Sirius Black und der Wächter des Reinen Blutes
Drittes Kapitel
Der völlig ratlose Hut
Beinahe hätte Sirius, der ganz und gar in seinen Gedanken versunken war und einfach nur seine neue Freiheit in vollen Zügen genoss, vergessen, den anderen Schülern nach drinnen zu folgen.
Das hätte verheerende Folgen haben können, da er sich in diesem Schloss überhaupt nicht auskannte. Er hätte sich somit wohl gleich schon in der riesigen Eingangshalle verlaufen, deren steinerne Mauern von Fackeln erleuchtet wurden.
Die übrigen Schüler schienen allerdings keinerlei Probleme zu haben, sich dort zurechtzufinden. Sirius war der einzige Erstklässler unter einer Menge älterer Schüler, die allesamt schon ein oder mehrere Jahre auf Hogwarts verbracht hatten. Sie durchquerten sogleich zielstrebig die Eingangshalle und steuerten geschlossen auf die Große Halle zu.
Mit einem Blick nach oben zur Decke, stellte Sirius fest, dass die Decke anscheinend so verzaubert war, dass sie das Wetter draußen imitierte; jedenfalls zogen dicke Wolken an ihr entlang und der »Himmel« hatte eine dunkelblaue, fast schwarze Farbe angenommen.
Unter dem Himmel war die Große Halle von unzähligen Kerzen erleuchtet, welche hoch über den Köpfen der hereinströmenden Schüler in der Luft schwebten. Hier und da tat sich ein Geist durch seinen silbernen Schimmer aus der Schülerschar hervor, weil sich dessen seltsam durchsichtiges Weiß gegen den finsteren Nachthimmel abhob.
Einen Atemzug lang spielte Sirius mit dem Gedanken, sich einfach irgendwo dazuzusetzen, aber dann stellte er sich doch mit verschränkten Armen neben die Tür, wo er auf die anderen Erstklässler wartete, die vermutlich noch durch den Regen schipperten.
Alle anderen Schüler verteilten sich unterdessen auf die vier Tische und als das Gemurmel allmählich abflaute, erhob sich am Lehrertisch ein Mann mit langem, weißem Haar und Bart und einer halbmondförmigen Brille, die auf seiner überaus krummen Nase saß.
Das musste Albus Dumbledore, der Schulleiter sein. Er wartete, bis auch noch die letzten Schüler, die von ihren Ferien erzählten, verstummt waren, um mit seiner Rede zu beginnen, deren Inhalt sich über die Jahre hinweg kaum geändert hatte und es auch nicht mehr tun würde.
»Willkommen zurück in Hogwarts, meine Lieben.«
Sein Blick schweifte über die ungeduldige und hungrige Schülerschar und blieb für den Bruchteil einer Sekunde mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck an Sirius hängen.
»Professor McGonagall wird jetzt die Erstklässler zur Auswahlzeremonie hereinführen.«
Der Augenblick war verstrichen und gleich darauf war sich Sirius nicht mal mehr sicher, ob Dumbledore ihn tatsächlich bemerkt hatte. Vielleicht hatte er sich das nur eingebildet, da sein Unterbewusstsein sich doch ein klein wenig schuldig fühlte, weil er nicht bei den anderen Neuankömmlingen geblieben war.
Nachdem Albus Dumbledore mit seiner kleinen Ansprache fertig war, lächelte der Schulleiter augenzwinkernd in die Runde und ließ sich wieder auf seinem Platz nieder.
Sogleich öffneten sich die zwei großen Torflügel abermals und eine streng aussehende Lehrerin mit Dutt und viereckiger Brille führte eine lange Schlange Erstklässler herein, die sich teils verunsichert, teils staunend umsahen.
Unauffällig reihte sich Sirius am Ende der patschnassen Schüler ein. Draußen musste sich der Regen noch verstärkt haben, denn sie waren ausnahmslos bis auf die Knochen durchweicht!
»Wo warst du denn bloß? Professor McGonagall hat dich schon vermisst«, zischte Remus ihm zu, während er die verzauberte Decke begutachtete, an der sich graue Wolken entlang schoben.
»Was geht dich das denn an?«, gab Sirius unfreundlich zurück.
Er stellte fest, dass James, Remus und Peter nun nicht mehr wie Kletten aneinander klebten. Im Zug hatte er schon gedacht, dass die drei gar nicht mehr voneinander loskommen würden.
