Sirius Black und der Wächter des Reinen Blutes
Einunddreißigstes Kapitel
Der Wächter des Reinen Blutes
Einen Moment später sahen sie es: Vor ihnen erstreckte sich in unendlicher Weite ein Tropenwald, in dem auf einer Lichtung eine dunkle Gestalt stand.
Gerade, als Sirius Salazar Slytherin erkannte, fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss und verschwand hinter hochwachsenden Bäumen. In dem Moment, da Sirius durch die Tür getreten war, war die Stimme in seinem Kopf und um ihn herum mysteriöserweise verstummt.
Unsicher traten sie einige Schritte näher zu der Gestalt in dem schwarzen Umhang, die schon das ganze Jahr über nach Sirius gerufen hatte.
»Willkommen im Reich Slytherins!« Salazar verbeugte sich erhaben und wies mit einer ausladenden Geste auf die Undurchdringlichkeit des Waldes.
»Wo sind wir hier?«, fragte Sirius angespannt. »Habt Ihr uns hierher gezaubert?«
»Was lässt dich annehmen, dass dies ein reales Land ist?«, entgegnete Salazar mit einer Gegenfrage. Seine Stimme klang fest, wenn auch geheimnisvoll.
»Was sollte es denn sonst sein? Etwa unser Traum?«, ließ sich Sirius auf das Spiel der Fragen ein.
»Und wenn es nur meine Erinnerungen sind?«, hielt Salazar rätselhaft dagegen.
»Wieso sind wir hier und nicht in Hogwarts?«, mischte sich auch James mit ein.
Nun riss Salazar der Geduldsfaden und er fuhr die Jungs an: »Schluss jetzt mit dem Spielchen! Du bist hier, um dich endlich zu entscheiden, junger Black!«
Sirius meinte auf gut Glück: »Ich habe mich bereits entschieden«, obwohl er, noch bevor er es gesagt hatte, wusste, dass Salazar Slytherin seine Worte nicht annehmen würde.
Salazar lächelte abfällig. »Wir wissen beide, dass du eigentlich in mein Haus gehörst. Das weiß sowohl Dumbledore, als auch der Sprechende Hut…«
»Toll, dass sich da alle einig sind«, unterbrach James den jahrhundertealten Zauberer herausfordernd. »Und Sirius' Meinung zählt dabei gar nichts, oder was!« Damit hatte er es geschafft, Salazars Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Mit sprühenden Augen fuhr dieser zu ihm herum und funkelte ihn an: »Was hast du unwürdiger Gryffindor eigentlich in meinem Reich verloren!« Seine Stimme hatte nun nichts Geheimnisvolles mehr; sie war vielmehr drohend, mit einem gefährlich nachschwingenden Unterton.
»Das ist mein Freund«, stellte Sirius James angriffslustig vor. »Und wenn ich hier bin, dann hat er genauso das Recht, hier zu sein!«
»Ha, was sind schon Freunde! Wie ich dir bereits in den unzähligen Nächten zu erklären versuchte, gibt es so etwas wie wahre Freundschaft nicht, Sirius, sieh das endlich ein und nimm diese Tatsache hin!« Salazar musterte Sirius nachsichtig, als wäre er schon immer sein Lehrer gewesen; ein Lehrer, der seinem Schüler noch grundlegende moralische Normen erklären musste, auch wenn es für ihn das Selbstverständlichste der Welt war.
»Gibt es sehr wohl«, widersprach Sirius sofort hitzig.
»Glaubst du wirklich?« In Salazars Hand erschien plötzlich ein Zauberstab.
Sirius erkannte zu seinem Erstaunen seinen eigenen. »Ihr habt ihn mir genommen!«, brachte Sirius verblüfft hervor. »Ihr habt alles genommen – aber am Montag werden wir ohnehin nach Hause fahren. Dann wird es auch kein Slytherin mehr geben!«
»Nicht, wenn du deinen wahren Platz einnimmst«, unterbrach Salazar ihn barsch, wobei er Sirius' Zauberstab auf seinen rechtmäßigen Besitzer richtete.
