Das schönste Geschenk
Auf Dumbledores Bitte hin behandelten sie Harry vorsichtig, doch nicht wie ein rohes Ei. Mrs. Weasley war sowieso immer besorgt um ihn und betütelte ihn von früh bis spät, aber ansonsten hielten sich alle zurück.
Ron und Hermine hielten sich zwar die ganze Zeit in seiner Nähe auf, kamen aber von selbst nicht auf die Geständnisse dieser Nacht zu sprechen, obwohl es ihnen arg schwer fiel.
Wieder einmal vertreiben sie sich die Zeit mit Putzen, ein paar Hausaufgaben und damit, sich über die Zwillinge zu amüsieren, die ständig zu ihrem Geschäft in der Winkelgasse apparierten und von ihrer Mutter des Öfteren durchs Haus gejagt wurden.
Harrys Geburtstag stand plötzlich an. Zumindest kam er für Harry mal wieder unerwartet. Die Weasleyfamilie, Hermine, Remus, Tonks und Moody hatten sich allerdings bestens vorbereitet und begrüßten ihn statt in der Küche am Frühstückstisch im Kaminzimmer in einem Meer von Kerzen und kleinen Küchlein.
„Happy Birthday!" rief Ron und drückte seine Hand. Hermine und Ginny umarmten ihn.
„Harry, mein Lieber! Alles, alles Gute!" Mrs. Weasley nahm ihn in die Arme und schubst ihn zu Remus, welcher etwas traurig lächelte: „Herzlichen Glückwunsch, Harry!"
„Danke!" Harry ließ sich auch von Remus kurz in den Arm nehmen. Daran hatten sie sich beide mittlerweile fast gewöhnt.
„Geschenke!" rief Tonks lachend und wirbelte ein paar Handvoll Konfetti auf, woraufhin Moody seinen Zauberstab zog und sie mit einem Spruch an die Wand nagelte.
„Mann, Mad-Eye, das ist komplett ungefährlich!" schmollte Tonks und ließ sich von Mr. Weasley wieder von der Wand pellen Sie drückte Harry fest an sich und bugsierte ihn dann auf einen Stuhl: „Hier, das ist von mir!"
„Danke!" Harry wickelte ein quietschbuntes Etwas aus Zeitungspapier und hielt es unschlüssig in den Händen: „Ähm ..."
„Schau mal, was du damit machen kannst!" Tonks war ganz aufgeregt und nahm ihm das Ding, das etwa die Größe und Konsistenz einer Pampelmuse hatte, aus der Hand. Es fiepte etwas und Tonks deutete auf Harrys Kopf, was ihn doch etwas beunruhigte.
„Blau!" sagte sie laut und deutlich und das Ding begann zu wirbeln und zu verschwimmen und nach einem lauten Plopp hatte Harry blaue Haare.
„Cool, nicht?"
Ron brach in schallendes Gelächter aus und Hermine zog zweifelnd die Augenbrauen hoch.
„Du hattest mich mal gefragt, ob man es lernen könnte, ein Metamorphmagus zu werden, weißt du noch? Naja, als ich das hier gesehen hab, musste ich irgendwie daran denken."
„Danke!" Harry freute sich ehrlich über ihren Gedanken, doch etwas weniger über seine blauen Haare.
„Pack weiter aus!" drängte Ron, „Das ist von Ginny, Hermine und mir!"
„Wow!" Harry keuchte überrascht, als das Riesenpaket auf seinen Schoß plumpste. Eifrig riss er das Papier auf. Ein großer, dunkelroter Koffer, auf den jemand, wahrscheinlich Ginny, den Gryffindorlöwen gestickt hatte, kam zum Vorschein. Er hatte viele kleine Taschen und Fächer und Ron erklärte ganz aufgeregt: „Das hier ist für Bücher und so´n Kram. Das hier für Essen. Es ist geruchsvertilgend. Wenn dir da was drin schlecht wird, merkst du es also nicht. Naja. Und das Fach hier ist für Klamotten, das hier für Schuhe und das hier für deinen Besen."
„Ron, ich glaube nicht, dass der Feuerblitz da rein passt." zweifelte Harry, doch da trat schon Ginny auf den Plan: „Wenn du erlaubst." Sie holte Harrys Besen, den sie zuvor schon ins Zimmer geschmuggelt hatte und legte ihn neben den Koffer. Obwohl dieser einen Meter lang und eine halben Meter breit war, war er eindeutig zu klein für den Besen. Doch Ginny öffnete das Fach, drückte auf einen kleinen, weißen Knopf und schon schrumpfte der Besen und schlüpfte von allein in den Koffer.
„Wow! Das ist ja cool!" Harry kniete sich neben sie und den Koffer auf den Boden, „Der ... der ist echt total klasse! Vielen, vielen Dank!" Harry umarmte jeden von ihnen und strahlte richtig.
