2. Unerwartete Erinnerungen

Snapes Herz machte plötzlich einen außerplanmäßigen und höchst unangenehmen Satz, als er an das Ende der letzten großen Ferien vor einem Jahr dachte. Dumbledore hatte sich damals spontan und gewohnt beschwingt dazu entschlossen, der Besprechung des Lehrplanes, die eine Woche vor Ferienende stattfinden sollte, ein fröhliches Beisammensein folgen zu lassen. Wie man das Ende der Ferien und den Beginn des neuen Schuljahres in Fröhlichkeit begehen sollte war Snape schon immer unverständlich gewesen. Der Direktor hatte jedoch noch einen weiteren Grund für sein Vorhaben gehabt; er wollte Jeanne d'Abrenville verabschieden. Sie war eine Ausleihe aus Beauxbatons gewesen und hatte für ein Schuljahr Professor Binns in Geschichte der Zauberei vertreten.

Professor Binns, der einzige Geist in Hogwarts' Lehrerkollegium hatte es sich kurzerhand in den Kopf gesetzt, in seinem, wie er es nannte, fortgeschrittenen Alter noch einmal verschiedene Orte der Welt zu bereisen bevor ihm dies aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich sein würde. Niemand, und am allerwenigsten Snape, hatte seinen Standpunkt verstanden, schließlich war er bereits – nun verflossen, gewissermaßen tot und weder sein Alter noch sein Gesundheitszustand würden sich in irgendeiner Weise verändern. Als Dumbledore versucht hatte, dem Professor dies taktvoll darzulegen, murmelte dieser etwas von Ausbeute und Recht auf eine Auszeit für einen alten Mann. Kurzum, man ließ ihn ziehen und bemühte sich um eine Vertretung.

Kurz darauf hatte sich herausgestellt, dass Professor d'Abrenville, die Ehefrau des stellvertretenden Direktors der französischen Zauberakademie, nur zu gerne ein Jahr im Ausland unterrichten wollte. Und so war sie bald darauf von (fast) allen Kollegen herzlich in Hogwarts empfangen worden. Snape hatte sich selbstverständlich damit begnügt, ihr mit undurchdringlicher Miene und ohne jeglichen verbalen Willkommensgruß die Hand zu geben, um sie dann für den Rest des Schuljahres zu ignorieren. Er stellte während ihrer Begrüßung nur kurz erstaunt fest, dass er sie sich anders vorgestellt hatte. Eine französische Professorin, so hatte er gedacht, müsste lange dunkle, zu einem Knäuel zusammengeknotete Haare und kleine braune Mausaugen haben – Madame d'Abrenvilles Haar war nicht dunkel und es war weder lang noch auf irgendeine Weise verknotet, es stand in wirren, scheinbar unzähmbaren rotblonden Locken von ihrem Kopf ab. Beim Anblick der Lockenpracht musste Snape unweigerlich an eine Ansammlung summender Antennen denken. Die großen, wachsamen Augen der neuen Kollegin waren von einem tiefen und, wie Snape während ihrer ersten Begegnung widerwillig feststellte, beunruhigenden blau. Zudem sprach sie überraschenderweise nicht mit diesem lächerlichen französischen Akzent, den er erwartet hatte.

Auf eine etwas eigenwillige Art und Weise war Madame d'Abrenville durchaus attraktiv. Mit einem spöttischen Schnauben hatte Snape nach ihrer Ankunft die Reaktion seiner männlichen Kollegen auf die Professorin kommentiert. Es schien als sei ihnen beim Anblick der Kollegin der letzte Rest Verstand abhanden gekommen. Jeder Wunsch war Madame d'Abrenville im Laufe des folgenden Schuljahres von den Augen abgelesen worden und sie hatte den Rummel um ihre Person nur zu gern über sich ergehen lassen – ihn, da war Snape ganz sicher, sogar überaus genossen. Egozentrisch, arrogant, anmaßend, blasiert, hochmütig – er wusste nicht mehr, welche Charaktereigenschaften ihm damals noch im Zusammenhang mit dieser Person immer wieder durch den Kopf gegangen waren. Für seine Kollegen war sie jedoch unverfälscht, reizend, bezaubernd und über alle Maße charmant.

