles, was ich noch tun kann, verstehst du das denn nicht? Das ist das Einzige, was ich noch für ihn tun kann, also nimm mir das nicht weg!"

Mrs. Weasley schüttelte den Kopf: „Du musst weder seine Rolle übernehmen noch musst du seine Arbeit weiterführen!"

Remus winkte ab: „Wer übernimmt das dann? Du? Snape? Dieses Haus ist verwahrlost und Harry hat außer diesen grauenhaften Muggeln keinen mehr, der die Verantwortung für ihn übernehmen kann. Ich ..."

„Aber du machst dich kaputt damit! Deine Jagd auf diese Todesser hat dir nicht geholfen und die kurze Zeit mit Harry hat dir bisher nicht geholfen!"

Remus seufzte: „Ich mache nur das, was mir einfällt, O.K.? Ich kann schließlich auch nichts dafür, dass ich mal wieder allein da stehe mit einem Haufen Probleme und einer Menge Aufgaben, die erledigt werden müssen!"

„Du bist doch nicht allein!"

„Ich weiß, dass ihr alle hier seid, aber glaub mir: Ich bin allein! Und ich versichere dir, dass ich das schaffe! Ich habe es bereits einmal geschafft, vor 15 Jahren. Ich werde es noch einmal schaffen!" Damit ließ er sie stehen und ging durch den Flur zurück ins Kaminzimmer. Harry und Ron verzogen sich so leise wie möglich in ihr Zimmer und setzten sich auf Harrys Bett.

„Es geht ihm richtig an die Nieren! Er glaubt, er ist jetzt für alles verantwortlich. Für diese Haus, für dich. Das kann ja gar nicht gut gehen!" sagte Ron.

Harry sah ihn an: „Er hat ein bisschen Recht, oder? Er ist wirklich verpflichtet, sich um gewisse Sachen zu kümmern ... moralisch gesehen!"

„Ja, aber nicht auf Kosten seiner Gesundheit! Und außerdem ist er nicht allein! Er fühlt sich nur so! Genau wie du!" Ron wagte einen Vorstoß und Harry reagierte prompt: „Wie meinst du das?"

„Du glaubst auch, du bist komplett allein mit deiner ganzen Trauer, dabei stimmt es nicht!"

„Das glaube ich nicht!" widersprach Harry, doch Ron fuhr ihm über den Mund: „Wohl! Du sagst zwar, dass du Sirius vermisst, aber ich glaube, das ist nicht mal die Hälfte von dem, was dich bedrückt!" So, jetzt hatte er es gesagt. Was würde Harry jetzt tun? Ron wartete.

Und Harry schüttelte ärgerlich den Kopf und stand auf: „Das stimmt nicht, Ron!" Eilig verließ er das Zimmer.

„Und es stimmt doch!" flüsterte Ron.

Dumbledore kam erst am späten Abend, als alle mehr schlecht als recht und hundemüde in ihren Sesseln hingen. Jedenfalls fast alle. Harry saß steif und unbeweglich vor dem Kamin, als erwarte er den Untergang der Welt, an dem er nichts mehr ändern könnte. Remus war sogar schon weggenickt.

Natürlich wurden alle hellwach, als der Schulleiter und das Oberhaupt des Ordens durch den Kamin rauschte und sich davor schüttelte wie eine Katze im Regen: „Guten Abend, alle miteinander!"

Harry hörte seine wohlklingende, tiefe Stimme, die es immer vermochte, in den letzten Winkel eines Raumes und in das Ohr eines jeden noch so schläfrigen Schülers zu dringen, ohne dass sie gehoben werden musste. Er sah das gütige, weise Gesicht, umrahmt von weißen, wirren Haaren, das ihn wie auch alle anderen mit einem freundlichen Blick aus den warmen Augen bedachte. Er nahm den süßen, schweren Geruch einer würzigen Pfeife und den von Schokofröschen wahr, der den unverbesserlichen Mann oft umhüllte.

Doch Harry hasste es. Er wandte sich ab und versuchte, seinen Atem zu beruhigen.