Von Mr. und Mrs. Weasley bekam er ein paar leckere Pasteten und Kuchen und von Moody einen hübschen Federhalter, der ihm allerdings sofort in den Finger biss. Charlie, Bill, Percy und die Zwillinge hatten zusammengelegt und ihm einen Gutschein für eine Besenüberprüfung bei „Auf, auf und davon", dem neuen Besen- und Flugzubehörgeschäft in der Winkelgasse, geschenkt.
„So, jetzt eröffnen wir das Buffet!" rief Mrs. Weasley und als alle zu den reichlich gedeckten Tischen stürmten, nahm Remus Harry beiseite: „Ich würde dir gerne heute Abend etwas geben. Etwas ... von wirklich sehr großem Wert. Du weißt ja auch, dass ich nicht wirklich viel Geld habe, aber ich habe etwas, das sozusagen sowieso schon dir gehört. Es ist heute fertig geworden; passend zu deinem Geburtstag."
Harry lächelte zu ihm hoch: „O.K., klingt gut!"
„Dann heute Abend hier im Kaminzimmer." Remus klopfte ihm auf die Schulter und dann machten die beiden, dass sie auch noch etwas zu essen bekamen.
Abends. „Ah, Harry, da bist du ja schon. Komm rein! Möchtest du was trinken?" Remus wirkte ziemlich nervös.
Sie setzten sich und schwiegen sich eine Weile an. Es war wie immer ein gemütliches Schweigen, das Harry genoss. Es herrschte Vertrautheit zwischen ihnen. Remus war mittlerweile nicht mehr nur sein Lehrer; er war sein Freund und Harry hatte gerade letzte Nacht darüber nachgedacht, ob Remus irgendwie die Position seines Paten eingenommen hatte. Zwangsweise hatte er wieder an Sirius denken und war zu dem Schluss gekommen, dass sich Remus zwar um ihn kümmerte, aber dass er deswegen nie aufhören würde, Sirius zu vermissen. Sirius hatte wesentlich mehr Verständnis für Streiche und Stundenschwänzen als Remus; da war Harry sich sicher. Er hatte so einen eigenartigen Sinn für Humor und er schien Harry immer genau zu verstehen. Naja, meistens jedenfalls. Und Harry hatte sich so darauf gefreut, seine Eltern mit Sirius´ Augen sehen zu können, wenn er ihm von ihnen erzählte.
Remus lächelte: „Willst du die blauen Haare eigentlich behalten?"
Harry grinste verlegen und fuhr sich durch die Haare: „Ich glaube, langsam könnte ich meine echten Haare wieder gut haben!"
Remus richtete den Zauberstab auf ihn und sagte: „Re!" Und schon breitete sich ein tiefes Schwarz auf Harrys Schopf aus.
„Danke!"
„Keine Ursache!"
Wieder schwiegen sie und Harrys Gedanken wanderten zurück zur gestrigen Nacht. Dumbledore hatte ihm einen fein dosierten Traum geschickt. Sie beide hatten nicht genau gewusst, worum es sich bei diesem handelte; obwohl Harry daran zweifelte, dass es überhaupt irgendetwas gab, das Dumbledore nicht zumindest vermutete; und knallhart hatte ihn die Erinnerung an den Kampf im Ministerium getroffen.
Sirius war gefallen. Er hatte ihn angesehen. So ungläubig und überrascht; fast, als wollte er lachen, da so etwas doch gar nicht passieren könnte. Und Bellatrix hatte gelacht.
"Remus ... du hast doch mit Moody die Todesser verfolgt, oder?"
„J-ja!" Remus´ Stimme klang bemüht fest.
„Habt ihr eigentlich diese Lestrange wieder gesehen?" fragte Harry möglicht beiläufig und Remus verschluckte sich. Als er aufgehört hatte, zu husten, sah er Harry aufmerksam an: „Ja, ich habe sie einmal gesehen. In Portugal. Wir haben sie quer über den Kontinent verfolgt und ich habe mich mit ihr duelliert. Ich ... sollte sie gefangen nehmen, doch ..."
„Du wolltest sie töten?" flüsterte Harry. Sein Körper war ganz angespannt.
Remus nickte langsam: „Ja. Und das ist kein schönes Gefühl. Einerseits hat es mich ganz ausgefüllt und ich wollte es wirklich, andererseits tat es so wahnsinnig weh. Als wollte ein Teil von mir mich selbst davon abhalten, während der andere Teil förmlich danach schrie. Ich bin es ja gewohnt, irgendwie zerrissen zu sein, aber das war wirklich schmerzhaft. Sie ist mir dann aber entkommen. War einfach schneller als ich und hat mich gelähmt."
„Sie hätte dich töten können." sagte Harry tonlos und kaum hörbar. Er wusste nicht, was er getan hätte, wenn er in den Ferien erfahren hätte, dass Remus, auch wenn damals noch Professor Lupin, gestorben wäre. Vermutlich wäre er komplett durchgedreht.
