Träume
Harry schlief friedlich und, wie erwartet, traumlos. Tief und fest. Alles um ihn her war schwarz, doch es war eine gütige, milde Dunkelheit. Warm. Beruhigend. Beschützend.
Plötzlich flackerte etwas auf. Etwas Helles, Rötliches. Harry widerstand dem Drang näher zu gehen und beobachtete nur aus der Ferne.
Dann bahnte sich eine Stimme zu seinem Ohr: „Töte den Überflüssigen!"
Harry spürte, wie ihm etwas in die Hand gedrückt wurde und als ein gleißendes Licht aufflammte, legte er stöhnend die Hand über die Augen. Langsam gewöhnte er sich an die Helligkeit und blickte sich verwirrt um. Jemand keuchte.
Er sah, dass er einen Zauberstab in der Hand hielt. Einen Zauberstab, aber nicht seinen Zauberstab.
Und vor ihm am Boden kauerte eine Gestalt.
Ein Junge. Er war etwas älter als Harry und auch größer, doch er schien komplett hilflos zu sein. Harry wunderte sich nur über ihn, bewegte sich aber nicht von der Stelle.
„Töte den Überflüssigen!"
„AVADA KEDAVRA!"
Von irgendwoher kam ein grünes Licht. Der Junge schrie und krümmte sich und erschlaffte dann. Harry wurde eiskalt und der Schweiß brach ihm aus.
„Cedric!"
Ihm wurde schlecht und er würgte. Er bekam kaum noch Luft und ließ sich auf den Boden fallen. Als er den Blick wieder hob, stand Cedric über ihm und sah ihn traurig an: „Potter, warum hast du das zugelassen?" Dann verschwand er.
Harry schrie und schlug sich gegen den Kopf. Er wurde gepackt und hoch gezogen. Mehrere Dementoren standen um ihn herum und beugten sich bedrohlich über ihn. Alles in ihm krampfte sich zusammen vor Angst und Entsetzen. Die Kälte schien seine Luftröhre zu vereisen und er keuchte. Der Dementor direkt vor ihm begann zu saugen und Harry spürte, wie er etwas aus seinem Kopf heraus zog.
„NEIN! NEIN, BITTE!"
Abrupt ließen sie ihn los. Und wichen einem Patronus, der die Form einer großen Maus oder Ratte annahm.
„Harry! Du bringst dich mal wieder nur in Schwierigkeiten!" tadelte der Junge, der den Patronus geschickt hatte. Harry starrte ihn fassungslos an. Der Junge sah aus wie er; wie sein Spiegelbild. Er hatte keine Narbe, aber alles andere stimmte.
„Wer ...?"
„James, du Trottel! Du weißt doch, dass du so aussiehst wie ich! Allerdings hast du, wenn ich das mal sagen darf, nicht halb so viel auf dem Kasten!"
„Aber ... deine Augen ..."
„Ach, ja!" Der Junge (JAMES!) schloss die Augen und ließ die Lider unheimlich flattern. Als er sie wieder öffnete, waren sie braun.
„Besser?"
„Aber ..."
Der Patronus, der die restlichen Dementoren verjagt hatte, kehrte zurück und schien noch an Größe zu gewinnen, obwohl er bereits viermal so groß wie Harry selbst war. Je größer er wurde, desto mehr erkannte Harry jetzt auch, dass es tatsächlich eine Ratte war.
Eine Ratte!
„Lauf!" rief er dem Jungen (JAMES?) zu und tat ein paar Schritte rückwärts, doch der Junge reagierte nicht. Der Rattenpatronus, der mittlerweile die Größe eines Hauses angenommen hatte, öffnete genau über dem Jungen sein spitzes Maul und biss zu. Der Junge schrie auf und wehrte sich, doch das Vieh verschlang ihn. Harry konnte die Knochen des Jungen brechen hören.
„NEIN!" Er schrie und schlug um sich, denn schon wieder spürte er Arme, die ihn festhielten.
Der Rattenpatronus lachte grausam und verwandelte sich in Peter Pettigrew, der sich den Bauch hielt und japste, so sehr amüsierte er sich.
„Du hast verspielt, Harry! Du hast absolut verspielt! Egal, was jetzt ist oder was morgen sein wird: Potter ist tot, er wurde zerfetzt; Black hockt in Askaban und vegetiert vor sich hin; Lupin sitzt weinend in seiner Küche und überlegt, wie er sich am schnellsten das Leben nehmen kann, an dem ihm nichts mehr liegt. Krone ist gestorben, Tatze ist gebrochen, Moony ist verzweifelt. Und es bringt alles nichts! Du hast verspielt!"