Dumbledore begrüßte die Weasleys und Hermine, schickte einen eindringlichen, beinahe ermahnenden Blick zu Remus, welcher sich mürrisch im Sessel aufrichtete und dann kam er zu Harry: „Hallo!"

„Hallo!" Harry musste ihm antworten, obwohl er es eigentlich gar nicht wollte.

„Wie fühlst du dich, Harry? Müde?"

„Ja!" Er versuchte, so einsilbig und unfreundlich wie möglich zu antworten.

„Das kann ich mir vorstellen. Und wie schläfst du?"

„Gut!"

„Keine Träume?"

„Nein!"

„Prima!" Dumbledore ließ sich auf den Sessel neben Harry fallen und griente ihn von der Seite an, „Oder findest du das nicht erholsam?"

Harry zuckte mit den Schultern.

„Nun, wie auch immer. Ich hoffe, ihr habt alle eure Schulbriefe gelesen?" Die anderen nickten, teil eifrig, teil zögerlich.

„Die Fächer studiert?" Wieder Nicken.

„Und, seid ihr frischen Sechstklässler schon mit euren Wahllisten fertig?"

„Ja, fast!" sagte Hermine, doch sie schaffte es nicht, den erschütterten Blick von Harry zu nehmen. Dumbledore meinte, es wäre wohl Zeit fürs Bett. Alle erhoben sich, auch Harry, doch wie er es erwartet hatte, hielt Dumbledore ihn zurück: „Bleibst du bitte, Harry." Es war eigentlich keine Frage gewesen, doch Harry antwortete ihm darauf: „NEIN!"

Gelinde überrascht hob Dumbledore die Augenbrauen: „Ich bitte dich freundlich darum, aber wenn du nicht freiwillig bleiben willst, kann und werde ich dich dazu zwingen!" In seiner freundlichen Stimme lag jetzt eine unerschütterliche Bestimmtheit und durchdringende Schärfe.

„Nun, Albus, ich denke doch nicht, dass wir ..." fing Remus in einem diplomatischen Ton an, doch Dumbledore unterbrach ihn: „ „Wir" schon einmal gar nicht, Remus, denn ich bitte dich, zu gehen!"

„Aber ..."

„Nichts aber!"

Harry sprang wütend aus seinem Sessel: „Und wenn ich nicht will, dass er geht!"

„Was du willst, interessiert mich kein Stück, Harry, solange du nicht in einem angemessenen Tonfall redest und mit dir reden lässt!"

„Sie sind mir doch egal! Ich brauche Sie nicht!" fuhr Harry auf.

„Doch, Harry, du brauchst mich. Du weißt es nur nicht!" sagte Dumbledore sanft.

„Schwachsinn! Ich gehe jetzt! Ich habe keine Lust mit Ihnen zu reden und ich bin müde!"

„Eine wirklich geschickte Überleitung, Harry! Du bist müde und willst schlafen, aber was ist, wenn du träumst?"

„Ich träume nicht; das sagte ich bereits!"

„Und hast du dich einmal gefragt, warum nicht?" Dumbledore klang noch immer ruhig und kein bisschen aufgebracht über Harrys Ausbruch.

„Nein!" sagte er stur, „Ich hab eben Glück!"

„Hast du nicht! Ich bitte dich noch einmal zu bleiben, damit ich es dir erklären kann, denn ansonsten ..."

„Nein!"

„ ... ansonsten bleibt mir keine andere Möglichkeit, als es dich spüren zu lassen, was ich dir lieber sagen möchte!"

Harry zuckte unbeeindruckt mit den Schultern: „Tun Sie, was Sie nicht lassen können! Ich geh ins Bett!" Und ohne sich noch einmal umzudrehen verließ er den Raum.

Natürlich konnte er nicht sofort schlafen. Hermine, Ron und Ginny redeten so heftig auf ihn ein, dass er davon geradezu Kopfschmerzen bekam. Und es dauerte ziemlich lange, bis er sie endlich aus dem Zimmer geworfen hatte. Jedenfalls die Mädchen. Ron kletterte lediglich in das Bett über Harry und murmelte noch ein bisschen „Du bist doch echt unmöglich!", bevor er einschlief.

