Numb
Sie saß auf einem Ast im Gezweig einer mächtigen Eiche, die ihr Schutz und Sicherheit für Vorhaben bot. Jede Sehne ihres Körpers war zum Zerreißen angespannt. Eine unermüdliche Spannung durchzog ihren Leib. Eine Hand ruhte auf dem blanken Holz des kostbaren Bogens – jederzeit bereit ihn zu spannen und ihrem Ziel den Tod zu bringen. Ihre wachsamen Augen verfolgten jede einzelne Bewegung ihres Opfers, wie sie ging, sprach und sogar atmete. Ihrem Blick entging keine kleine Regung ihrer Gesichtszüge. Langsam ließ sie ihren Arm nach hinten an ihren gänzlich gefüllten Köcher wandern um ihrer lebenden Zielscheibe jeden Moment ein Ende zu setzen. Sie führte ihre Bewegungen mit einer unglaublichen Präzision und Konzentration aus, nur um sich keinen noch so geringen Fehler zu leisten.
Auf der Lichtung, an dessen Rand sich die Jägerin aufhielt, rastete eine Gruppe von geringer Anzahl an Elben, die schon den gesamten Tag auf Reisen waren und sich nun nach den Anstrengungen eine Pause gönnten. Wichtige Personen waren anwesend, die auf dem Heimweg zu der königlichen Stadt im nördlichen Eryn Lasgalen war um ein langerwartetes Fest zu feiern – die Vermählung des Prinzen mit seiner Verlobten Iocaste. Beide saßen in der Mitte und einige Wachen, die sonst im Palast dienten, standen oder saßen am Rand um etwaige Angriffe abzuwehren. Niemand rechnete jedoch mit solchen Umständen, jedoch war es Pflicht nur mit Begleitung den Eryn Lasgalen zu durchqueren.
Iocaste saß neben ihrem zukünftigen Ehemann und unterhielt sich mit einem der Wachen. Legolas dagegen starrte nur hinaus in den dunklen Wald, denn es war inzwischen Nacht eingekehrt und das einzige Licht spendeten die wenigen Fackel, die die Elben angezündet hatten.
Delu, die scharfsichtige Jägerin, wandte für einen kurzen Moment ihren Blick von ihrem Opfer und achtete auf die Positionen, die die Wachposten eingenommen hatten. Es schien der richtige Augenblick gekommen zu sein. Wieder schenkte sie Iocaste ihre Aufmerksamkeit, die sich von ihrem Platz nicht wegbewegt hatte. Unwillkürlich spannte Delu jeden einzelnen Muskel in ihrem Körper an, doch ihr Herz schlug noch gleichmäßig in einem ruhigen Takt. Langsam bewegte sie ihren Reiterbogen vor sich, dabei auf die Blätter um sich achtend, damit sie das Laub nicht streifte. So lautlos es ihr möglich war, bewegte sie sich auf den massiven Ast dieser mächtigen Eiche. Den ganzen Tag war sie der Gruppe gefolgt und auch all die Tage zuvor. Kaum Proviant trug sie bei sich, doch sie wartete stets auf den rechten Moment und er war gekommen.
Sie umgriff einen ihrer unscheinbaren Pfeile und legte ihn leise an den Griff des Bogens an. Ihre klaren Augen fixierten die Elbin, die einige Meter von ihr entfernt auf dem Boden saß. Mit dem Pfeil zielte sie direkt auf das Herz der jungen Frau und langsam zog sie die Sehne nach hinten. Ihr Arm bildete dabei exakt eine Verlängerung des Pfeiles. Ihr Atem ging ruhig, weil sie durch die Bewegungen ihres Brustkorbes keine Verschiebung des Bogens erlauben durfte. Noch immer war ihr Herzschlag in Ruhe und keine Aufregung war zu spüren. Ruhig wie immer, wenn sie im Begriff war jemanden zu töten, fixierte sie ihr Ziel genau. Ohne auch nur an die Gründe zu denken, weshalb sie diese Frau töten wollte, schloss sie noch einmal kurz die Augen.
Nach dem Bruchteil einer Sekunde öffnete sie diese wieder und sofort ließ sie den Pfeil los, der direkt durch das dichte Gezweig auf das Herz der Frau steuerte.
