Die erste Erinnerung

Es war dunkel und ein kühler Wind strich Harry über Arme und Gesicht. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er spürte Gefahr und redete sich eilig ein, dass ihm hier gar nichts passieren konnte.

Vorsichtig tat er ein paar Schritte und hörte das Knirschen von altem Holz unter seinen Füßen. Endlich gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis und er erkannte schemenhaft den unteren Flur in der Heulenden Hütte. Im nächsten Moment zerriss ein markerschütterndes Jaulen die stille Nacht und Harry zuckte zusammen. Er hörte das näher kommende Geräusch laufender Pfoten und drückte sich an die nächstgelegene Wand.

Ein riesiger, schwarzer Wolf mit buschiger Rute und blutendem Maul hetzte an ihm vorbei und ihm folgte ein ebenso schwarzer, jedoch etwas kleinerer Hund mit hängender Zunge. Er hinkte leicht, war aber trotzdem noch unglaublich schnell. Die beiden stürzten die morsche Treppe hinauf und Harry wurde wie von einem unsichtbaren Seil mitgezogen. Hinter ihm stiegen noch zwei Menschen die Stufen hoch und sprachen aufgeregt miteinander.

„James, jetzt tu schon was! Verwandle dich! Sonst erwischt er dich auch noch!"

Harry fuhr herum und hätte eigentlich fallen müssen, stattdessen stand er in der Luft.

Sein Vater James, zerzauster als selbst für ihn üblich und mit besorgtem Gesichtsausdruck, sprang, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch. Ihm folgte Peter, ein dicklicher, blasser Junge, der eifrig auf ihn einredete.

Harry wurde durch die Luft von ihnen weggezogen; schließlich war dies hier Sirius´ Erinnerung und nicht James´. Er gelangte in den Raum, in dem er Sirius damals das erste Mal gesehen hatte; jedenfalls das erste Mal als Mensch. Doch es stand kein Himmelbett dort, sondern eine karge Pritsche.

Hund und Werwolf standen sich gegenüber und knurrten, dass ihm das Blut in den Adern gefror. Der Wolf schnappte nach dem Hund, welcher stolpernd auswich. Da betrat James den Raum. Peter war mittlerweile eine kleine Ratte und schlüpfte schnell unter einen Schrank. James rang nach Luft und hob den Arm: „Moony, beruhig dich! Bitte! Komm schon! Was bist du denn so wild heute?"

Der Wolf drehte sich zähnefletschend zu ihm um und machte einen noch größeren Buckel. Der Hund nutzte diesen Moment, um sich zur Pritsche zu schleppen und sich darauf zu legen. Er jaulte und ganz langsam wurde sein Fell hell und wurde zu menschlicher Haut. Der lange Kopf wurde runder, die Schnauze ging zurück und schließlich lag Sirius auf der Pritsche. Sein Umhang hing in Fetzen an ihm herunter und er stöhnte: „Verdammt, mein Bein! Krone, jetzt mach was! Ich kann ihn heute nicht halten!"

James nickte und schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Allmählich wuchs er und sein Körper zog sich in die Länge. Er ging auf alle Viere und setzte die Hufe klappernd auf dem Boden auf. Das noch etwas nebelhafte Geweih richtete er drohend gegen den Wolf, der grollend die Verwandlung beobachtete.

Der majestätische Hirsch schritt langsam zwischen Wolf und Pritsche und verdeckte Harry so die Sicht auf Sirius. Dieser schluchzte gepresst und der Hirsch wandte besorgt den Kopf zu ihm. Da setzte der Wolf zum Sprung an und wollte seine Krallen in den Leib des Hirsches schlagen.
Harry schrie auf, doch der Hirsch drehte sich bereits weg und stieß mit dem Geweih zu, so dass der Wolf zur Seite geschleudert wurde. Er jaulte auf und kauerte sich in der Ecke zusammen. In den nächsten Minuten war er damit beschäftigt, seine Wunden zu lecken.

Der Hirsch trat einen Schritt näher an die Liege und senkte das Haupt. Mit den Zähnen packte er den Zipfel einer Decke und zog sie über den liegenden Sirius.

„Danke schön!" meinte dieser spöttisch, „Jetzt muss ich mir mein zerfetztes Bein wenigstens nicht mehr ansehen."

Der Hirsch legte den Kopf schief und sah dann wieder aufmerksam zu dem Wolf in der Ecke. Doch dieser schien mittlerweile des Kämpfens überdrüssig. Er sah ein, dass er gegen den Hirsch keine Chance haben würde. Also zog er es vor, auf dem Boden liegen zu bleiben und die beiden bei der Pritsche wütend anzustarren.