»Sirius, hier!« James warf seinem Freund seinen eigenen Zauberstab zu. Sirius fing ihn aus der Luft und blickte James fragend an. »Dich will er in Slytherin sehen. Du brauchst ihn dringender als ich!«
»Der Wagemut der Gryffindors«, höhnte Salazar, ohne den Blick von Sirius abzuwenden, ließ sich jedoch nicht von der Waffe in Sirius' Hand beeindrucken – im Gegenteil: Er hatte vielmehr eine entspannte Haltung eingenommen, als wäre er sich seines Sieges sicher, als wäre es nur noch eine Frage von Sekunden, die sich unweigerlich zu seinen Gunsten erweisen würden. Sirius' Zauberstab hatte er noch immer direkt auf Sirius' Herz gerichtet. »Du warst noch nie ein echter Gryffindor!«
»Ihr seid doch krank! Nur weil ich nicht nach Slytherin gekommen bin, habt Ihr ganz Hogwarts dazu gebracht, sich aufzulösen und habt mich nachts aufgesucht, um mich nach Slytherin zu locken…«
»Ja, und ich hätte es auch eher geschafft, glaub mir. – Aber dann hast du versucht, mich mit Hypnose los zu werden. Welch törichter Versuch! Von mir, dem mächtigsten Zauberer überhaupt kann man sich nicht einfach so lösen, wie wohl selbst du gemerkt haben wirst!«
Sirius lachte kurz und höhnisch auf, aber es war kein echtes Lachen, es klang vielmehr rau und unwirklich. »Doch Ihr habt eines übersehen: Zusammen mit meinen Freunden habe ich es geschafft, mich Eurem Ruf zu widersetzen!«
»Zusammen mit Freunden, mit denen du dich gestritten hast, wenn es mir gerade so gefiel. Die dich nach meiner Lust und Laune hängen gelassen haben, wenn du sie am nötigsten brauchtest…«
»Wir haben ihn nicht hängen gelassen!«, fuhr James wütend dazwischen.
»Oh, natürlich nicht… Ihr seid nur andauernd aneinander geraten. Zwietracht zu streuen ist eine meiner Vorlieben, müsst ihr wissen…«
»Ihr wart das!« Sirius erinnerte sich an das Gefühl, als er nicht mehr Herr seiner Worte gewesen war, jedes Mal, wenn er James oder die anderen angeblafft hatte, Zorn gefühlt hatte, der nicht seiner gewesen war.
»Natürlich! Ich habe dich das ganze Jahr über verfolgt. – Ich könnte dir zu Macht verhelfen, oder aber du willst dich von deinen Freunden verraten lassen, denn sie werden dich früher oder später im Stich lassen. Es liegt an dir, zu entscheiden…«
Abermals steigerte sich Sirius' Wut ins Unermessliche. Was fiel diesem Slytherin eigentlich ein, sich zwischen ihn und seine Freunde stellen zu wollen! »Nehmt den Fluch von Hogwarts, Slytherin, oder es wird Euch noch Leid tun«, drohte Sirius, obwohl er sehr genau wusste, dass er in einem Duell gegen einen der mächtigsten Schwarzmagier aller Zeiten nicht gewinnen konnte.
Das wusste auch Salazar, denn er ließ ein finsteres, in Sirius' Ohren dröhnendes Lachen hören.
Sirius nutzte seine Chance, richtete James' Zauberstab auf Salazar Slytherin und schrie: »Stupor!« Der Schockzauber ging einfach geradewegs durch den Zauberer hindurch, dessen Lachen aus seinem Gesicht verschwand, und traf einen Baum hinter ihm.
»Ich bin nicht zu besiegen, junger Black! Ich bin der Wächter meines Hauses und ich bin zurückgekehrt, den Fluch zu erfüllen, den ich einst über Hogwarts sprach. Dein Blut ist dessen eines Slytherins würdig – und ob du es früher oder erst später begreifen wirst: Du bist seit deiner Geburt an den dunklen Mächten verschrieben. Dein Weg ist vorherbestimmt, finde dich damit ab!«
Salazar Slytherin murmelte etwas, das Sirius nicht verstand. Dass es ein Zauberspruch war, wurde ihm erst klar, als der rote Lichtstrahl bereits auf ihn zuraste. Im letzten Augenblick wurde er von James umgerannt, der ihn zur Seite stieß. Sirius prallte hart auf dem Boden auf, spürte, wie sein linker Arm, auf dem er mit seinem ganzen Gewicht landete, bedrohlich knackte, doch der Zauberspruch Slytherins streifte James, der ebenfalls zu Boden fiel.