Soeben hatten sie die Tafel, an der die Lehrer saßen, erreicht und Professor McGonagall – Sirius hatte sie im Geiste schon ›Die Schreckschraube‹ getauft – stellte einen dreibeinigen Hocker, gut sichtbar für alle, vor dem Lehrertisch auf.
Darauf lag ein schäbiger, alter Hut, der zwar schon mehrmals geflickt worden war, aber dennoch sehr zerrissen aussah. Also hatte Malfoy doch nicht gelogen, als er meinte, ein Hut würde bei der Auswahl eine gewisse Rolle spielen.
Gegen seinen Willen neugierig betrachtete Sirius den alten Zaubererhut und wartete, genau wie alle anderen, gespannt ab, was geschehen würde. Wie konnte ein Hut – noch dazu ein so hässlicher, heruntergekommener, alter – eine solche Entscheidung treffen? Und vor allem wie sollte er das anstellen? War er vielleicht irgendwie verzaubert?
Wie um auf diese Frage zu antworten, öffnete sich nun ein Riss im Hut und überraschenderweise begann er mit einem Singsang, dem alle Schüler gebannt lauschten:
»Slytherin, Gryffindor, Hufflepuff und Ravenclaw,
stellen hier meine Aufgaben dar.
Es stehen zur Auswahl mir
dieser Häuser vier.
Auf die muss ich euch verteilen,
wie es mir die Gründer einst als Pflicht erteilten…«
Was der Sprechende Hut von der Gründung Hogwarts', den verschiedenen Häusern und seiner Aufgabe erzählte, kümmerte Sirius herzlich wenig und so bekam er von diesem albernen Lied nicht mehr viel mit, denn er musterte stattdessen lieber gelangweilt den Lehrertisch.
Sein Blick schweifte über die mehr oder weniger passiven Gesichtsausdrücke der Lehrer und blieb schließlich an Dumbledore hängen.
Während er ihn abschätzend musterte (»Hm, wie viele Dummheiten lässt er mir wohl durchgehen?«), sah Dumbledore ihn plötzlich an.
Diesmal bestand kein Zweifel, dass die stechend blauen Augen auf ihn fixiert waren. Auf dem Gesicht des Direktors lag ein ebenso abschätzender Ausdruck (Wahrscheinlich fragte er sich eben, wie viele Dummheiten Sirius wohl machen würde).
Sirius rümpfte die Nase (»Nicht viele.«), Dumbledore tat es ihm gleich (Was Sirius zeigte, dass er verstanden hatte, wie viele Dummheiten er anstellen würde).
Der Junge runzelte die Stirn (»Ob ich ihn noch umerziehen kann?«), Dumbledore tat das ebenfalls (Vielleicht fragte er sich, ob er ihn noch erziehen konnte).
Schließlich wandte sich Sirius uninteressiert ab (»Nein. Viel zu altmodisch dafür«), in derselben Sekunde, in der Dumbledore ebenso seine Aufmerksamkeit wieder dem Hut widmete (Nein.).
In dem Moment brach ein Beifall unter den Schülern und Lehrern aus, der Sirius sagte, dass der Fetzen von einem Hut wohl sein dämliches Lied endlich beendet hatte. Und in der Tat, der Sprechende Hut lag nun wieder völlig reglos auf dem dreibeinigen Hocker, als hätte er nie gesprochen.
Als Sirius schließlich doch in den Applaus mit einstimmte, klatschten nur noch wenige in der Großen Halle. Teilnahmslos erhob er seinen Blick erneut zum Lehrertisch, doch Dumbledore hatte sich nun der Auswahlzeremonie zugewandt, die gerade begonnen hatte, und auch die anderen Lehrer nahmen keinen Blickkontakt mit ihm auf.
Wieder klatschten einige Schüler, diesmal – wie Sirius feststellte – nur die des mittleren Tisches und Sirius hörte, wie die Schreckschraube im nächsten Augenblick seinen Namen von einer Pergamentrolle vorlas: »Black, Sirius.«
Sirius nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie einige Schüler sich bedeutungsvolle Blicke zuwarfen, sodass er sich zum Slytherin-Tisch umdrehte, wo schon seine Cousinen Bellatrix und Narzissa saßen. Sicherlich dachten alle Schüler und vermutlich auch Lehrer, dass er, als Black, in wenigen Sekunden ebenfalls mit an jenem verhassten Tisch sitzen würden.
