Don't stay

Diese Nacht erwies sich als bitterer Feind von Delu. Nicht nur, dass sie verwundet worden war, nun verschwanden auch noch die Wolken vom Mond und das bleiche Licht schien auf den Waldboden hinab direkt auf sie. Sie konnte ihre Position nicht ändern, denn nur hier, wo sie sich derzeit befand, war sie noch sicher – hier zwischen der steilen Wand des Hanges, der weit hinauf führte, und einem breiten Gestrüpp, hinter dem man sie kaum vermuten konnte. Doch das Licht spiegelte sich auf den metallenen Details ihrer Kleidung, die sehr auffällig erschien, sich jedoch als sehr hilfreich in Bezug auf ihre Aufgaben erwies. Delu trug zwei unterschiedlich hohe Stiefel. Der linke, der nun durch den Dolchwurf beschädigt worden war, reichte nur bis kurz unter das Knie und an dessen oberen Seite war ein metallener Schutz für dieses befestigt, in dem sich das Mondlicht spiegelte und ein weißes grelles Licht ausstrahlte. Der rechte Stiefel war um einiges größer, denn dieser endete in der Mitte ihres Oberschenkels. Zum Ausgleich für dieses so sonderbar erscheinende Schuhwerk, hatte sich Delu ein Lederband mehrmals um das linke Bein geschnürt, in dessen Seite eine kleine Metallscheibe eingearbeitet war. Des Weiteren verhüllte das übrige aus Leder gefertigte Kleidungsstück lediglich noch die nötigsten Körperstellen. Doch darüber trug sie stets einen langen Mantel, von dem man den Eindruck gewann, dass er jedes Licht, welches auf ihn schien, verschluckte und in seiner tiefen Schwärze gefangen hielt.

Delu bemühte sich in ihrer Nervosität ihr Haar zu bändigen. Noch immer gab es keine Spur von Verfolgern oder Angreifern, doch für sie bestand kein Zweifel, dass noch welche folgen würden, noch vor Sonnenaufgang und bis dahin blieb nicht mehr viel Zeit. Und sie sollte Recht behalten, denn schon nach einiger Zeit konnte sie mit viel Aufmerksamkeit leise Stimmen hören. Sie waren noch entfernt. Zunächst erschrocken, drehte sie sich herum und spähte hinaus in die Düsternis des Waldes bei Nacht, aber nichts war zu sehen – weder die Gestalten von bewaffneten Männern noch das flackernde Licht von Fackeln. Dennoch war sie sich ganz sicher, dass sie hier waren. Noch nie hatte sie sich in einem Geräusch geirrt, denn sie hatte sich das Schweigen und das Lauschen so gut antrainiert, dass es ihr unmöglich war auch nur den geringsten Laut zu überhören. Ihr Beruf hatte einen großen Preis eingefordert, doch sie fand sich damit ab und letztendlich stellte sich Zufriedenheit mit ihren Lebensumständen ein.

So leise es ihr möglich war, nahm sie ihren Bogen und Köcher und befestigte beides an ihrem Rücken. Danach nahm sie sich ihr langes Elbenmesser und brachte es an der dafür vorgesehenen Halterung an ihrem Gürtel an und verschwand so geräuschlos und wachsam wie ein beobachtetes Reh.

Legolas hatte seinen gespannten Bogen in der Hand und achtete auf jeden Schritt, den er vor sich setzte. Seine Männer standen zu seiner linken und rechten Seite und langsam kreisten sie den Platz vor sich ein, an dem ein steiler Hang nach oben führte, als wäre er als Stufe einer gewaltigen Treppe vorgesehen. Er hatte nicht zu befürchten angegriffen zu werden, denn er wusste schon, wo sich dieser Angreifer, der jedoch nun als Opfer schien, befand. Von weitem hatte er ein grelles Licht aufblitzen sehen und es war für ihn eindeutig zu erkennen gewesen, dass es nur von einem Stück Metall stammen konnte. Jeden seiner Schritte setzte er so gezielt, damit keines falls ein Laut an das Ohr des eingekreisten Opfers dringen konnte.

Das Einzige, was Legolas verspürte, war der rasende Zorn, die Trauer hatte sich schon zurückgezogen um für die mächtige Wut Platz zu schaffen, die sich vollends entfaltete. Die Wut übermannte ihn und legte sich auf sein ganzes Handeln. Er konnte nur daran denken, den Mörder Iocastes zu finden, ihn zu foltern und ihn qualvoll zu töten. Es war unglaublich, wie er nur zu einem solchen Gemütszustand kommen konnte, doch nur für ihn waren seine Gedanken zu rechtfertigen. Seine Augen blitzten hell auf vor Verlangen und Begierde den Mörder zu fassen, er würde ihn qualvoll töten, sofort wenn er ihn sah.

