Runaway
Delus kraftloser Körper trug sich mit all der Kraft, die er noch besaß, über die flache Ebene, auf der es keinen Schutz für die Jägerin gab. Ihr Fuß hatte ihr schon vor wenigen Stunden den Dienst verweigert und dennoch belastete sie ihn so stark es nötig war. Sie spürte unter ihrem schweren Stiefel das bebende Fleisch und die pulsierenden Adern, die durch den Dolch entzwei gerissen worden waren. Sie trug keinerlei Proviant bei sich, ihr Pferd hatte sie schon vor Tagen zu Schande geritten und der letzte Tropfen Wasser, der ihren Mund benetzt hatte, war Tage her. Ihr Magen verlangte unaufhörlich nach Arbeit und allmählich hatte sie das Gefühl, er würde ihre Kehle heraufklettern und ihr einen furchtbaren Erstickungstod bringen. Geschwächt von den erbarmungslosen Strahlen der Sonne, hatte sie ihren Körper nicht mehr unter Kontrolle und in einem Hauch von Unachtsamkeit stürzte Delu über einen spitzen Stein, der aus der Erde stach.
Ohne einen Schrei von sich zu geben, fiel sie zu Boden und blieb erschöpft liegen. Ihr Stiefel wurde an der Sohle durch die Scharfkantigkeit des Steines aufgerissen und ihr Zeh schien verletzt zu sein. Sie konnte spüren, wie er aufgerissen wurde und das Blut sich zu dem anderen mengte. Geschwächt richtete sie sich auf und warf dabei einen beängstigten Blick über ihre Schulter. Ihre Verfolger waren ganz nah, sie hatte keine Zeit zu verlieren.
Delu war eine Jägerin, keine Gejagte. Keinerlei Erfahrung teilte sie mit diesen Umständen, noch nie musste sie das Opfer sein, das sie für gewöhnlich jagte. Als sie sich mit der ihr verbleibenden Muskelkraft nach oben zog, wobei ihr Oberarm vor Schwäche zitterte, sah sie sich auf der endlos scheinenden Ebene um. Sie musste es irgendwie schaffen nach Süden zu laufen. Nur dort konnte sie jetzt noch Rettung erwarten – bei den Beorningern, die im mittleren Eryn Lasgalen lebten. Dort könnte sie versorgt werden und Schutz würde man ihr auch bieten.
Mühsam gelang es Delu in die Knie zu gehen, doch plötzlich zog ein Laut ihre Aufmerksamkeit auf sich. Blitzschnell drehte sie ihren Kopf in die Richtung, aus der die Verfolger ihr auflauerten. Sie hörte Schreie, man schien sie entdeckt zu haben. Sie hatte keine Zeit mehr – keine Zeit ihrer Schwäche freien Lauf zu lassen, sich von ihr unterdrücken zu lassen. An einem schmalen Zweig eines Strauches direkt neben ihr zog sie sich mit Mühe hoch und richtete sich mit stechenden Schmerzen im Fuß auf. Der treibenden Kraft ihres Willens zu überleben folgend , lief sie weiter, nun allmählich den Weg nach Süden einschlagend.
Wohin hatte man sie nur geschickt? Noch nie hatte man so schnell die Verfolgung aufgenommen, noch nie war sie so schlecht vorbereitet gewesen und noch nie hatte sie sich für ihr Leben so einsetzen müssen. Es hatte geheißen eine Elbe zu töten – schnell - präzise - ohne zu fragen, weshalb und wer sie war. Dagegen hatte Delu noch nie Einwände gehabt, doch wo befand sie sich nun? Auf einer kargen Ebene ohne Essen, ohne Trinken, ohne Rast und mit erbarmungslosen Verfolgern, die schneller aufholten, als sie davonlaufen konnte – nur noch der Wille zu überleben und die Hoffnung, dass dieser siegen würde.
„Mein Prinz, habt Ihr das gesehen?"
rief einer der Wachmänner verwirrt zu seinem Vorgesetzten.
„Das
habe ich." Den jetzigen Jägern wurde offenbart, mit wem sie es
zu tun hatten. Es war eine Frau. Eine Unsicherheit mischte sich unter
sie und ließ sie an ihrem Vorhaben zweifeln. Sollten sie eine
Frau töten? Doch noch bevor sie diese Frage aussprechen konnten,
ergriff sie wieder der Hass auf den Mörder Iocastes, der schnell
überdecken ließ, dass sie eine Frau zum Abgrund der
Erschöpfung trieben. Delu war für diese Männer nur
noch die Verkörperung ihres Hasses.