Harry wollte sich wutentbrannt auf ihn stürzen, doch dann fiel ihm den Zauberstab ein, den er noch immer in der Hand hielt. Drohend richtete er ihn auf den Verräter, welcher noch immer schallend lachte.
„Crucio!" stieß Harry hervor, doch statt eines Fluches für Pettigrew wanden sich Gestalten aus dem Stab.
Seine Eltern.
Cedric.
Ein fremder Mann. Ein Muggel.
Noch mehr fremde Menschen.
Sirius.
Harry schrie auf.
„Sieh mal, Harry!" erklärte Pettigrew ruhig, „Eigentlich hast du sie alle umgebracht! Wenn du nicht wärest, wäre das nie passiert!"
Wieder kam eine Gestalt aus dem Stab.
Remus.
„NEIN!"
„Sieh mal, Harry!" sagte Pettigrew wieder in geduldigem Ton, „Du kannst jetzt sehen, wen du noch alles umbringen wirst! Ist das nicht praktisch?" Er klang regelrecht erfreut darüber.
Harry schluchzte auf, doch er konnte den Stab weder fallen lassen noch irgendwie aufhalten.
Noch eine Gestalt.
Neville.
Hagrid.
Harry jaulte und schlug sich die Hand vor den Mund.
Hermine.
„NEIN!"
Ron.
„NEIN! NEIN!"
Mr. und Mrs. Weasley.
Bill.
Charlie.
Endlich schaffte Harry es, den Stab los zu lassen. Er fiel auf den Boden und zerbrach.
„Tja, schade!" sagte Pettigrew und sprach jetzt mit der Stimme von Harrys früherer Wahrsagelehrerin Professor Trelawney, „Aber so was kann man nicht ahnen! Weißt du, Harry, Wahrsagen ist doch recht schwammig. Ich kann es nicht, aber ich sage, dass dir schlimme Sachen passieren, weil das so eine sichere Sache ist. Dir passieren ja eh immer nur schlimme Sachen, nicht?" Sie klang so geschäftsmäßig, dass Harry wütend die Fäuste ballte. Noch immer kämpfte er mit den Tränen.
„VERSCHWINDE!" brüllte Harry und hörte Ron nein sagen. Doch Ron war nirgendwo zu sehen. Harry wischte sich über die Stirn. Er spürte kalten Schweiß.
„Lass es aufhören! Oh, bitte, lass es aufhören!" flehte er gepresst und sah sich panisch nach einem Ausweg um. Doch der in weißes Licht getauchte Raum schien endlos. Dann plötzlich drehte sich alles und Harry strauchelte zu Boden. Er schloss die Augen und drückte die zitternden Hände vors Gesicht.
Als er sie wieder weg nahm und sich angsterfüllt umsah, stellte er fest, dass er mitten auf dem Schulgelände lag. Irgendwo auf dem Rasen. Hagrids Hütte stand in der Nähe und Rauch stob aus dem Schornstein, was ein Zeichen dafür war, dass Hagrid zu Hause war und wahrscheinlich Tee kochte.
Harry atmete erleichtert aus und stand schwankend auf, um zur Hütte zu gehen. Dort wäre er in Sicherheit. Doch bevor er auch nur ein paar Schritte machen konnte, kamen mehrere Menschen auf ihn zu. Harry verharrte und versuchte, sie zu erkennen. Es waren vier Jungen. Die Rumtreiber!
Harry lief ihnen entgegen.
James lachte über etwas, das Sirius gesagt hatte. Remus lächelte still und sah zu Boden. Peter wühlte in seiner Jackentasche und förderte ein paar Bonbons zutage, die er ihnen anbot.
„Hey, Harry!" sagten sie freundlich, machten aber keine Anstalten, stehen zu bleiben.
„Warum bin ich hier?" fragte Harry.
Sirius lachte (oder bellte er?): „Also, wenn DU das nicht weißt ..."
„Vielleicht wolltest du uns irgendetwas sagen!" James klang ganz freundlich. Es war der James aus Snapes Denkarium und nicht Harrys unheimlicher Doppelgänger mit braunen Augen. Peter biss knackend auf seinen Bonbon und verzog das Gesicht.
Harry fuhr zu ihm herum: „Du! Weißt du eigentlich, was du tun wirst?"
Peter hob gleichgültig die Achseln.
