One step closer
Das weiche Moos in Delus Gesicht war wohl das einzige wohlige Gefühl, das sie in diesem Moment nicht spüren wollte. Ein unglaublicher Schmerz durchzog ihr rechtes Bein und nahm ihr jede Kontrolle über ihren Körper. Das Gefühl von zerrissenen Adern und bebenden Fleisch wandelte sich zu einer fürchterlichen Übelkeit, die der leere Magen nur noch unterstützte. Sie spürte das warme Blut an ihrer Haut hinuntertropfen und Kälte umfing ihren halbnackten Körper. Sie konnte ihr Bein nicht bewegen, spürte nur den Schmerz, der wie tausend glühende Nadeln in ihr Fleisch stach. Es glich einer unglaublichen Folter der Bosheit und durch die aufkeimende Übelkeit bäumte sich ihr Körper auf. Vom Leid geplagt übergab sich Delu. Mit der einzigen Kraft, die sie noch besaß, da selbst ihr Adrenalinspiegel gesunken war, robbte sie wenige Meter weg von dem Ort, an dem sie zu Fall gebracht wurde. Erst jetzt sah sie, woher die heißen Stiche in ihrem Bein rührten – ein Pfeil, der am Knochen vorbei einen direkten Weg durch ihren Oberschenkel suchte. Die metallene Spitze kam an der Vorderseite wieder zum Vorschein und war mit ihrem Blut besudelt.
Hinter sich konnte Delu Schritte und Schreie hören. Es bestand keine Hoffnung mehr für sie, sie war gefangen. Wie konnte sie jetzt noch fliehen? Die ungeheuerliche Angst vor dem eigenen Tod bedeckte ihr Gemüt wie dunkle Regenwolken die Sonne und der Lebenswille war fast erloschen. Sie hatte keine Kraft mehr, die Reserven längst verbraucht. Zwei tiefe Wunden hinderten sie am Gehen, seit Tagen weder Essen noch Trinken zu sich genommen und trotz aller Strapazen war sie die letzten Tage ohne Pausen gerannt. Hier lag sie, endlich im schützenden Wald neben einem hohen Baum. Langsam stiegen Tränen in ihr auf, doch konnte sie erlauben, dass es so endete? Sie war immer eine Jägerin. Aber hatte eine Jägerin, die zur Gejagten wurde, keine Überlebenschance mehr? Wer wusste besser als sie, wie man jagte? Müsste sie nicht von allem am besten einen Ausweg aus dieser Situation kennen?
Ihre zitternde Hand legte sich behutsam an die Pfeilspitze. Die bevorstehenden Schmerzen erahnend schloss sie verängstigt die Augen und brach die Spitze mit einem Ruck vom Schafft ab. Schwer atmend biss sie sich auf die Unterlippe, wodurch die Haut durch den enormen Druck nachgab und ihr ein Tropfen Blut über das Kinn herabfloss, sich an ihren Hals schmiegend um sich in ihren Dekolleté zu verlieren. Noch einmal presste sie die Augenlider fest aneinander, denn sie durch einen schnellen Handgriff zog sie das Holz aus ihrem Oberschenkel, aus dem sofort Blut spritzte. Schnell warf sie den Schafft beiseite und riss sich ein Stück Stoff von ihrem wertvollen Mantel, das sie sich oberhalb der Wunde um das Bein schnürte, um somit den Blutfluss zu stoppen. Stoßweise atmete sie ein und aus und von ihr war nichts als ein erschöpftes Keuchen zu hören. Als sie bemerkte, wie sie das Fleisch abschnürte, riss sie sich einen größeren Teil von dem Mantel, mit dem sie die Wunde sorgfältig verband.
Delu hatte keine Zeit zu verlieren. An einem kleinen Ast zog sie sich hoch, doch noch immer geschwächt blieb sie an dem Stamm eines hohen Baumes gelehnt. Sie riskierte einen kurzen Blick auf das, was sich unmittelbar vor ihr zutrug. Gerade trafen sie Elben aufeinander und man versorgte zunächst den Mann, den sie am Hals verwundet hatte. Die Zeit war gekommen, sie musste schnell weiter, bevor man ihre Fährte aufnahm. Nachdem sie den ersten Schritt aufgesetzt hatte, verzog sie das Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse, doch mit Mühe konnte sie sich einen Schrei unterdrücken. Zu gerne hätte sie ihr Leid hinausgeschrieen, sodass jeder wusste, was man ihr antat. Dennoch gelang es ihr mit einem zurückgekehrten Überlebenswillen sich vorwärts durch den Wald zu kämpfen. Mehrmals noch sank sie nieder, blieb reglos liegen. Schwer lag ihr Atem, drohend zu versagen und ihr endlich die Erlösung zu bringen.