Etwas unsicher trat er vor, da er eigentlich nicht die geringste Ahnung hatte, was er tun sollte. Schließlich hatte er die Anweisungen nicht mitbekommen, die der Hut oder die Schreckschraube oder wer auch immer den andern wahrscheinlich gegeben haben muss.
Das Mädchen, das vor ihm auf dem Hocker gesessen hatte, drückte ihm den Hut in die Hand, bevor sie glücklich zum Ravenclaw-Tisch eilte, wo sie freudig in Empfang genommen wurde.
Sirius ließ sich auf den Hocker nieder und glotzte in die Menge; alle Augen waren nun auf ihn gerichtet. Als er seinen Blick so über die erwartungsvollen Gesichter schweifen ließ, fiel ihm in der ersten Reihe am rechten Tisch ein Junge auf, der ständig eine seltsame Bewegung machte, als würde er sich etwas über den Kopf stülpen. Sirius erkannte in ihm den Vertrauensschüler, mit dem er schon im Zug beinahe aneinander geraten wäre.
Plötzlich ging Sirius ein Licht auf: Er sollte sich den Hut auf den Kopf setzen! Allmählich kam ihm das alles sehr merkwürdig, um nicht zu sagen lächerlich vor. Wozu sollte er so einen alten Lumpen aufsetzen! Aber trotz allem tat er dem Vertrauensschüler den Gefallen und befolgte seinen Rat.
Der Hut rutschte ihm, sobald er auf dem Kopf saß, sogleich bis über die Augen, verdeckte ihm somit gänzlich die Sicht und alles wurde schwarz um ihn herum.
Jäh vernahm er überraschend eine leise Stimme in seinem Ohr: »Hmmm, das ist schwer… Du hast die Begabung für alle vier Häuser…«
Sirius traute seinen Ohren nicht ganz. Wollte dieser Hut ihn auf den Arm nehmen? Selbstverständlich würde er nach Slytherin geschickt werden! Dennoch fuhr er ihn vorsichtshalber laut an: »Wehe, du steckst mich nach Hufflepuff!«
Er hörte von außen gedämpftes Gelächter, doch das war ihm egal. Würde dieser Fetzen ihn tatsächlich nach Hufflepuff schicken, so würde er den nächsten Zug nach Hause nehmen! – Allerdings war das unmöglich! Der Hut wollte ihn einfach nur etwas zappeln lassen, bevor er ihn nach Slytherin schicken würde!
Das Gelächter draußen erstarb allmählich und die leise Stimme fuhr etwas pikiert fort: »Es reicht schon, wenn du dir deine Antworten denkst, ich kann all deine Gedanken in deinem Kopf lesen. – Hmm, damit haben wir noch immer drei Häuser übrig. Es ist wirklich sehr schwer bei dir… du bist schlau und mutig ja – aber etwas Macht würde dir auch nicht schlecht stehen… Slytherin wäre dafür sehr geeignet…«
›Könntest du dich vielleicht mal entscheiden?‹, dachte Sirius genervt.
Langsam wurde es draußen in der Halle unruhig und Sirius hatte keine Lust, länger als unbedingt notwendig vor allen anderen im Saal auf diesem Stuhl zu sitzen, wie auf einem Präsentierteller, nur weil der Hut ein Spielchen mit ihm treiben wollte. Als ob der nicht sofort gewusst hätte, dass Sirius als ein Black – eine der ältesten reinblütigen Zaubererfamilien – nach Slytherin gehörte!
»Aber wie soll ich dich in eines der Häuser einteilen, wenn du für alle die Begabung hast?«, fragte sich der Hut.
›Zähl doch einfach aus‹, dachte sich Sirius.
»Nun gut… sag eine Zahl zwischen eins und drei…«, flüsterte die Stimme in seinem Ohr.
›Sieben‹, antwortete Sirius sarkastisch in Gedanken.
»Dann also… GRYFFINDOR!«
Gryffindor? Erst nach ein paar Sekunden war das Wort zu ihm durchgedrungen. Aber das konnte nicht sein! Hatte der Hut wirklich ›Gryffindor‹ in die Große Halle geschrien? Dieser dämliche Hut hatte doch wahrhaftig ausgezählt!
Allmählich wurde Sirius gewahr, dass er noch immer auf dem Stuhl saß, den Hut weit über den Kopf gezogen, vor sich nichts als Schwärze und so nahm er sich den Hut endlich hastig ab.