„Was soll das, Harry?" fragte Remus leicht ungehalten.
„Er ... er wird ..."
„Nein, ich glaube, das hast du etwas falsch verstanden!" Wieder Remus, doch seine Stimme klang viel zu alt für den Jungen von vielleicht gerade 13 Jahren. Sie klang wie der Lehrer Professor Lupin, den Harry in seinem dritten Schuljahr kennen gelernt hatte: Analytisch, distanziert, vorsichtig.
„DU wirst, Harry! Weißt du, der gute Peter hätte doch gar keinen Grund, uns zu töten, wenn du nicht geboren wirst! Vielleicht kannst du das ja irgendwie ändern!" Sirius grinste. Er begann, sich mit Peter zu balgen und James lachte: „Genau, wir verstehen uns doch prächtig!"
Harry schüttelte den Kopf: „Nein, hört mir zu ..."
Remus winkte ab: „Lass mal, Harry! Ich hab keine Lust, dir zu zu hören!" Sie gingen schneller und Harry konnte nicht mithalten. Er blieb entsetzt stehen und schüttelte benommen den Kopf.
„Das könnt ihr nicht wirklich denken!"
Sirius lachte noch einmal, dann verschwanden sie langsam. Harry atmete schwer.
„Bitte! Ich will hier weg!"
„Das kannst du haben, Potter!" sagte eine kalte Stimme. Harry wirbelte herum und sah Professor Snape, der den Zauberstab auf ihn gerichtet hatte: „Ab ins Ministerium!"
„Was ... NEIN!"
Doch ein leuchtender, pinker Strahl traf ihn und schleuderte ihn in die Luft. Er flog hoch und senkte sich bald wieder. Er raste viel zu schnell auf den harten Boden zu, als dass er sich noch hätte schützen können. Er schlug auf und spürte, wie etwas in ihm brach. Er schmeckte Blut in seinem Mund und spuckte es angewidert aus.
„Harry! HARRY!" Wer rief ihn bloß? Warum konnte er ihn nicht sehen?
Harry würgte und spuckte noch einmal. Sein Kopf dröhnte und in seinen Ohren pfiff es. Er zitterte am ganzen Körper und obwohl er ganz allein war, fühlte er sich wie in einem Schraubstock oder als hätten ihn mindestens zwei Personen im Schwitzkasten. Er versuchte, sich aufzurichten, doch er brach wieder ein. Sein Schädel knallte auf den Boden und er schloss die brennenden Augen.
„Ah, der berühmte Harry Potter!" Er kannte diese Stimme!
Langsam öffnete er die Augen und riskierte einen Blick. Lord Voldemort stand vor ihm. Sein leicht amüsiertes, doch ungeheuer grausames Gesicht hatte er dem wimmernden, verletzten Jungen auf dem Boden zugewandt. Seine kalten, toten Augen flimmerten auf, als er Harrys Namen aussprach.
„Ich habe mir etwas Verstärkung mitgebracht! Ich denke, du wirst dich freuen, sie alle wieder zu sehen!"
Lord Voldemort lachte und trat einen Schritt zurück. Und obwohl Harry nur mehr verschwommen sehen konnte, erkannte er.
Dort stand Professor Quirrell, nervös an seinen Fingernägeln knabbernd. Er lächelte Harry zu, hob winkend die Hand, zog dann aber wieder den Kopf ein und sah sich in seiner paranoiden Art ängstlich um. Dabei gelang Harry ein Blick auf seinen Hinterkopf, aus dem das schlangenartige Gesicht des schwächlichen Voldemorts, des geschlagenen Lords, lugte.
Dort stand Tom Riddle, ein hübscher, selbstbewusst wirkender Schüler, ordentlich in seine Hogwarts-Tracht gekleidet mit gekämmten Haaren und einem unergründlichen Lächeln auf den Lippen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und nickte Harry zu.
Dort lag in einer Art Wiege ein Bündel ...
Bevor Voldemort es durch den Wink seines schwarzen Zauberstabes näher holen konnte, begann Harry zu schreien. Er brüllte, bis er keine Luft mehr in den Lungen hatte, doch er stellte entsetzt fest, dass es viel zu leise klang. Die Schreie wanden sich durch seinen Körper und seinen Hals, doch sie verreckten auf dem Weg zu seinem Mund. Sie verstopften seine Kehle und vergifteten seine Zunge Er stieß die Luft aus sich heraus, denn sie schien ihn immer mehr auszufüllen. Sie dehnte sich aus, doch es war keine gute Luft. Es war eine übel schmeckende, ätzende Luft, welche in seinen Lungen brannte und ihn würgen und spuken ließ.