Harry rieb sich die Arme und beobachtete die Szene, in der die drei Freunde beieinander und doch nicht wirklich zusammen waren.

Dann fuhr ein scharfer Wind durch die Hütte und es wurde stockdunkel. Als Harry wieder sehen konnte, erkannte er Remus und Sirius auf der Pritsche nebeneinander. Sie lagen bei auf der Seite, einander zugewandt und beäugten sich schweigend. Beide sahen erschöpft aus und waren in alte Decken gewickelt. Über Sirius´ Gesicht zog sich eine lange Schramme. Remus blutete aus mehreren Schnitten am Hals, an der Brust und am Bauch. Sein Blick war dunkel, während Sirius offensichtlich um ein Lächeln bemüht war.

James wusch währenddessen ein blutgetränktes Tuch in kaltem, klarem Wasser aus und betupfte dann vorsichtig Sirius´ Wunde am Bein. Dieser zuckte, doch er biss die Zähne aufeinander. Remus lief still eine Träne über die zerschrammte Wange und er drehte sich weg.

„Wenn Peter nicht gleich mit eurem Umhängen kommt, verhex ich ihn!" murrte James und besah sich Remus´ Bauch, „Naja, halb so schlimm. Die Verletzung ist nicht tief, aber ich tu dir mal Salbe drauf."
Remus jaulte leise auf, denn die Creme brannte wie Feuer auf dem zerrissenen Fleisch. Sirius rollte sich von der Liege und stand schwankend auf. Er hielt die Decke um sich gewickelt und betrachtete sich im trüben Glas einer noch nicht zerbrochenen Scheibe in einem alten, staubigen Schrank: „Hm ... hab auch schon schlimmer ausgesehen. Das mit dem Auge ist blöd; das gibt bestimmt ein Veilchen! Was bin ich auch so dämlich und renn gegen eine Tür!"

„Kannst ja sagen, du hast dich mit mir geschlagen." grinste James, während er Remus eine Schramme am Rücken bepinselte.

„Klar! Und du gingst als Sieger hervor! Dann kannst du wenigstens bei Evans punkten!" Sirius lachte und James fiel mit ein.

„Ich glaube nicht, dass Lily auf Schläger steht!" ließ sich Remus leise vernehmen. Er stand auf und trat ebenfalls zum Schrank. Mit kritischem Blick betrachtete er seine magere, zerschundene Brust, die dünnen Beine, die in einer ziemlich großen, eigentlich kurzen Hose (sprich: sie ging ihm bis zu den Knien) steckten und die Kratzer an den Armen, die schon wieder verheilten.

„Wir müssen demnächst mal neue Salbe von der Pomfrey holen. Die hier ist bald alle!" sagte James und räumte die Schüsseln weg.

„Ich hab bald raus, was sie statt dem Mieswurz reintut. Dann stelle ich uns welche her." sagte Remus und blickte auf den Boden. Sirius trat einen Schritt näher und legte einen Arm um ihn: „Jetzt guck mal nicht so! Wir haben wieder eine Vollmondnacht hinter uns und haben jetzt erst mal einen Monat lang Ruhe!"
Remus nickte und schluckte.

James trat von hinten zwischen sie und hängte sich mit beiden Armen an ihre Schultern: „Es war gar nicht so schlimm diesmal, Moony! Ich hab zum Beispiel gar nichts abgekriegt!"

„Toll für dich!" empörte sich Sirius und stieß den grinsenden James ein paar Schritte weg. Remus lächelte etwas entspannter und im nächsten Augenblick trat Peter ein, die Arme beladen mit neuen Umhängen und Unmengen von Essen: „Ich dachte mir, da unser guter Moony Sirius nun doch nicht erwischt hat, hat er bestimmt Hunger!"

„Sehr witzig, Wurmschwanz!" knurrte Remus und griff gierig zu. Die Jungen setzten sich auf den Boden und begannen zu essen.

Langsam verschwamm die Erinnerung und Harry fühlte sich schwindelig und als würde ihn etwas in die Länge ziehen oder auflösen. Er flog aus dem Raum, die Treppe herunter, einen Flur entlang, durch eine Tür, hörte noch ein letztes Auflachen seines Vaters und sah dann nur noch gleißendes Licht, das sogar durch seine krampfhaft geschlossenen Augenlider drang.

Er schnappte nach Luft. Es war, als würde ihm jemand ein Gewicht auf die Brust legen und sein Hals war wie zugeschnürt. Mit einem erstickten Aufschrei fiel Harry im Büro auf den Boden. Er rang nach Luft und presste die Hände an den Hals. Er fühlte sich krank und überwältigt und einsam und erschöpft und das alles auf einmal.

„Na, das fing ja gut an! Das fing ja wirklich gut an!"