Doch diesmal blieb es stumm in der Großen Halle. Niemand klatschte, so wie beim Mädchen zuvor, das vor ihm nach Ravenclaw gekommen war, und so wusste Sirius auch nicht sofort, zu welchem Tisch er hingehen sollte. Also blieb er einfach vor dem Hocker stehen und wartete weitere Anweisungen ab.
Ein paar Sekunden lang war es unheimlich still und das bei der riesigen Anzahl Schüler in nur einem, wenn auch sehr großen Raum.
Dann fingen die Schüler – besonders die am Slytherin-Tisch – an zu tuscheln. Sirius sah durch das Meer aus Köpfen Bellas vorwurfsvollen Blick und Malfoys höhnisches Grinsen.
Noch bevor der Lautstärkepegel wieder zu stark anhob, meinte ein streng aussehender Geist vom Slytherin-Tisch, der perlweiß schimmerte und der über und über mit silbrigem Blut bespritzt war, laut und mit einer Stimme, die einem das Herz stocken ließ: »Gryffindor? – Er ist nicht in Slytherin, der kleine Black!«
Langsam schienen auch die Lehrer ihre Fassung wieder gefunden zu haben, denn mehrere reagierten zur selben Zeit. Ein hoch gewachsener Mann rief Sirius vom Lehrertisch durch die zunehmende Lautstärke der empörten Rufe zu, dass der Gryffindor-Tisch der ganz Linke sei; McGonagall las laut den nächsten Namen auf ihrer Liste vor, als wäre nichts geschehen und Dumbledore selbst hatte sich wieder erhoben und antwortete dem Geist ruhig: »…Offensichtlich…«
– Urplötzlich kehrte gespannte Stille ein. Sirius war sich nicht sicher, ob er vielleicht einfach zum linken Tisch hinüber gehen sollte, so wie ihm der Lehrer geraten hatte, oder ob er erzählen sollte, dass der Hut nur gelost hatte, oder ob er lieber zum Slytherin-Tisch gehen sollte…
Außerdem war er sich unschlüssig, ob es ein gutes Zeichen, war, wenn sich der Schulleiter persönlich einmischte… Er hoffte doch, dass kein Missverständnis vorlag. Obwohl er eigentlich nur darum beten konnte, schließlich würden seine Eltern durchdrehen, wenn sie erfuhren, dass er nicht in Slytherin war. Er war sowieso schon die Schande der Familie, da brauchte er nicht auch noch das!
»– Offensichtlich hat der Sprechende Hut beschlossen ihn nach Gryffindor zu schicken, also wird er seine Gründe dafür gehabt haben, es sei denn, jemand will seine Autorität des Sprechenden Huts in Frage stellen.«
Dumbledore nickte Sirius zu, sich an seinen Tisch zu begeben, doch dieser blieb stocksteif stehen, denn obwohl der Schulleiter in einem bestimmten Tonfall gesprochen hatte, der die Diskussion abschließen sollte, erhob das Gespenst abermals die krächzende Stimme:
»Bei allem Respekt gegenüber dem Sprechenden Hut… das muss ein Irrtum sein. Der Hut hat einen Fehler gemacht!«
Nun mischte sich auch die Schreckschraube mit ein: »Seien Sie nicht albern, der Hut macht nie einen Fehler!« Sie legte Sirius von hinten die Hand auf die Schulter und drückte ihn sanft aber bestimmt nach vorne, damit er sich endlich an den Gryffindor-Tisch setzte.
»Er muss den Hut noch mal aufsetzen, das ist doch klar wie Veritaserum«, rief einer der Slytherins rein, doch da Professor McGonagall den Druck auf Sirius' Schulter verstärkte, setzte dieser sich schließlich in Bewegung zum Gryffindor-Tisch und Professor McGonagall verlas weiter die Namen von der Schülerliste, jegliche Aufregung unter den Schülern ignorierend.
… Und er hatte in seinem Koffer den Schal und Umhang in den Farben Slytherins, toll! Sirius ließ sich gegenüber dem Schüler nieder, der ihm wild gestikuliert hatte und den er schon als ›übereifrigen Vertrauensschüler‹, kurz ›ÜV‹ (was zudem auch ›überflüssiger Versager‹ heißen konnte), abgestempelt hatte.