„Na, so hast du dich aber das erste Mal nicht angestellt, Harry!" sagte Voldemort tadelnd. Seine Stimme klang ganz weit weg, doch Harry konnte direkt auf seine Füße sehen.
Noch immer kauerte er am Boden; kämpfend gegen die ihn von innen zersetzende Luft während sich eine seiner Rippen in sein empfindliches Fleisch bohrte. Er keuchte schwach, doch er konnte mittlerweile weder ein- noch ausatmen.
„Ich erfülle dich ein wenig mit meinem Geist und wenn du dann verschwunden bist, kleiner Schuljunge, dann werde ich mir deine Muggelfreundin und ihre Eltern vornehmen. Und natürlich die Rotschöpfe, die ja alle so mutig in diesem kleinen Phönix-Club kämpfen. Und Albus wird sich freuen, mich wieder zu sehen, denn wie könnte er einen würdigeren, angebrachteren Tod finden als den durch meine Hand? Und diesen Lehrer, den du so magst, den werde ich auf meine Seite holen. Meinen Spion, der schon seit Jahren durch eure Schule schleicht und den noch keiner von euch gutgläubigen Dummköpfen entlarvt hat, werde ich zu mir rufen und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis mir diese ganze Schule gehört. Ich werde dort beginnen und mich weiter vorkämpfen, bis ich schließlich davor stehe und die Tür öffne und dann, mein lieber Harry, dann gehört die Welt mir!"
Harry brachte noch einen trockenen Schluchzer hervor, dann zerbrach sein Bewusstsein. Er fiel durch die Dunkelheit. Alles drehte sich und in ihm stieg eine Übelkeit auf, die ihn zerreißen wollte.
„Professor, tun Sie etwas!" Hermine war kaum zu verstehen, so sehr weinte sie. Sie stand mitten im Zimmer, doch sie schien jeden Augenblick umzukippen. Ginny neben ihr sah auch nicht besser aus.
Vor Harrys und Rons Hochbett knieten die beiden und die Zwillinge. Fred und George waren klitschnass geschwitzt und hatten die Lippen fest aufeinander gepresst. Sie waren blass und bebten vor Anstrengung und Entsetzen. Beide hatten die Arme um Harry geschlungen; Fred um seine Beine und George um seine Brust, doch er lockerte den Griff, als Harry davon abließ, ihn würgen und kratzen zu wollen. Ron saß einen halben Meter von ihnen weg und keuchte. Seine Brust hob sich hektisch in unregelmäßigen Abständen und quer über seine Wange zog sich eine blutige Schramme. Er starrte Harry an.
Professor Dumbledore, die Eltern Weasley und Remus waren vor wenigen Minuten eingetreten. Dumbledore hatte sich und sie zwanghaft unten gehalten, als Harry begonnen hatte zu schreien. Er hatte es geschafft, sie ohne Zauberei davon abzuhalten, sofort nach oben zu stürmen, obwohl Remus beinahe auf ihn losgegangen wäre. Irgendwann hatte Ron um Hilfe gebrüllt und schließlich waren die Stimmen der Zwillinge und die der Mädchen zu hören gewesen und endlich hatte sich Dumbledore erhoben. Remus war die Treppe hoch gestürzt und in der Zimmertür wie versteinert stehen geblieben. Der Anblick, der sich ihm bot, hatte ihn erschüttert.
George keuchte auf, als der tief schlafende Harry sich bewegte.
Es war dunkel. Die Übelkeit war verschwunden. Die Luft war besser. Nicht gut, aber etwas besser. Harry lauschte, doch er war müde und kraftlos. Er stand mitten in der Dunkelheit und hatte seine Arme vorsichtig um seine gebrochenen Rippen gelegt. Dann spürte er etwas. Jemand stand neben ihm.
„Wer ...?" Doch er sprach die Frage nicht aus. Er wusste, wer dort stand.
Der Geruch von schwächlichem Alkohol, fast überdeckt von dem süßlichen Saftes und von trockenen Haaren und warmer Haut, die tiefen, regelmäßigen Atemzüge und das leicht flatternde Geräusch von sich bewegenden, filzigen Haaren verrieten ihn.
„Sirius?" flüsterte Harry und er spürte, wie Tränen seine Augen hinunterliefen.
„Ja!" kam die Antwort, rau, doch fest.