Erstaunlicher Weise hatte sich Legolas noch so weit unter Kontrolle, dass er nicht sofort losrannte um den Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Langsam und kontrolliert führte er seine Wachmänner an, denn er war ein erfahrener Krieger und niemals würde er es erlauben, dass diesem Frevler eine Flucht gelingen würde und wenn er ihn bis zur Küste Mittelerdes jagen müsste.

Der Prinz war nur mit wenigen seiner Männer weitergegangen. Den anderen hatte er den Befehl erteilt Iocaste zu seiner Heimatstadt zu bringen. Er wollte zurückkommen mit seiner Beute, dem Mörder, und wollte ihn bestrafen, wie er es verdient hatte, wenn er ihm nicht schon vorher den Todesschlag versetzt hatte. Er wollte ihn leiden sehen, so sehr wie er bei dem Anblick seiner toten Geliebten leiden musste. Sofort als Legolas wieder an dieses Bild denken musste, schnürte eine unsichtbare Macht seinen Hals zu und nahm ihm jegliche Luft, sodass er nach Luft schnappen musste. Seine Augen brannten ihn, doch keine Träne kam zum Vorschein. Er schüttelte sofort die aufkeimende Trauer ab und konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe.

Sie betraten schon die kleine Wiese, die sich direkt vor dem Steinhang befand und kamen immer näher auf den Strauch zu, hinter dem sie Delu vermuteten. Da ihre Formation einem Halbkreis glich, hatte einer der Männer einen guten Blick auf ihr Ziel, doch musste er feststellen, dass sich dort niemand befand. „Mein Herr, er ist nicht hier." wandte er sich an seinen Prinzen, und Legolas' Anspannung in seinem Körper legte sich sofort wieder. Er blieb vor Enttäuschung stehen, sah sich aber sofort um – um ihn herum war nichts zu erkennen, daher sah er fast aus Zufall nach oben. Er meinte einen Schatten auf der Anhöhe zu erkennen, wie ein langes Stück Stoff, das sich schnell von ihnen weg bewegte. „Dort oben!" rief Legolas mit seiner noch immer sanft klingenden Stimme den anderen zu und deutete dabei mit dem Finger auf die Anhöhe.

Delu erreichte gerade das Ende dieses steilen Hanges und konnte schon die Schritte der anderen unter sich hören. Der Wind in dieser Höhe wirkte mit einer enormen Geschwindigkeit auf ihren schmalen Körper ein und ließ ihre langen weiß-blonden Haare einen Tanz aufführen. Mit letzter Kraft konnte sie sich und das verletzte Bein nach oben ziehen. Als sie oben angekommen war, ließ sie sich kraftlos auf den Rücken fallen und legte sich die Hand auf die Brust, die sich schnell hob und senkte. Stoßweise atmete sie ein und aus und sie konnte spüren, wie ihr Blut in Wallungen geriet. Als sie sich etwas beruhigt hatte, drehte sie sich herum und sah über den Abhang hinab auf das, was sich unter ihr zutrug. Die Elben schienen sie nicht bemerkt zu haben. Schnell stand sie auf und lief davon, bevor man ihr noch auf die Spur kommen würde.

Als sie sich umsah, wo sie sich befand, musste sie feststellen, dass es eine grasbedeckte Ebene war, wo sich nur vereinzelt niedrige Bäume befanden. Sie sah direkt gen Osten und sah somit, wie sich der Himmel am Horizont von schwarz allmählich in ein blau färbte. Zwischen den Sträuchern und Bäumen breiteten sich Nebelschwaden aus und das Schwarz der Nacht wurde langsam zu einem dumpfen Grau. Auf den Blättern lagen kleine Tautropfen, in denen sich das fahle Licht der aufgehenden Sonne spiegelte. Morgendliche Kälte erquickte ihren halbnackten Körper, auf dem sich allmählich bleiche Gänsehaut bildete. Ratlos drehte Delu sich im Kreis und sah sich immer wieder um. Sie war ausgeliefert, hier oben würde sie niemals Schutz finden. Es half nur noch eines – schnelle Flucht.

Zwischen ihr und dem Abhang lagen nur wenige Meter und doch konnte sie unverkennbare Geräusche hören. Die Elben hatten sie bemerkt und hatten ihre Fährte aufgenommen. Ohne noch darauf zu hören, was sie sagten, rannte sie los – zwischen den Bäumen entlang und schlug zeitweise verwirrende Wege ein in der Hoffnung ihre Spur würde sich verlieren. Sie hatte gänzlich Recht behalten, denn sie fühlte sich nun nur noch wie ein gejagtes Tier.

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Gespannter Bogen – Bogen, an dem die Sehne befestigt ist.