»Sag mal, wieso hat das denn bei dir so lange gedauert, bis du verstanden hast, dass du den Hut aufsetzen musst?«, fragte ihn sein Gegenüber jetzt, zweifellos um ein möglichst belangloses Thema zu finden, das nichts mit dem eben vorgefallenen zu tun hatte.
Sirius musste sich insgeheim eingestehen, dass er auch nie erwartet hatte, in ein anderes Haus als Slytherin zu kommen, weshalb er die Reaktion der anderen Schüler vielleicht sogar ein klein wenig verstehen konnte. Wie James dachten sie natürlich alle, dass er als vermeintlicher Schwarzmagier auch logischerweise nur in das Haus der schwarzen Magier kommen würde…
Er bemühte sich mit fester Stimme zu sprechen, dennoch zitterte diese ein wenig, als er dem Vertrauensschüler antwortete: »Na, denkst du, ich hör dem alten Fetzen zu?«
Teilnahmslos wandte sich Sirius wieder der Auswahlzeremonie zu, die bereits zum Buchstaben ›E‹ fortgeschritten war. Er hörte nur noch, wie der Hut »SLYTHERIN« rief und anschließend, noch während der Tisch am anderen Ende der Halle in Beifallsströme ausbrach, ein Mädchen namens »Evans, Lily« aufgerufen wurde. Sirius verdrehte die Augen und hoffte nur inständig, dass sie nicht nach Gryffindor käme.
»GRYFFINDOR«, schrie da der Hut und Sirius war schon in Versuchung wieder nach vorne zu stapfen und seine Meinung noch mal zu ändern, doch schon war der nächste Junge auf dem Stuhl.
Sirius hörte nicht weiter zu, doch musste er sich dabei ertappen, wie er aufhorchte, als Remus' Name fiel. Der Junge in den schäbigen Kleidern nahm auf dem Hocker Platz und ließ sich den Hut auf den Kopf fallen. Es dauerte nicht lange, bis der Hut abermals »GRYFFINDOR« rief.
Lächelnd trat Remus unter dem Applaus der Gryffindors auf Sirius zu und sagte, als er sich neben ihn setzte freundlich: »Doch nicht Slytherin, was?«
»Doch nicht Ravenclaw, was?«, entgegnete Sirius schnippisch, der im Grunde genommen überhaupt keine Lust hatte, sich mit diesem heruntergekommenen Lupin abzugeben.
Inzwischen waren sie bei ›P‹ angelangt und »Pettigrew, Peter« setzte sich auf den Hocker. Es bestand kein Zweifel daran, dass der nach Hufflepuff kommen würde.
Umso mehr war Sirius negativ überrascht, als Peter ebenfalls nach einem Gryffindor-Ruf stolz auf sie zu marschierte. Schnell belegte Sirius den freien Platz neben sich, sodass Peter sich an das andere Ende des Tisches setzten musste.
In Sirius' Augen war es fast noch unglaublicher, dass Peter nicht in Hufflepuff war, als die Tatsache, dass er selbst nicht nach Slytherin gekommen war.
Nach Peter kam gleich »Potter, James«, der ebenfalls nach einem GRYFFINDOR-Schrei entlassen wurde. Na klasse, jetzt war er auch noch mit dem in einem Haus!
Sirius machte keine Anstalten, seine Beine von seinem Nachbarstuhl zu nehmen, als James auf ihn zukam, aber dieser schubste Sirius' Füße nur runter und setzte sich neben ihn, da fast alle anderen Plätze schon belegt waren.
Daraufhin wurden noch »Rosier, Evan« und »Snape, Severus«, der Junge mit der Hakennase, mit dem Sirius sich am Ende ein Abteil geteilt hatte, zu Slytherins gemacht und ein paar Mädchen, deren Namen Sirius nicht mitbekam, wurden auf Hufflepuff und Ravenclaw verteilt.
James, der Sirius gar nicht beachtete, unterhielt sich eben angeregt mit einem anderen neuen Gryffindor-Jungen, während Remus sich beim übereifrigen Vertrauensschüler erkundigte, was man im ersten Jahr auf Hogwarts so alles lernte, als sich Dumbledore endlich wieder erhob.
»Bevor wir unser Fest beginnen noch ein paar wichtige Ansagen: Ich fasse mich kurz: Kein Betreten des Verbotenen Waldes auf den Schlossgründen, kein Zaubern auf den Gängen zwischen den Stunden, kein Herumschleichen nach acht Uhr.