Harry lag noch etwas wach, doch auch Dumbledores Worte, die fast schon einer Drohung nahe kamen, konnten ihn nicht lange vom Schlaf abhalten. Bald schloss Harry die Augen und schlief.

Unten im Kaminimmer: „Was meintest du damit, Albus? Sag es mir! Ich muss ..."

„Du musst nichts, Remus!" sagte Dumbledore sanft und kramte seelenruhig in seiner Reisetasche.

„Aber ... ich möchte ihm helfen und dir helfen! Wenn du mir sagst, was los ist, dann rede ich mit ihm und ..."

„Hast du mit ihm geredet?"

„Ja."

„Worüber?"

„Über Sirius!" Remus sah ihn verständnislos an.

„Das dachte ich mir!"

„Ja, worüber sollten wir denn sonst reden!" fragte Remus angriffslustig.

Dumbledore zog einen kristallfarbenen, dünnschichtigen Glasbehälter aus der Tasche und stellte ihn vorsichtig auf dem Tisch ab. Sobald der Behälter einen festen Stand hatte, begann sich eine Art Nebel in ihm zu bilden, der zuerst gräulich und dann schwarz wurde.

„Hast du nicht das Gefühl, dass er dir etwas verschweigt?"

Remus nickte, während er noch auf den Behälter starrte: „Doch. Was ist das?"

„Da sind die Träume, die Harry meint, nicht zu träumen. Ich habe sie alle eingefangen in mühseliger Arbeit, damit er schlafen kann. Tatsächlich träumt er jede Nacht und es sind die schlimmsten Träume, die du dir vorstellen kannst! Ich habe sie mir angesehen. Aber er merkt es nicht. Er sieht die Bilder nicht, weil ein komplizierter Zauber sie aus seinem Kopf direkt zu mir und in dieses Gefäß schickt."

Remus ging vor dem Tisch in die Knie und schauderte: „Sie sind schwarz; pechschwarz!"

Dumbledore nickte: „Was meinst du, wie sehen deine Träume zur Zeit aus?"

Remus zuckte zurück: „Wahrscheinlich ziemlich ähnlich!"

„Hast du sie ausgeträumt oder verbannt?"

„Geträumt. Einmal habe ich sie verbannt. Als Hermines Eltern mit mir in einem Zimmer geschlafen haben."

„Allein?"

„Mit Bills Hilfe!"

Dumbledore machte ein ehrlich erstauntes Gesicht: „Ich weiß nicht, was mich mehr wundert: Dass ihr das geschafft habt oder dass du ihn darum gebeten hast!"

„Danke!" Remus´ Stimme klang ironisch, „Was hast du also mit diesem Ding vor?"

„Harry wollte sich von mir nicht seine Träume erklären lassen, also werde ich sie wohl oder übel zu ihm zurückschicken."

Remus sprang auf: „NEIN! Nein, Albus! Erspare ihm das! Ich bitte dich!"

„Remus, du weißt, dass ich meine Gründe habe! Die habe ich immer, wenn ich etwas tue, auch wenn ihr sie manchmal nicht seht oder verstehen könnt! Ich tue das nicht, um Harry zu quälen! Ich habe ihm bisher friedliche, erholsame Ferien bereitet und dafür habe ich mich wirklich nach Kräften bemüht, aber es nützt nichts! Wir müssen handeln! Er kann nicht für immer eine Pause von dem bekommen, was ihn ruft! Er muss sich dem stellen!"

„WAS? Was ist da, dass ihn ruft? Wem muss er sich stellen? Voldemort? Willst du einen Sechstklässler in den Krieg mit diesem größenwahnsinnigen Monster schicken?"

„Er ist nicht einfach nur ein Sechstklässler, Remus! Und wenn du wüsstest, was ich weiß und was Harry weiß, dann würdest du verstehen, warum Harry langsam wieder zu sich finden muss! Zu seinem Wohl und zu unser aller Wohl!"

Remus ballte wütend die Fäuste: „Vielleicht sollte mir mal einer von euch beiden Allwissenden einfach sagen, worum es geht, damit ich verstehen kann! Damit ich helfen kann!"