„Ich ... ich vermisse dich so!"
„Ich weiß! Ich vermisse dich auch!"
„Kannst du nicht ... gibt es vielleicht irgendeine Chance ...?"
„Nein, Harry, die gibt es nicht! Du solltest loslassen!"
„Was denn loslassen! Ich hab dich ja noch nicht einmal richtig umarmt!" Harry schluchzte auf und meinte zu hören, wie Sirius neben ihm den Kopf schüttelte. Er stand so nahe, dass Harry die Wärme, die von seinem Körper ausging, fühlen konnte, doch er berührte ihn nicht.
„Ich weiß; einer von meinen vielen Fehlern! Aber auch dafür ist es jetzt leider zu spät, Harry!"
„Aber ... ich wollte das nicht!"
„Na, denkst du, ich? Eigentlich wollte ich ja auf dich aufpassen, doch ich hab es mal wieder vermasselt!" Er klang leicht frustriert, „O.K., du hast auch kräftig dazu beigetragen, dass es dieses Mal schief geht, aber daran kann man jetzt auch nichts mehr ändern."
Eine Weile waren beide still.
Dann sagte Sirius mit veränderter, merkwürdig gleichgültiger Stimme: „Du musst ein bisschen auf Remus aufpassen. Oder besser auf dich, wenn er mit dir zusammen ist. Ich habe ihn ja damals schließlich nicht nur aus Spaß verdächtigt. Und dass du Snape nicht trauen kannst, weißt du ja. Er ist ein sadistischer Mistkerl, der niemals auf unserer Seite stehen wird. Wie du vielleicht gemerkt hast, geht Dumbledore langsam, aber sicher auf sein geistiges und wahrscheinlich auch körperliches Ende zu. Ich glaube nicht, dass er noch viel Ahnung hat, von dem, was er sagt. Ihm entgleitet jede Kontrolle. Naja, und wozu Eifersucht und ein schwacher Charakter führen können, haben wir ja an Peter gesehen, also wäre ich an deiner Stelle vorsichtig bei Ron. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand seinen besten Freund verrät."
Harry fuhr auf: „Nein, das meinst du nicht so!"
Sirius ließ sich jedoch nicht beirren: „Hermine scheint mir so ähnlich wie Remus zu sein, aber ich kenne sie nicht so gut. Du solltest mal schauen, wie viele Gemeinsamkeiten dir auffallen. Entweder hat sie ebenfalls ein Geheimnis oder aber sie macht es wie Remus damals: Gerät dauernd in Versuchung, uns alle dem Tod auszuliefern. Sollte man ihr ersparen, denn egal, wie sie sich entscheidet, danach ist sie eh verloren. Schau dir Remus an. Der Mann ist seit Jahrzehnten nicht mehr glücklich gewesen und meiner Meinung nach hat er es auch nicht verdient."
Jedes Wort, das sein Pate da sagte, tat Harry weh. Er schüttelte leise weinend den Kopf: „Du redest wirr!"
„Ich will dich nur warnen, Harry! Jetzt hast du niemanden mehr. Es tut mir ja ein bisschen Leid, aber es ist so!"
„Nein!"
„Wenn du stur sein möchtest, bitte! Mir kann es jetzt egal sein; ich bin tot, wie du ja weißt!"
„Bist du nicht! Du bist gefallen! Du brauchst dich nur zusammen reißen und wieder aufstehen! Oder jemanden, der dir die Hand reicht, aber du könntest wieder aufstehen, wenn du es wolltest!"
„So?" Sirius klang gelinde überrascht, „Aber, ich glaube, ich bleibe weg!"
„Wieso? Ich vermisse dich so und Remus auch! Er weint um dich! Und Rons Mutter ist völlig außer sich gewesen!"
„Ja, ja. Hinterher tut es immer allen Leid. Aber ich habe keine Lust, zurückzukommen. Die ganze Verantwortung und Arbeit und wofür das alles? Um fest zu stellen, dass du nicht einmal eine halbwegs ordentlich Kopie von James bist, sondern einfach nur ein nervendes Schulkind, das sich an jede verdammte Regel hält? Nein, danke!" Er hatte nicht wirklich unfreundlich gesprochen, doch Harry zuckte zusammen, als wäre er geschlagen worden.
Er weinte und Sirius wandte sich in der Dunkelheit ab.
„Bitte, bleib!" bat Harry.
„Du bist wirklich seltsam, Harry! Du kannst gar nicht wollen, dass ich bleibe, nach allem, was ich dir gesagt habe! Du müsstest es mir übel nehmen!"