Sirius kam es die ganze Zeit so vor, als wäre Dumbledores Blick fest auf ihn gerichtet gewesen.
»Für die älteren Schüler gilt dieselbe Regelung, natürlich mit neun Uhr. Die weiteren Schulregeln können beim Hausmeister…«
Sirius stierte hungrig auf seinen leeren Teller. Was Dumbledore über Schulregeln zu sagen hatte, ging ihn nun wirklich nichts an! Er hatte Heißhunger; er wollte einfach nur noch essen! Doch auf dem ganzen Tisch standen weder Schüsseln, noch sonstige Dinge, die auf Speisen hinwiesen. Allein die leeren goldenen Teller und Kelche standen bereit, als warteten auch sie darauf, dass das Festessen endlich begann.
»…Guten Appetit!«
Augenblicklich schreckte Sirius wieder aus seinen Grübeleien hoch. Das Essen, das auf einmal wie von selbst auf den goldenen Tellern erschien, verdrängte sämtliche Gedanken aus seinem Kopf, ob sie sich nun um Schulregeln drehten oder um Slytherin.
Er füllte seinen Teller mindestens dreimal nach, wobei er Potter ebenso gründlich ignorierte, wie der ihn, bis die Teller leer wurden und der Schulleiter sie in ihre Schlafsäle schickte.
Sirius wollte sich eben schwerfällig zum ÜV begeben, der nach allen Erstklässlern rief, da höhnte eine ölige Stimme hinter ihm: »Gryffindor? – Du bist dir auch für nichts zu schade, Black!«
Genervt drehte sich Sirius zu Malfoy um, der ihn, von seiner üblichen Gang umrundet, herablassend musterte.
»Diesen Verrat wirst du noch bereuen, Baby Black«, zischte auch Bellatrix, doch Sirius war klar, dass sie hier in dem Tumult der aufbrechenden Schülerschar direkt vor den Nasen der Lehrer nichts ausrichten konnten und so spottete er:
»Weißt du, das war ja mal 'ne Drohung, davon hab ich jetzt richtig Angst bekommen, Cousinchen«, bevor er sie stehen ließ, um sich dem Pulk der Gryffindors anzuschließen, die vom ÜV angewiesen wurden ihm quer durch das Treppenhaus zu folgen.
In der Mitte der dritten Treppe meinte der ÜV warnend: »Passt auf, das hier ist eine Trickstufe!«
Alle Schüler sprangen darüber. Als Sirius, der ganz hinten lief, die Trickstufe erreichte und hinüber sprang, ignorierte er dabei einfach kalt den feststeckenden Peter.
»Hilfe! Helft mir hier raus«, zeterte dieser unterdessen.
Von den Gryffindors drehten sich einige um, doch nur Remus fasste sich ein Herz, um seinem Mitschüler zu helfen. Er eilte zurück und packte den tollpatschigen Jungen an einem Arm.
Dieser steckte allerdings zu tief in der Stufe fest, weshalb Remus rief: »He, Sirius, kannst du mir hier mal helfen?«
Seufzend wandte sich Sirius um und zeigte ihm den Vogel. Derzeit hatte James ebenfalls bemerkt, dass die drei zurückgeblieben waren und rief zu ihnen hinunter: »Wo bleibt ihr denn? Ihr verpasst den Anschluss!«
»Kannst du mir nicht wenigstens helfen, Peter hier raus zu ziehen?«, fragte Remus zurück.
Verärgert stapfte James die Treppen wieder hinab. Im Vorbeigehen rempelte er Sirius an, der schulterzuckend den übrigen Gryffindors folgte.
Als er schon fast am Ende der Treppe angekommen war, konnte er sich nicht zurückhalten, die drei aufzuziehen, indem er James nachäffte: »Hey, Leute, ihr verpasst den Anschluss!«
Doch das war eindeutig zuviel für James. Noch bevor Remus ihn diesmal zurückhalten konnte, stürzte er die Treppe hoch auf Sirius zu, der die Flucht ergriff. Ohne auf den Weg oder die anderen Gryffindors zu achten, rannte er einige verworrene Gänge entlang, bis er in einer Sackgasse atemlos stehen bleiben musste.
Ehe er etwas sagen konnte, war ihm James schon an die Gurgel gesprungen und schüttelte ihn wie wild.