Unaufhaltsam rannten sie weiter um ihrer Beute in Hetze zu treiben, um sie nur leichter töten zu können. Legolas grinste höhnisch bei den Gedanken, dass dieser kleine dürre Körper am Ende seiner Kräfte war. Sie war verletzt, ihr Blut war die Grundlage für ihre Spurensuche, denn überall hingen Tropfen des wertvollen Lebenselixiers an den von der Sonne ausgetrockneten Grashalmen. Sie hatte keinen Proviant, keine Rast und rannte um ihr Leben. Sie hatten sie schon bis zum Sturz gebracht, es war nur eine Frage von Minuten bis sie sie endlich ergriffen und dann würde er diesem Mädchen zeigen, was wahre Schmerzen bedeuteten.
Ihre Beute trug sich dennoch tapfer weiter und jeder Schritt bedeutete noch mehr körperliches Leid, mehr Hunger, mehr Durst und mehr Verzweiflung. Ihre Hoffnung auf Rettung wurde immer kleiner wie der Abstand zwischen ihr und ihren Verfolgern, den diese verringerten. Benebelt von dem salzigen Geschmack in ihrer Kehle, die schon vertrocknet war, rannte sie mit geschlossenen Augen weiter und hörte das laute Pochen ihres schmerzenden Herzens. Der Hunger und die Schmerzen legten sich wie ein todbringender Schatten über ihr Haupt und ließen sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Es war ihr unbegreiflich, wo sie noch die Kraft hernahm weiterzulaufen, immerhin wurde sie schon seit über einen Tag verfolgt. Ein Tag, der ihr sämtliche Reserven genommen hatte und der niemals enden wollte, doch es war schon der nächste angebrochen, an dem alles fortfuhr, an dem nichts von Neuem begann, sondern nur weitergeführt wurde. Es war vielmehr ein langer Tag, seitdem Delus Pfeil der jungen Elbe ein Ende gesetzt hatte, denn die Nacht vermochte nicht mehr ein Ende zu sein, viel mehr die Hoffnung auf Rast, die ihr nicht gewehrt wurde.
Legolas hatte vor einer Stunde den Befehl zur Aufteilung gegeben. Er und einige seiner Männer liefen den Weg weiterhin, auf dem sie die Beute im Auge hatten oder zumindest ihre Spur, die nur aus ihrem Blut bestand. Die anderen hatten sich weiter außerhalb nach vorne gekämpft, ihren Prinzen dennoch im Sichtweite haltend um zu wissen, wo lang sie gehen mussten. Somit waren sie der Beute näher und bereit, es jeden Moment zu Falle zu bringen.
Ein Wachmann zu der linken Seite des Prinzen reichte diesem gerade etwas Proviant, da er selbst seit längerem keine Nahrung mehr zu sich genommen hatte. Als er seinem Magen das wohlwollende Gefühl der Fülle gewährte, musste er daran denken, wie seine Beute immer mehr dem Hungertod folgte, mit jeder Minute, die sie rannte, rannte sie dem Tod nur entgegen, egal, wie weit weg sie von ihm war. Würde er sie nicht persönlich töten, würde er dafür sorgen, dass es der Lauf der Natur für ihn tun würde. Er würde sie verfolgen, sie hetzen wie ein Tier, bis der Durst oder der Hunger ihre Seele von ihrem Körper trennen würde. Und dann wäre ihr lebloser Körper seine Beute und er würde ihr selbst im Tode keine Ruhe gönnen.
Die Schützin konnte allmählich das Ende dieser freien Ebene erkennen und vor ihrem Auge taten sich hohe Bäume auf, die für sie einem hölzernen Schutz bildeten. Hoffnung keimte in ihrem Blick auf, die die ungeheuerlichen Schmerzen vergessen ließ. Die Sonnenstrahlen prassten ohne Gnade auf den erschöpfen Körper der Frau hernieder und vernebelten ihre Sinne. Delu übermannte der Schwindel und die Bäume vor ihrem Auge begannen sich zu drehen. Sie nahm nicht einmal die Laute ihrer eigenen Schritte war, nur das eintönige Pochen ihres Herzschlages lag in ihren Ohren und er glich einem hämischen Lachen, das ihr zeigte, dass es für sie keine Hoffnung mehr gab. Auch ihre letzten Kräfte wichen aus ihrem abgemagerten Körper und die Ohnmacht erfasste die Jägerin und befreite sie somit von den Strapazen des Tages.
„Na wen haben wir denn hier!" hörte Delu eine schadenfrohe Stimme, bevor sie erneut die Kräfte verließen und sie zurück in die befreiende Ohnmacht fiel.
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Beorninger – Menschenvolk, das nach dem Ringkrieg in der Mitte des Eryn Lasgalen lebte, waren vor allem Vegetarier und Tierfreunde.