»Ihr seid hartnäckig!«, gab Salazar Slytherin zu. »Aber wahre Freunde seid auch ihr nicht, wollen wir wetten?« Er schwang Sirius' Zauberstab in einer lässigen Bewegung, woraufhin Sirius von einem grellen Lichtstrahl geblendet wurde.
Sobald er wieder normal sehen konnte, entdeckte er fünf Treibsandgruben, in denen je ein James langsam aber beständig versank. Alle schrien durcheinander: »Hilf mir, Sirius!«
»Du kannst mich doch hier nicht sterben lassen!«
»Beeil dich!«
Sirius wusste nicht, wem er zuerst helfen sollte, denn er würde niemals die Zeit haben, sie alle zu retten.
Bevor er sich noch für einen James entscheiden konnte, sprach Salazar erneut: »Welch Ironie! Der Zauberstab seines besten Freundes wird ihm letztlich sein Leben kosten!… Du allein kannst es verhindern, junger Black: Entscheide dich schnell, rette einen und die anderen werden sterben – dass du den Echten erwischst, ist wohl eher unwahrscheinlich – oder…«
Salazar schwang den Zauberstab, sodass ein massives schwarzes Steintor neben Sirius erschien, in dessen Rahmen die Worte ›Lang lebe Slytherin‹ in silberner Schrift gemeißelt waren.
»…Du entscheidest dich letztlich doch für Slytherin, das Haus der Edlen und Reinblüter, und deinem echtenFreund wird nichts geschehen, das garantiere ich dir. Beeile dich, denn deine und auch die Zeit deines Freunds läuft unaufhaltsam ab.« Salazar hob eine kleine Sanduhr hoch, deren Inhalt erbarmungslos verrann, während jeder einzelne James immer tiefer im Sand versank.
Sirius musste sich nicht erst entscheiden, was er wählte, es war für ihn sofort klar, dass er James nicht im Stich lassen würde.
Doch bevor er auch nur einen Schritt auf das Steintor zutun konnte, drang plötzlich ein heller Pfiff an seine Ohren. Diesen Pfiff würde er unter tausenden erkennen! Ohne noch mehr Zeit zu vergeuden suchte Sirius nach dem James, der eine kleine silberne Pfeife zwischen den Lippen hatte und der schon bis zu den Schultern versunken war.
Sirius dachte nicht lange nach, sondern hechtete nach einem dicken Ast, um ihn dem richtigen James über den Treibsand zu reichen. Salazars Reaktion kam zwar spät – vermutlich, weil er den Pfiff erst gar nicht hatte hören können –, aber letztendlich fuhr er mit einem wütenden Schrei zu ihnen herum und richtete Sirius' Zauberstab auf sie.
Und ab jetzt schien alles gleichzeitig und in Zeitlupe zu geschehen: In Sirius' Hirn rastete etwas ein und er erinnerte sich an den Eintrag, den er Specter abgefragt hatte: »…Wenn man in einer Lokillusion gefangen ist, dann muss man sich stark auf den Ort konzentrieren, an dem man sich eigentlich befindet, dazu ist große Willenskraft erforderlich.«
»James«, schrie er deshalb. »Konzentrier dich auf Hogwarts!«
James hatte sich inzwischen fast bis ans Ufer des Treibsandes gezogen und packte Sirius' helfend ausgestreckte Hand. Salazar schrie in der Zeit seinen Fluch, mit dem er sie davon abhalten wollte, ihm zu entgehen: »Impedimenta!«
Sirius stellte sich ganz fest den Kerkerraum vor, in dem er Slytherin vor einigen Nächten den Fluch hatte aussprechen sehen und in dem sie sich ohne Zweifel gerade eben in Wirklichkeit befanden, sah seine dunklen Wände, das kleine, vergitterte Fenster, vor dem Blitze zuckten –
… Die Lokillusion löste sich auf und die beiden Jungs fanden sich auf dem Boden eben jenes Kerkers wieder.
Sirius' Zauberstab fiel klappernd zu Boden. Sirius hatte die Lokillusion – den ganzen Fluch in dem Moment gebrochen, da Salazar Slytherin sie angegriffen hatte, doch der Zauber, den Salazar zuletzt gesprochen hatte, erwischte sie alle beide, da sie noch immer über die Hände in direktem Körperkontakt miteinander verbunden waren, noch in derselben Sekunde mit ungebremster Wucht…
tbc...