»Hee…«, röchelte Sirius heiser, »Warte mal…«
»Warum sollte ich?«, zischte James, ließ aber dennoch bebend vor Zorn von Sirius ab. »Frag mich, warum du überhaupt in Gryffindor bist, Black! Das sieht ja jeder Squib, dass du nach Slytherin gehörst, so schwarzmagisch und freundschaftsunfähig wie du bist…«
Sirius zuckte nur die Schultern und machte sich lässig und ohne Antwort in die Gegenrichtung auf. Wenn jemand so engstirnig war, konnte er ihm auch nicht helfen! Er würde jetzt die anderen suchen – was Potter machte, ging ihn nichts an!
»Moment mal! Du hast uns beide doch hier her geführt. Also holst du uns hier auch wieder raus!« rief James ihm zornig nach und eilte an seine Seite. Sie liefen wortlos nebeneinander her. Im Geiste verdrehte Sirius die Augen, da er nun schon wieder so ein unliebsames Anhängsel hatte – und dann auch noch diesen nervigen Potter! So viel zu seiner neu gewonnenen Freiheit!
»Waren wir hier nicht schon mal?«, drangen James' verächtliche Worte zu ihm durch.
»Wenn es dir nicht passt, wo ich hingehe, dann lauf doch woanders hin«, rechtfertigte Sirius sich schroff. Schließlich hatte er ihn nicht gebeten, ihn zu begleiten!
»Das war ja alles ganz allein deine Schuld«, schnauzte der andere Junge ihn an.
Sie bogen um eine Ecke und sahen einen Pulk von Erstklässlern, die sich durch ein Porträtloch quetschten. Erleichtert wollten sie sich ihnen anschließen, doch da sagte ein Vertrauensschüler, der dabei stand und der unglücklicherweise nicht der ÜV war: »Ihr gehört aber nicht zu uns. Oder seid ihr Hufflepuffs?«
Synchron schüttelten Sirius und James den Kopf.
»Na gut, aber – bist du nicht der kleine Black, der vorhin für die ganze Aufregung verantwortlich war?«, fügte der Vertrauensschüler mit neugierigem Blick auf Sirius hinzu.
»Nein«, log Sirius schnell, »da verwechselst du mich!«
»Muss wohl so sein, denn Black hatte ja gar keinen Zwillingsbruder«, sein Blick glitt von Sirius zu James, dann wieder zurück. »Aber ich dachte, es gibt dieses Jahr nur ein Zwillingspaar unter den Neuen, muss mich wohl doch geirrt haben«, grübelte der Vertrauensschüler weiter, wobei er sich nachdenklich am Kopf kratzte.
»Äh… wieso?«, hakte James irritiert nach.
»Na ja, ihr seid doch Zwillinge, oder?«
Keiner der beiden sagte etwas zu dieser Anschuldigung. Stattdessen glotzten sie ihn nur baff an.
»Na, ihr seht jedenfalls so aus«, setzte der Fünftklässler mit gerunzelter Stirn angesichts der Schweigsamkeit der beiden Jungen hinzu.
Bevor Sirius seinen Zauberstab ziehen konnte, um ihm einen Fluch auf den Hals zu hetzen – abgesehen davon, dass er ja noch gar keinen konnte, aber um der Geste willen hätte er es getan –, fragte der Hufflepuff: »Wo müsst ihr denn dann hin, Jungs?«
»Gryffindor«, meinte James mit trockener Kehle. Nun erging sich der Vertrauensschüler zehn Minuten lang in der Wegbeschreibung nach Gryffindor: »…bis ihr vor dem Porträt von einer fetten Dame steht. Da müsst ihr dann durch. – Und beeilt euch!«
Der letzte Satz schreckte Sirius wieder aus seinen Gedanken, die sich hauptsächlich um die absurde Äußerung drehten, dass er und James Brüder sein könnten. Auch nur der Gedanke gehörte schon bestraft! – Gut, sie hatten beide schwarze Haare und waren auch ungefähr gleich groß, aber Sirius' Haare standen nicht wirr in alle Richtungen ab, als käme er gerade erst aus dem Bett, so wie sie es bei diesem Potter taten!
Der Hufflepuff verschwand ebenfalls durch das Loch in der Wand und James ging zielstrebig voraus. Sirius folgte ihm in der Hoffnung, dass er mehr von der Wegbeschreibung mitbekommen hatte. Doch schon an der nächsten Kreuzung blieb James abrupt stehen und drehte sich zu Sirius um. »Und jetzt?«, wollte er harsch wissen.