Es wurde immer dunkler um sie herum und nur mit Mühe konnten ihre Augen noch einen Weg ausfindig machen, weshalb sie sich beschloss, das erste mal nach Tagen zu rasten, vielleicht sogar Schlaf zu finden, aber so weit wollte sie noch nicht hoffen. Ihre verwundeten Gliedmaßen hatten es mehr als nötig Ruhe zu finden. Prüfend sah sie sich um und es schien ihr noch niemand zu folgen, doch der Schein trügte, das wusste Delu. Es würde nicht mehr lange dauern und dann wäre sie erneut von den Elben eingekreist. Für diese Nacht würde es nur ein Versteck geben, in dem sie sicher vor jeglichen Gefahren sein würde. Sie fasste den Beschluss sich auf einem Baum niederzulassen. Als sie vor einem gut geeigneten Rastplatz stand, kamen ihr Zweifel. War es ihr mit den Wunden überhaupt möglich auf einen Baum zu klettern oder dort sogar zu übernachten? Es gab nur ein Weg es herauszufinden. Delu zwang sich selbst die Schmerzen zu ignorieren und so konnte sie es schaffen auf den Baum zu gelangen – zwar nicht so hoch, wie sie den Ort sonst wählte, aber mehr war nicht möglich in ihrer Verfassung.
Seufzend lehnte sie sich an den Stamm und sah noch einmal kurz hinab zu dem Weg, auf dem sie bis eben noch gestanden hatte. Erst jetzt bemerkte sie die kleine Lichtung, die sich unmittelbar vor ihr befand. Ein kleiner Verdacht schlich sich in ihre Gedanken, die mehr und mehr zu Angst wurde. Die Möglichkeit bestand, dass auch die Gruppe von Elben rasten würde. Und wo war es besser möglich als auf einer Lichtung? Delu war zu erschöpft, als dass sie ihre Position noch einmal ändern würde. Der Platz schien ihr gut genug um endlich Ruhe zu finden und selbst für den Fall diesen Rastplatz gewählt zu haben, würde sie hier oben niemand vermuten.
Genießerisch schloss sie die Augen und seufzte noch einmal. Es würde nicht mehr lange dauern und das Reich der Träume würde sie erfassen, dort, wo es kein Leid gab, wo sie wieder frei durch die Länder streifen konnte ohne Befürchtung jemand würde ihr auflauern. Die Todesangst verschwand immer mehr und ein Frieden legte sich über sie. Doch bevor sie endlich den Schlaf ereilen konnte, vernahm sie ein knurrendes Geräusch von ihrem Magen. Noch immer hatte sie keinerlei Möglichkeit ihm Nahrung zu bieten, aber sie würde nicht mehr lange ohne durchhalten. Ratlos sah sie sich von ihrem Versteck aus um und sie kam nur zu einem Schluss. Etwas wehleidig riss sie mehrere Blätter von den umliegenden Zweigen ab und begann mürrisch daran zu kauen. Es war kein Festmahl und alles andere als schmackhaft, aber sie brauchte etwas für ihren Magen, auch wenn es Blätter sein mussten. Mit etwas Glück würde sie auch noch etwas anderes finden, aber für diese Nacht musste es ausreichen.
Nach einigen Minuten konnte sie vernehmen, wie schwere Schritte über den Waldboden führten. Ohne sich zu bewegen, spähte sie nach unten und bemühte sich in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Tatsächlich konnte sie sehen, wie sich Gestalten unter ihr bewegten, von denen sie jedoch nur schemenhafte Umrisse erkennen konnte. Langsam gingen sie voran und sahen sich sorgfältig um. Sie hatten ihre Spur gefunden, aber das war nicht verwunderlich. Schließlich klebte ihr Blut überall – Blätter, Gräser. Wie Delu befürchtete gingen sie auf die kleine Waldlichtung zu und ließen sich auch dort nieder. Ihr Herz schlug immer schneller aus Angst man würde sie noch finden. Die Jäger hatten es geschafft ihre Beute weiter zu verfolgen, denn so schnell würden sie auch nicht aufgeben.