Noch jetzt, auf dem Weg zu Dumbledores Büro, schüttelte Snape voller Abscheu den Kopf bei der Erinnerung an die verliebten Schwänzeltänze seiner Kollegen. Gleich darauf drängte sich ihm jedoch unbarmherzig der eigentliche Grund für den eben noch verspürten, unangenehmen Satz seines Herzens auf; es war ihm nicht wirklich gelungen, die französische Kollegin für die Dauer ihres Aufenthaltes vollständig zu ignorieren – jedenfalls nicht in dem Maße wie er es sich nach ihrem ersten Aufeinandertreffen vorgenommen hatte.

Bei dem Gedanken daran blieb er abrupt vor einem der hohen Schlossfenster stehen, verschränkte die Arme vor dem Oberkörper und widmete sich äußerst widerwillig den Erinnerungen, die zu einem gänzlich unpassenden Zeitpunkt auf ihn einstürmten.



Jeanne d'Abrenville hatte Hogwarts nicht sofort nach dem letzten Schultag verlassen. Ihr Ehemann war einer Einladung Dumbledores gefolgt und erreichte das Schloss kurz nach Ferienbeginn. Das Paar verbrachten einige Tage in der Schule und entschlossen sich dann, für einige Zeit die schottischen Highlands und auch den Rest Großbritanniens zu erforschen. Nach einigen Wochen kehrten sie nach Hogwarts zurück. Antoine d'Abrenville hatte daraufhin niemanden darüber im Unklaren gelassen, dass ihm das schottische Sommerwetter zuwider war. ER sehnte sich nach Frankreichs Süden und reiste kurz entschlossen ab. Seine Frau bat jedoch darum, noch bis zum Ende der Ferien bleiben zu dürfen, um Professor Binns' Klassenraum und Büro in Ordnung zu bringen und noch einige Nachforschungen in Hogwarts' berühmter Bibliothek anstellen zu dürfen.

Die Schätze der hogwartschen Sammlung waren von großer Bedeutung für die Professorin der Zaubereigeschichte. Selbstverständlich hatte es keine Einwände gegen ihr Bleiben gegeben und so sah man sie täglich an einem der Schreibtische in der Bibliothek, über etliche Bücher gebeugt.

Trotz des guten Grundes für ihr Bleiben hatte sich schnell das Gerücht unter den Kollegen verbreitet, dass nicht nur das schlechte Wetter Schuld an Monsieur d'Abrenvilles übereilter Abreise gewesen war. Natürlich war das Gerücht um eine mögliche Krise zwischen den Eheleuten auch zu Snape durchgedrungen. Er hatte es jedoch mit gekonnter Gleichgültigkeit ignoriert.

Er hatte es genau bis zu dem Augenblick ignoriert, in dem Jeanne d'Abrenville sich dazu entschlossen hatte, mit einer gezielten Provokation sein Interesse zu erzwingen. Snape erinnerte sich genau an den verregneten und kühlen Tag Ende August. Aus den Augenwinkeln hatte er beim Eintreten in die Bibliothek wahrgenommen, dass seine französische Kollegin zwischen den Bücherreihen langsam und suchend hin und her wanderte. Das war nichts Ungewöhnliches.

Ungewöhnlich war jedoch, dass diese Person einen Augenblick später plötzlich wie aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht war, um mit unschuldiger Miene zu fragen:

„Ah, Professor Snape! Ich suche Artemis Coils erste Ausgabe von Kleine Anthologie der Zaubereigeschichte Großbritanniens in 12 Bänden."

Jeanne d'Abrenville hatte ihn ernst angesehen und dann mit einem vermeintlich verzweifelten Kopfschütteln hinzugefügt:

„Sie müsste aus dem vorigen Jahrhundert stammen und hier irgendwo stehen – aber ich kann sie einfach nicht finden!"

Sie hatte sich noch einmal kurz umgesehen, wie zum Beweis ihrer Suche, und ihn auffordernd angeblickt.