„Im Moment brauchen wir deine Hilfe nicht, Remus! Wir brauchen sie später, glaub mir!"

Damit wandte sich Dumbledore von ihm ab und dem Behälter zu. Er ritzte mit dem Fingernagel einen kleinen Spalt in das dünne Glas und schon stob etwas Rauch heraus.

„Zu wem ihr gehört!" wies Dumbledore die Schwaden an und sie verflüchtigten sich.

Er verschloss den Spalt wieder und lehnte sich stöhnend im Sessel zurück. Für einen Augenblick machte er den Eindruck eines alten, schwachen Mannes, der müde geworden war. Remus erschrak über den Anblick, doch dann sagte Dumbledore: „Ich hatte gehofft, dass er es dir oder seinen Freunden erzählt, damit er diese Last nicht allein tragen muss! Bei Harry steht immer alles 50 zu 50! Entweder frisst er alles selbstzerstörerisch in sich hinein oder er teilt seine Probleme mit seinen Freunden; aber man weiß es nie! Weißt du, mit euch war das damals in dieser Hinsicht sehr viel einfacher: Ihr habt nie irgendetwas lange voreinander geheim halten können. Wenn ich einem etwas sagte, konnte ich sicher gehen, dass die anderen drei es innerhalb weniger Stunden auch wussten. Aber Harry beschließt manchmal, die Last der Welt auf seinen Schultern zu tragen und dann tut er es auch. Das, was wir dann tun müssen; und ich meine wirklich MÜSSEN und nicht WOLLEN; ist dann, ihn zum Zusammenbruch zu treiben, damit er wieder anfangen kann, zu funktionieren."

Remus schnaubte: „Funktionieren! Das ist nicht fair! Er sollte, wie jeder andere auch, die Chance, normal und glücklich zu sein!"

„Ja, das sollte er, aber das hat er nicht! Noch nicht! Glaub mir, dass ich das nicht gern tue, aber es steht nun einmal mehr auf dem Spiel als das Glück und das Seelenheil und das Leben eines einzigen Jungen!"

„Du würdest ihn opfern, nicht wahr!" fragte Remus plötzlich nüchtern.

Dumbledore zuckte leicht zusammen: „Ich muss! Aber ich will nicht! Das ist das Dilemma, vor dem ich stehe! Als Tom ... Voldemort von ihm Besitz ergriffen hat, im Ministerium, hat er gesagt „Wenn das Leben eines Menschen nichts wert ist, dann töte jetzt diesen Jungen! Dann töte mich jetzt!" Doch ich habe es nicht getan! Ich hätte es gemusst, doch ich habe es nicht getan! Es könnte jetzt schon alles vorbei sein, aber das ist es nicht, weil ich versäumt habe, jemanden umzubringen!"

Remus zitterte bei diesen bitteren Worten, doch er nahm sich zusammen: „Wie hättest du dich gefühlt? Was hätten alle gesagt? Du hättest es nicht überlebt, Molly gegenüber zu treten, wenn du Harry etwas angetan hättest!"

Beide lächelten, doch es war ein freudloses Lächeln. Dann sagte Dumbledore: „Aber das ist es, was wir allmählich begreifen müssen! Es müssen Opfer gebracht werden! Und wir werden Dinge tun müssen, die uns so mit Abscheu erfüllen, dass wir uns selbst nicht mehr im Spiegel anschauen können! Aber solange wir wissen, warum wir dies tun, sollten wir endlich bereit dazu sein! Und wir wissen es! Wir tun es, um uns alle zu retten! Vielleicht würde ich an etwas zu Grunde gehen, aber dafür hätte ich vielleicht 100 Zauberer vor einem Leben in Sklaverei, vor Schmerzen oder vor dem Tod bewahrt! Und das ist das, was wir jetzt verstehen und annehmen müssen!"

Remus blinzelte angestrengt, da ihm Tränen in die Augen stiegen: „Etwas Ähnliches hast du schon einmal gesagt, erinnerst du dich? Damals?"

Dumbledore nickte: „Und es stimmte damals, wie es heute stimmt."