„Das tue ich nicht! Ich liebe dich doch!"
„Dann bist du entweder schwachsinnig oder ziemlich naiv!"
„Bitte ...!" Harry konnte kaum weiter sprechen, „Bitte, bleib! Sirius!"
Erleichtert wichen die Zwillinge zurück, als Remus neben ihnen in die Knie ging und Harrys schlappen, schweißnassen Körper auf seine Arme nahm. Er hob ihn hoch und legte ihn auf dem Bett nieder.
„Sirius?"
Remus zuckte zusammen, erwiderte jedoch leise: „Nein, ich bin´s. Remus."
Als Harry nichts entgegnete, begann Remus vorsichtig, ihm das Schlafhemd auszuziehen. Harry stöhnte und bäumte sich auf, doch sofort war Ron zur Stelle und hielt ihn behutsam, doch bestimmt fest. Remus riss kurzerhand das Shirt an der Naht auf und erschrak, als er Harrys gebrochene Rippe sah. Sie stach durch Fleisch und sogar durch die Haut, die sich blau gefärbt hatte.
Harry jammerte leicht, als Remus mit zusammen gepressten Lippen und ausdruckslosem Gesicht seinen Zauberstab zog und die Spitze leicht auf die Stelle legte.
„Medicio!" flüsterte er und langsam ging die Schwellung zurück. Die gereizte Haut entspannte sich und die Rippe wuchs zurück in den Körper.
„Ist es ganz verheilt?" fragte Ron heiser.
„Nein, wir brauchen Skelesaft und eine schmerzstillende Salbe, aber erst einmal reicht es so!"
Remus nahm Harry aus Rons Armen und bettete ihn auf die Matratze. Er deckte ihn zu und strich ihm eine wirre Haarsträhne aus dem Gesicht. Da trat Dumbledore näher.
Die Eltern Weasley hatten sich soweit beruhigt, dass sie mit ihren Kindern nach unten in die Küche gehen konnten. Ron und Hermine blieben stur im Zimmer stehen.
„Bleibt!" sagte Dumbledore überflüssigerweise und setzte sich auf Harrys Bettkante, weswegen Remus ärgerlich die Stirn verzog.
„Lass ihn doch schlafen! Oder schickst du ihm noch mehr Träume?"
„Was? Sie haben ...?" Doch Hermine brach ab. Dumbledore reagierte nicht, sondern richtete seinen Zauberstab auf Harry: „Enervate!" Harry schlug sofort die Augen auf.
Dumbledore seufzte schwer: „Hast du Durst, Harry?" Harry nickte.
„Hier ist Kürbissaft! Trink etwas!" Er gab Harry aus einem Becher etwas Saft und tupfte ihm den Mund mit seinem weiten Ärmel ab.
„Was ...?"
„Du hast geträumt, nicht wahr?"
„Ich habe nicht geträumt!" sagte Harry tonlos, „Ich wurde bedroht und beleidigt und beinahe erstickt!"
„Ich weiß!" Dumbledore zog die Decke etwas höher und strich sich mit beiden Händen seine weißen Haare aus dem runzligen Gesicht, „Ich habe es auch gesehen."
„Haben Sie das auch geträumt?"
„Nein, ich habe deine Träume gesehen."
„Übel, nicht wahr?" Harry lachte bitter, „Sie haben sie zurückgehalten, oder? Sie wussten alles?"
„Ja!"
„Wie immer! Und ich schaffe es trotzdem jedes Mal wieder, daran zu zweifeln, dass Sie das Richtige tun!" Der Umschwung in Harrys Stimme verwunderte alle. Harry setzte sich mühsam auf: „Ich habe es verdrängt, weil ich es nicht hinnehmen konnte und dabei haben Sie mir geholfen?" Dumbledore nickte.
„Und nur deswegen habe ich etwas schlafen können? In den ersten Ferienwochen?"
Wieder nickte er.
„Aber jetzt ist Schluss damit, weil Voldemort auch nicht herumliegt und schläft?"
Dumbledore seufzte: „So ist es."
„Das verstehe ich!" Harry legte sich wieder zurück.
„Aber ..." sagte Ron, ohne den Satz vollenden zu wollen.
„Gute Frage, Ron!" sagte Dumbledore trotzdem, was Harry fast witzig gefunden hätte, wenn er nicht so tierisch fertig gewesen wäre. Er sah zu seinen Freunden, die ziemlich angegriffen und zerknautscht im Zimmer standen.
