Crawling
Ein grausamer Tag neigte sich dem Ende, ein neuer begann, doch nichts war verändert. Alles ging unaufhörlich weiter und kein Ende war in Sicht. Die ersten Sonnenstrahlen erhellten das dichte Blätterdach des Waldes und vereinzelt nahmen kleine Strahlen den weiten Weg auf sich und schienen bis hinab zum Waldboden, wo sich ein wunderbares Schattenspiel abzeichnete. Eine wunderschöne Silhouette war zu sehen und alles erschien friedlich und gut, als Delu aus einem langersehnten Schlaf erwachte. Müde sah sie sich um und beobachtete das friedliche Geschehen im Wald. Sie konnte Grillen zirpen hören und von Weitem vernahm sie die Klänge von singenden Vögeln. Ein Lächeln legte sich über ihre sonst versteinerte Miene, als sie das leise Rauschen eines kleinen Baches ganz in der Nähe hören konnte, und sie spürte, wie trocken ihr Mund war – wie eine einzige Wüste, die nach Flüssigkeit schrie. Der Speichel wandelte sich immer mehr zu einer zähen Flüssigkeit, die sie nur mit Mühe herunterschlucken konnte. Ein widerlicher blanker und salziger Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus und vor Ekel verzog Delu das Gesicht.
Fast beiläufig warf sie einen Blick auf die moosbedeckte Waldlichtung unter ihr und vor Schreck wich sie mit einem Laut des Entsetzens zurück. Sie hatte schon vollkommen vergessen, dass die Elben noch letzte Nacht hier eingetroffen waren. Alle saßen sie im einer Art Kreis, der eher zufällig entstand als gewollt. Sie schienen sich zu beraten und nur Wortfetzen drangen bis zu ihr hinauf. Zunehmends wurde sie wacher und auch alle Erinnerungen kamen zurück. Wehleidig sah sie zu ihrem Bein hinab, dass sie senkrecht nach unten hängen ließ. Der Stoff war vom Blut getränkt und es schien taub vor Schmerzen zu sein. Sie konnte einen ungeheuerlichen Druck spüren, der auf die Wunde einwirkte und am Rand sah sie, wie sich die Haut blau färbte und anschwoll. Sie presste fest die Zähne aneinander, als die den provisorischen Verband richten wollte. Die Wunde sah alles andere als gut aus. Delu bezweifelte, dass sie auch nur noch einen Tag lang auf den Beinen bleiben konnte. Es glich an ein Wunder, dass sie überhaupt so lange durchhalten konnte, aber wie lange konnte sie ihren Körper das alles noch zumuten?
Legolas saß gedankenverloren etwas abseits von seinen Männern. Sein Geist verweilte schon seit Minuten nicht mehr hier. Er hatte eine lange Reise auf sich genommen in die Vergangenheit und in andere Länder. Vor seinem geistigen Auge sah er glückliche Zeiten mit Iocaste, wie sie gemeinsam durch die blühenden Gärten seines Vaters gegangen waren. Lächelnd erinnerte er sich, als sie das erste mal miteinander getanzt hatten. Sie trug ein dunkelblaues Kleid, die Schamröte stand ihr im Gesicht. Sie war so nervös mit dem Prinzen zu tanzen. Schon damals war für Legolas klar: Sie war für ihn bestimmt, es stand nie außer Frage. Mit ihr erlebte er das vollkommene Glück. Sie war anders als alle anderen. Nicht einfältig oder wie ein kleines naives Mädchen. Nein, sie war klug, außerordentlich mutig und weise. Sie hatte alles, was Legolas an einer Frau schätzte. Gerade sah er vor sich, wie er eines Nachts in ihr Haus einstieg. Sie stand oben an der Treppe und ihr klares Lachen war im ganzen Haus zu hören, als sie mit ansah, wie er ihren Vater einen furchtbaren Schock einjagte. Doch plötzlich wandelte sich dieses fröhliche Gesicht in ein bleiches lebloses. Jede Farbe wich aus den rosigen Wangen und ihre Augen bekamen einen ausdruckslosen Glanz. Dieses Bild wandelte sich zu einer in schwarze Kleider gehüllte Frau, die auf eine Art Altar lag, die Hände über die Brust gefaltete – der Geist weit weg vom Leben. Aus Legolas' Lächeln wurde schlagartig ein Ausdruck von Trauer und erneut wollten Tränen in ihm emporsteigen, als er plötzlich zurückgerissen wurde.