Legolas ließ
gerade seinen Blick über die Bäume, die die Lichtung
abgrenzten, wandern, als er den tödlichen Pfeil bemerkte. Doch
noch bevor er aufschreien konnte, traf er schon sein Ziel. Schneller
als auch nur irgendjemand aus der Gruppe den Pfeil mit seinen Augen
verfolgen konnte, traf er Iocaste direkt ins Herz. Durch den Aufprall
des tödlichen Geschosses wurde ihr zarter Körper nach
hinten befördert und sie blieb reglos auf dem Rücken
liegen. Ihr klaren Augen starrten hinauf zum Himmel und ihr Mund war
etwas geöffnet. Legolas stand mit vor Schock weit geöffneten
Augen auf und rannte auf seine Verlobte zu. Neben ihr fiel er in die
Knie und noch bevor er es wahr haben wollte, war offensichtlich, dass
sie tot war. Eine kleine Blutspur lief aus ihrem Mundwinkel herab.
Fassungslos starrte er hinab auf den weißen reglosen Körper
der jungen Frau und er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Von
weit außerhalb hörte er dumpfe Schreie, doch sie drangen
kaum zu ihm hindurch, denn eine dichte Nebelschwaden hatten sich um
ihn gelegt, sodass er alles, was sich außerhalb befand nur noch
verzehrt und tonlos wahrnahm. Ewig schien es ihm, wie er auf die
geöffneten ausdruckslosen Augen von Iocaste herabsah, doch
vergingen nur wenige Sekunden.
Sekunden, die Delu
genügten um ihren Reiterbogen wieder an einer Halterung am
Rücken zu befestigen. Sie sah nicht mehr hinab auf die Lichtung,
wo sich ein großer Kreis um die Tote bildete. Elegant sprang
sie vom Ast herunter und leichtfüßig kam sie auf den
moosbedeckten Boden zum Stehen. Doch so sehr sie auch versuchte keine
Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, gab es immer diese Momente, in
denen es ihr unmöglich war. Momente, in denen der Pfeil auf ihr
Opfer schlug, Momente, in denen sie versuchte zu entkommen. Doch so
leichtfüßig sie als Elbin auch gehen konnte, waren es
immer ihre Waffen, die Geräusche verursachten, so auch jetzt,
als sie auf den Boden aufkam.
Gerade wollte sie sich zum Gehen umdrehen, als sie einer der Wachen zu bemerken schien. Als sie zum Laufen ansetzte, spürte sie plötzlich einen stechenden Schmerz in ihrem Bein. Irritiert sah sie hinab und erkannte, dass sich ein Dolch den Weg durch das Fleisch ihres Unterbeines gebahnt hatte. Blut sickerte aus der Wunde hervor und floss hinab über den Stiefel, aber auch innerhalb bildete sich eine Pfütze aus Blut. Sie hatte keine Zeit zu verlieren und so riss sie den Dolch ohne einen Laut von sich zu geben heraus und steckte diesen in ihren Gürtel. Trotz der furchtbaren Schmerzen rannte sie davon, doch sie war zu langsam. Sie kam nicht voran, jedoch schnell genug, denn niemand schien ihr zu folgen.
Nachdem sie die Lichtung hinter sich gelassen hatte und an einem
steilen Hang im Wald einen sicheren Platz zum Rasten fand,
begutachtete sie die Wunde an ihrem Bein. Sie verfluchte diesen
Elben, der ihr diese zufügte, doch für Rache war weder Zeit
noch war es ein Nutzen für sie. Delu hatte keinerlei Zeit um die
Wunde zu reinigen oder ordnungsgemäß zu verarzten. Sie
legte lediglich einen Verband an, der die Heilung jedoch nicht weiter
voran brachte. Aber es musste genügen, zumindest für die
Flucht.
Delu hatte keinerlei Grund dieser Elbin
den Tod zu bringen, doch ein andere hatte es. Ihr Auftraggeber. Delu
tötete niemals aus eigenem Wunsch heraus, nur auf Befehl. Dafür
spielte es keine Rolle, wer ihr Opfer war, denn sie konnte töten.
Töten ohne mit der Wimper zu zucken, ohne dass Schuldgefühle
sie heimsuchten und ohne darüber nachzudenken, wer ihr Opfer
eigentlich war. Sie war nur eine todbringende Maschine, der nicht
einmal bewusst war, was Tod bedeutete. Auch diesmal war es nicht
anders. Sie hatte nur noch eines im Kopf, ihre Flucht, denn es war
offensichtlich, dass sie ab den heutigen Tag gejagt werden würde.
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Eryn Lasgalen – Name, der dem
Düsterwald nach dem Ringkrieg gegeben wurde.
Reiterbogen – Bogenart, die vor allem zu Pferd verwendet wird, relativ niedrige Höhe.