„Ich muss Voldemort töten!" sagte er und horchte auf den Klang seiner Stimme. Sein Gefühl sagte ihm, das Remus widersprechen wollte, deshalb wandte er sich zu ihm und sagte sanft: „Hör erst einmal zu, ja?" Remus schloss den Mund wieder und nickte.
„Ich muss Voldemort töten! Niemandem außer mir ist das möglich! Es ist schon vor meiner Geburt festgelegt worden, dass der, den er als ebenbürtig kennzeichnen würde, ihn einmal töten muss. Oder von ihm getötet wird!"
Hermine riss die Augen auf und Ron schüttelte wie auch Remus ungläubig den Kopf. Die drei starrten Harry ungläubig und fast wütend an.
„Ich habe mir das nicht ausgedacht!" verteidigte Harry sich und nach einem Blick auf Dumbledore fuhr er fort, „ „Einer kann nicht leben, wenn der Andere überlebt!" Deswegen muss ich mich beruhigen und mich wappnen! Dann haben wir vielleicht eine kleine Chance!"
„Das glaube ich nicht!" stieß Ron hervor, doch Harry schüttelte milde den Kopf: „Du willst es nicht glauben und das ist etwas anderes, Ron. So ging es mir auch, aber es nützt nichts, das alles weg zu schieben. Nach ein paar Nächten Schlaf kommt ja doch alles wieder und so muss es auch sein!"
„Aber ... das ist nicht fair! Was ist, wenn du ... und was machen wir dann?" flüsterte Hermine. Harry stiegen Tränen in die Augen: „Keine Ahnung!"
Dumbledore erhob sich schwer und strich sich über seine Robe: „Noch ist es nicht so weit! Und noch stehen wir Seite an Seite und gehen dem entgegen, was auch immer da kommen mag! Wir werden uns alle darauf vorbereiten, Hermine, und wenn wir das gründlich genug tun und dann noch eine ganz kleine Portion Glück haben, wird es uns gelingen!"
Hermine sah nicht aus, als würde sie dies endgültig beruhigen, aber sie ließ sich davon zumindest für heute Nacht beruhigen. Sie war völlig erschöpft, denn sie war sofort Ron beigesprungen, als Harry angefangen hatte, zu schreien und um sich zu schlagen.
„Geht schlafen, ihr beide! Tut mir den Gefallen! Im Zimmer nebenan stehen zwei Betten für euch, aber weckt Ginny nicht! Morgen gibt es dann ein leckeres Frühstück!"
Harry sah, dass seine beiden Freunde widersprechen wollten, doch dann gaben sie nach. Dumbledores Blick genügte. Remus brachte sie zur Tür, schloss diese und drehte sich wieder um: „Mich schickst du nicht raus wie ein Schulkind!"
„Nicht mehr, Remus! Nicht mehr!" sagte Dumbledore und lächelte.
„Wie auch immer!" Remus setzte sich zu Harrys Füßen und sah den Schulleiter erwartungsvoll, doch noch immer ungehalten an.
„Und, Harry? Gibst du mir die Hand oder willst du weiter gegen mich wüten?"
„Sie haben so viele, so verdammt viele Fehler gemacht ..." sagte Harry unsicher.
„Ich möchte dir ein Beispiel geben, ohne dir ein schlechtes Gewissen machen oder dich anklagen zu wollen, ja? Hör mir zu! Du hast dich vor einigen Jahren dazu entschieden, mit Hermine und Ron den Stein der Weise zu suchen und nachdem euch Fluffy beinahe die kleinen Köpfe abgebissen, die Teufelsschlinge euch beinahe erwürgt, das Schachspiel euch beinahe geschlagen und die Tränke euch beinahe vergiftet hätten, hast du dich doch entschieden, weiter zu gehen, oder?"
„Ja, ich musste!"
„Aha! Und dann nicht viel später bist du mit Ron in die Kammer des Schreckens gestiegen, um Ginny zu retten, nicht wahr? Was hätte Ron und auch Professor Lockhart passieren können?"
„Lockhart ist etwas passiert!" sagte Harry leise.
„In der Tat. Etwas, dass du nicht beeinflussen konntest. Du bist ohne lange Nachzudenken dem Hund gefolgt, der deinen Freund verschleppt hat und du hast mit Hermine zusammen einen entflohenen Mörder befreit ..."
„Er ist ... war kein Mörder!" fuhr Harry dazwischen und kam damit Remus zuvor.