Plötzlich konnte man ein Knarren vernehmen. Synchron starrten alle auf einen nahgelegenen Baum. Die Augen des Prinzen weiteten sich und er schrie abrupt: „Ergreift sie!" Dabei stand er blitzschnell auf und packte seine Waffen.
Delu hatte beschlossen zu fliehen, bevor man sie noch per Zufall sehen würde. Mit größter Anstrengung ließ sie sich am rauen Stamm des Baumes herunter, doch plötzlich krampfte sich alles in ihr zusammen. Die Sehen spannten sich zum Zerreißen an. Sie hatte sich unaufmerksam an einem kleinen Zweig festgehalten, der mit einem lauten Knacken zerbrach. Sie war nur zwei Meter über dem Erdboden, doch es war zu hoch um sich schnell fallen zu lassen, was die einzige Möglichkeit gewesen wäre, nun noch schnell eine Flucht einzuschlagen. Ehe es ihr gelang einen Blick hinter sich auf die Lichtung zu werfen, hatten sie die Elben schon erreicht. Ein heißkalter Schauer der Vorahnung durchzog ihren Körper und eine Gänsehaut breitete sich auf der glatten Haut aus.
Ein besonders großer Elb hatte den Baumstamm schon erreicht, an dem sie sich nicht mehr rührte. Er sah, wie sich seine Beute verkrampft an einem Ast festhielt und die Augen geschlossen hielt. Ohne Rücksicht auf sie zu nehmen, ergriff er ihren Mantel und mit enormen Kraftaufwand riss er sie herunter. Mit einem lauten Aufprall kam sie auf einer aus dem Boden stechenden Wurzel auf. Ein lautes Knacken einer ihrer Rippen war zu hören und vor Schmerz verzerrte sie ihr Gesicht. Der Mann beugte sich sofort über sie und bedrohte sie mit seinem Messer. Delu schnaufte nur einmal kurz und sah dann auf zu dem selbstgefälligen Grinsen des Mannes über ihr. Noch bevor sie sich umsehen konnte, spürte sie plötzlich einen kräftigen Tritt in ihren rechten Brustkorb. Erneut war ein Knacken zu vernehmen und das erste mal schrie Delu laut auf. Sie war so ungünstig gefallen, dass sich nicht nur die Wurzel in ihren Rücken bohrte, sondern auch das massive Holz ihres Reiterbogens. Schnaufend lag sie auf der Seite und öffnete ungläubig die Augen wie eine Blinde, die sich versichern wollte, wirklich nichts sehen zu können. Sofort umgriff eine Hand ihren Arm und packte so stark zu, dass Delu spüren konnte wie ihre Adern zusammengequetscht wurden. Mit einem unglaublichen Ruck wurde sie nach oben gezogen und als sie zum Stehen kam, fand sie sich direkt an der Brust eines Mannes wieder. Sie war so klein, dass ihr Blickfeld nicht einmal bis zu seinem Hals genügte. Verstohlen sah sie auf und sah in das hasserfüllte Gesicht des Prinzen. Aus eigener Macht konnte sie nicht stehen, hätte er sie nicht so fest umklammert, wäre sie sofort wieder in sich zusammengefallen. Legolas sah sie nicht an, warf sie nur sofort in einem hohen Bogen in Richtung der Lichtung, auf der sie übernachtet hatten.
Sofort kam ein Elb auf das wehrlose Opfer zu und band ihr einen dicken Strick um die Handgelenke. Delu war nicht einmal fähig sich zu rühren, geschweige denn ihren Kopf zu heben. Ihre Rippen schmerzten und ein stechender Schmerz durchzog ihre Lunge. Japsend versuchte sie Luft zu schnappen, was sich als schwieriger erwies, als sie zunächst dachte. Von Schmerzen niedergestreckt war es ihr nur ab und zu möglich ihre Augen noch offen zu halten. Als sich jedoch jemand vor sie stellte und sich zu ihr hinunterbeugte, riskierte sie kurz ein Blick aus müden Augen. Es war der Prinz. Er lächelte sie hämisch an. „Männer, wir können in die Heimat – unsere Beute präsentieren.", gab er freudig von sich. „Ich danke dir, dass du es uns so einfach gemacht hast. Ist wohl doch weniger an dir dran, als man denkt, Mädchen.", sagte er abwertend. Aber um ihren Stolz nicht zu verlieren, setzte sich Delu auf und sah ihn hart an. „Und ich bedanke mich für die quälenden Schmerzen, meine zwei Löcher im Bein und den gebrochenen Rippen." Die Jagd war vorbei, Delu gefasst und der erste Leidensweg zu Ende – doch weitere würden folgen.