Remus ging vor ihm auf die Knie und nahm fest seine Hände: „Hey, hör mir mal zu! Ich werde vorsichtig sein; das verspreche ich dir! Ich werde es diesen verdammten Todessern nicht leicht machen, mich zu erwischen! O.K.?"
„Sirius hat es ihnen einfach gemacht." meinte Harry, „Aber eigentlich stimmt das nicht mal! Ich habe ihn seinem Mörder praktisch auf dem Silbertablett serviert."
Remus runzelte die Stirn, doch Harry winkte ab: „Ich weiß, das hatten wir schon mal! Das kommt bestimmt noch von dieser fiesen Traumnacht!"
„Sicher?" Remus sah ihn durchdringend an. Harry nickte.
„So einfach lässt sich so etwas nicht wegreden!" sagte er ungehalten und Remus nickte: „Das weiß ich nur zu gut."Dann stand er auf und seufzte: „Wir haben es wirklich schwer, Harry, aber zum Glück haben noch einander, nicht?"
Harry schielte zu ihm hoch und war sich nicht sicher, ob Remus scherzte oder das ernst meinte.
„Dann kommen wir jetzt mal zum Punkt. Ich habe hier etwas für dich. Es ist ... furchtbar kostbar! Ich konnte es selbst kaum fassen, als ich es hier vor einigen Monaten gefunden habe."
Er öffnete vorsichtig die unterste Schublade eines Schreibtisch und stellte eine flache, graue Schale auf den Tisch: „Das ... das hat Sirius für dich angelegt. Es ist natürlich nicht fertig geworden, aber ... ich hab´s noch ein bisschen vervollständigt."
Harry erhob sich und ging zum Schreibtisch. Er besah sich die Schale und ihm fiel vor Schreck die Kinnlade herunter: „Ein ... Denkarium?"
„Mit Erinnerungen an früher ... an James und Lily ... nur für dich!"
Harry schluckte.
„Es ist ziemlich durcheinander. Es sind auch neuere Erinnerungen darin. Weißt du, man kann sehr viel in einem solchen Denkarium ablegen, doch es zu sortieren, ist schwer. Außerdem findet man eine Erinnerung nicht so schnell wieder, wenn man einmal von ihr weg gegangen ist. Bei der Arbeit mit dem Denkarium müsste der Kopf auch eigentlich ganz leer sein und wenn er das nicht ist, mischen sich noch viele andere Sachen hinein. Ich denke, es ist trotzdem ... na ja, gut geworden. Aufschlussreich. Schau es dir mal an. Ich glaube, er hat damit begonnen, nachdem du uns den Besuch im Kamin abgestattet hast. Er hat sich im Nachhinein furchtbar darüber aufgeregt, dass du ein so schlechtes Bild von deinem Vater bekommen hast. Aber davon hat er mir nichts erzählt. Ich habe es beim Aufräumen in seinem Zimmer gefunden und konnte es gerade noch vor Kreacher retten."
Er erhob sich schwerfällig: „Wenn du es jetzt ausprobieren möchtest, kann ich einen Schutzzauber um den Raum legen, der dich eine Zeit lang abschirmt. Dann hast du deine Ruhe!"
„Remus", krächzte Harry, „Da kann ich nicht reinsehen! Nicht allein ... bitte!"
Remus meinte zögernd: „Ich dachte, dass du das Denkarium erst einmal allein erforschen möchtest."
„Nein!" stieß Harry hervor, „Das schaff ich nicht! Das schaff ich echt nicht!"
„Harry", Remus nahm noch einmal seine Hände und schaute ihm fest in die Augen, „Ganz ruhig! Du kannst das langsam angehen. Bleib hier im Kaminzimmer. Probier erst mal eine Erinnerung aus und dann kannst du mit mir sprechen, wenn du willst. Oder mit Ron und Hermine. Ich denke, dass es ganz gut ist, wenn du dich dem erst mal alleine stellst. Und ich bin überzeugt davon, dass du das auch überstehst! O.K.?"
„O.K. ..."
„Gut!" Remus ging zur Tür, „Viel ... Spaß."
Harry verzog den Mund: „Meinst du?"
Remus lächelte: „Es wird dir gut tun! Das kann ich dir beinahe versichern!"
„Beinahe?"
„Mach´s gut, Harry!"
Harry stand schon geschlagene 20 Minuten vor dem Schreibtisch und starrte das Denkarium an. Er holte tief Luft und schlug sich mit den Handflächen auf die Oberschenkel: „Gut, reiß dich zusammen! Du wolltest doch immer was über deine Eltern wissen; jetzt hast du die Chance dazu!"
Langsam beugte er sich über die Schale. Er betrachtete den leichten, fließenden Silbernebel im Inneren.
„Na, dann mal los!"
Er lehnte sich noch weiter nach vorn und spürte, wie er den Boden unter den Füßen verlor. Sein Kopf fühlte sich schwer an und als würde etwas mit unheimlicher Macht an ihm ziehen.
Harry ließ sich fallen und tauchte ein in die Vergangenheit, die Sirius für ihn eingefangen hatte.