„Und das wusstest du damals hundertprozentig?"
„Ja!"
„Gut! Und, jetzt muss ich aber wirklich überlegen. Du hast dich dafür entschieden, mit einem Zeitumkehrer zu reisen; was hätte dabei alles schief gehen können! Angegriffen und bedroht von Dementoren und einem Werwolf und dann hast du sogar einen Patronus heraufbeschworen und dich dabei selbst gesehen! Du hast dich dafür entschieden jede Aufgabe des Trimagischen Turniers durchzustehen. Du hast vorgeschlagen, dass Cedric und du gemeinsam den Pokal berühren ebenso wie du entschieden hast, ihn zurück zu bringen und Alarm zu schlagen!"
Harry nickte und wischte sich die Tränen, die heute wohl gar nicht mehr versiegen wollten, aus den Augen.
„Siehst du, worauf ich hinaus will?" fragte Dumbledore sanft, doch Harry schüttelte schwach den Kopf. Er wollte es sich lieber erklären lassen. Er war müde.
„Entscheidungen, Harry! Entscheidungen, die du getroffen hast und die die verschiedensten Auswirkungen hatten! Mal hat alles geklappt, mal nicht. Mal bist du unbeschadet aus einer Sache herausgekommen, mal nicht. Du hast gewonnen und wieder verloren. Du hast jemanden gerettet und jemanden sterben sehen. Aber nie konntest du vorher wissen, was genau passieren würde, habe ich Recht?"
Harry nickte.
„Und genauso ging und geht es mir! Ich treffe jeden Tag Entscheidungen und muss dann sehen, wo das endet. Ich kann herumrechnen und überlegen, was geschehen wird. Ich kann sicher sein oder ich muss es einfach so wagen. Aber ich kann dir versichern, dass ich alles, was ich tue, aus bester Absicht heraus tue! Und mit dem starken Wunsch, alles zum Guten zu wenden! Wenn ich daran scheitere, kannst du gegen mich wüten, aber denk dann vielleicht auch einen kleinen Augenblick daran, wie schlimm es mir sowieso schon geht. Hier, in meinem Kopf und hier, in meinem Herzen! Ich kann es auch nur immer wieder versuchen!"
Dumbledore hatte sich langsam zur Tür gewandt, als Harry sich hektisch aufsetzte und wieder umgefallen wäre, hätte Remus nicht geistesgegenwärtig einen Arm nach ihm ausgestreckt.
„Es tut mir Leid!"
Dumbledore lächelte und nickte.
„Ich werde mir Mühe geben, O.K.? Ehrlich, ich ... werd mich bemühen!"
„Ich weiß, Harry! Jetzt schlaf dich aus!"
„Die Träume?"
„Es können allerhöchstens noch ein paar kleine Nachwirkungen kommen. Wie ein Schnupfen. Nichts Arges, das verspreche ich dir! Ich sperr sie weg, bis du meinst, dich ihnen stellen zu können!"
Harry nickte und bevor Dumbledore aus der Tür war, rief er: „Sind es Träume oder Vorahnungen? Was müssen wir was unternehmen? Wird das alles wahr, was ich geträumt habe?"
„Das weiß ich nicht, Harry, aber wenn wir uns mal deine Träume ansehen, werden wir es vielleicht herausfinden!" Der Direktor zwinkerte ihm noch einmal zu und schloss dann die Tür. Nach einer Weile sagte Remus in die Stille: „Das war ein wirklich freimütiger Vortrag!"
„Ja."
„O.K., dann leg dich wieder hin, Harry! Wenn du jetzt einschläfst, kriegst du ... lass mich nachrechnen ... ziemlich genau 4 ½ Stunden Schlaf, bevor der erste Dussel, wahrscheinlich Tonks oder Mundungus, das Portrait aufschreckt!" Remus grinste und Harry ließ sich anstecken: „O.K.!"
Als Remus ihn überflüssigerweise noch etwas mehr zu gedeckt hatte, wollte er sich zum Gehen wenden.
„Bleibst du hier?" fragte Harry kaum hörbar.
„Willst du das?"
„Ja, für die Nachwirkungen, weißt du? Wie ein Schnupfen."
Remus lachte: „Gut. Dann bleibe ich!" Er zauberte sich eine Liege neben Harrys Bett und krabbelte darauf. Als er sich in eine Decke gewickelt hatte, lugte er Harry an: „Ich bin also hier, falls du dich an irgendetwas fest halten musst!"
„Danke!"