»Ich denk, du hast aufgepasst! Du hast so interessiert gewirkt«, verteidigte sich Sirius.
Sie stöhnten gleichzeitig auf, als ihnen klar wurde, was das bedeutete. Sirius besah sich die Korridore, die um sie herum verliefen. »Okay, Potter, sag 'ne Zahl zwischen eins und drei«, verlangte er.
Trotzig antwortete James: »Neun!«
Sirius deutete auf den linken Gang und beschloss: »Den nehmen wir!« Er ging forschen Schrittes voran, woraufhin ihm James etwas widerwillig folgte.
Zu seiner Verblüffung standen sie, nachdem Sirius willkürlich noch ein paar weitere Abzweigungen gewählt hatte, plötzlich tatsächlich vor dem Porträt einer fetten Dame, die in ein rosa Abendkleid gezwängt war.
Doch zu ihrem Bedauern forderte die fette Dame noch bevor sie sich freuen konnten, endlich den Gryffindor-Turm gefunden zu haben, resolut: »Passwort?«
Die Jungs sahen sich baff an. »Gryffindor-Turm?«, versuchte es James.
Streng blickte das Porträt auf die beiden hinab: »Wenn ihr keine Ahnung habt, geht lieber in euren eigenen Gemeinschaftsraum!«
»Aber das hier ist unser Gemeinschaftsraum«, versuchte Sirius zu erklären.
»Kein Passwort, kein Einlass!« Damit drehte sich die fette Dame desinteressiert weg.
Wütend zückte Sirius seinen Zauberstab und war schon drauf und dran den einzigen Zauberspruch, den er kannte zu sagen, als sich von hinten Schritte näherten. Sie drehten sich um und sahen ein Mädchen auf sich zukommen, das mindestens schon in der vierten Klasse sein musste.
»Äh…«, begann James, doch das Mädchen ging einfach zwischen ihnen durch und sagte: »Cosmos leonis!«
Das Porträt schwang zur Seite und die Jungs beeilten sich, dem Mädchen zu folgen. Sie betraten einen runden Raum, in dem nur noch einige ältere Schüler in Ohrensesseln vor dem Kamin saßen.
Staunend sahen sie sich um, als schon der ÜV aufsprang und donnerte: »Wo kommt ihr denn jetzt noch her? Ich habe bereits einen Suchtrupp losgeschickt. Eure Freunde haben sich schon Sorgen gemacht. Mittlerweile müssten sie in ihrem Schlafsaal eingeschlafen sein, aber – Moment mal, ihr beide wolltet euch doch schon im Hogwarts-Express duellieren, oder? Ihr habt doch wohl nichts angestellt…«
Sirius sah James missmutig an. Er war noch nicht mal einen Tag hier und schon in der halben Schule bekannt, wofür er Potter die Schuld gab.
»Wenn du uns jetzt noch zeigen würdest, wo wir hin müssen?«, blaffte Sirius den ÜV an.
Entgeistert sah der Vertrauensschüler ihn eine Sekunde an, bevor er wortlos auf die Wendeltreppe zu ihrer Rechten deutete.
Schweigend marschierten sie diese empor, bis sie ganz oben im Turm vor einer Tür mit der Aufschrift ›Erstklässler‹ standen. Sie schlichen in den dahinter liegenden Schlafsaal und erblickten nur noch zwei leere Betten, vor denen jeweils ihre Koffer standen.
Ohne ein weiteres Wort warf sich James in seinen Sachen aufs Bett und schaffte es gerade noch den tiefroten, samtenen Vorhang seines Himmelbettes zuzuziehen. Schon einige Sekunden später kam von ihm ein leises Schnarchen.
Kopfschüttelnd begann Sirius seinen Koffer auszupacken, da er noch nicht im Geringsten müde war.
Allerdings verharrte er, als er das Denkarium fand. Vorsichtig stellte er es auf sein Nachttischchen und zückte einmal mehr seinen Zauberstab, um ein paar Gedanken hinzuzufügen, so wie er es daheim schon einige Male getan hatte. Unter anderem die Auswahlzeremonie, als der Hut sich nicht entscheiden konnte, wie die ganze Halle durcheinander geschrien hatte und schließlich Bellas und Malfoys bissige Bemerkungen.
Danach fühlte er sich etwas erleichtert, sodass er glaubte, nachdem er das Denkarium unter seinem Bett verstaut hatte, endlich einschlafen zu können.
tbc...