Für einige Sekunden, so erinnerte sich Snape, hatte er sie verblüfft, nahezu fassungslos angestarrt. Es war ihm plötzlich bewusst geworden dass dies das erste Mal seit ihrer Ankunft vor sechs Monate gewesen war, dass sie das Wort an ihn direkt gerichtet hatte. Er war sich nicht einmal sicher, ob er ihre Stimme nach der Begrüßung in Hogwarts jemals wieder wirklich wahrgenommen hatte. Nach wenigen Augenblicken hatte er sich wieder unter Kontrolle gehabt. Ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen seiner Kollegin machte deutlich, dass ihr seine kurze Verwirrung nicht entgangen war.

Snape erinnerte sich noch ein Jahr später an den Wortlaut des folgenden Schlagabtausches.

„Der Aufenthaltsort ihrer Kleinen Anthologie ist mir bedauerlicherweise unbekannt",

hatte er kühl auf die Frage reagiert. Die Ablehnung in seiner Stimme konnte ihr nicht entgangen sein und er wollte sich gerade einem Buch widmen, völlig sicher, dass sie verstanden hatte.

„Professor, es ist nicht meine Anthologie, sondern die der Bibliothek ihrer Schule und ich nahm an, dass sie mir … " sie schien kurz zu stocken und fuhr dann spitz fort: „aber als Professor für das Mischen von Wundermitteln verbringen sie vermutlich die meiste Zeit in ihrem düsteren Labor und ignorieren die Zusammensetzung der dinglichen Welt um sich herum,"der Klang ihrer Stimme war betont ruhig.

Machte sie sich gerade über seine Position an dieser Schule lustig? Über sein Fach? Nannte sie ihn gerade einen ignoranten Dummkopf, der keine Ahnung von der Geschichte seines Volkes hatte? Unfassbar! Snapes Miene verfinsterte sich, seine Gesichtsmuskeln waren angespannt als er sich leicht zu ihr vorbeugte:

„In meiner Position als Professor für ZAUBERTRANKKUNDE ignoriere ich weder die Vergangenheit noch die Zukunft, Professor d'Abrenville. Ihre unangebrachten Anspielungen sind äußerst lächerlich, geistlos, unverschämt, dreist, - i m p e r t i n e n t!" fügte er bedrohlich gedehnt hinzu.

Sie hatte sich nicht abgewandt als er ihr näher gekommen war sondern hatte sich ihm sogar noch ein kleines Stück entgegen geschoben. Ohne die geringste Spur von Scheu sah sie direkt in die vor Ärger blitzenden dunklen Augen und hauchte mit gespielter Unschuld: „Die Last ihrer vielen negativen Adjektive liegt schwer auf mir, verehrter Kollege, ich hatte keinesfalls vor, sie zu verletzen."

„Ach NEIN?"Snapes unkontrollierte Entgegnung war eine Spur zu laut durch die stille Bibliothek getönt. Madam Pince räusperte sich hörbar an ihrem Schreibtisch am anderen Ende des großen Raumes. Sicherlich hatte sie ihren Hals nach dem Störenfried gereckt, doch die beiden waren gut hinter mehreren Bücherregalen versteckt geblieben.

Wütend, auch über seinen maßlosen und undisziplinierten Ausbruch, hatte Snape kurz die Augen geschlossen, um sie augenblicklich wieder zu öffnen und mit einem gefährlichen, doch diesmal gedämpften Knurren hinzuzufügen: „Das Werk, das sie suchen befindet sich im linken Gang dort, dritte Reihe von oben – UNTER C – Frohes Schaffen, Professor."

Er hatte sich umdrehen wollen, sie dort stehen lassen wollen.

Auf Jeanne d'Abrenvilles Gesicht war jedoch deutlich ein teils erstaunter aber auch heiterer, versöhnlicher Ausdruck zu erkennen. Dieses Mal war die Miene nicht gespielt, es war echt – es war schön – es war so unfair! Das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit sah er sich gezwungen, sie endlose sekundenlang anzustarren.



Snape Schreckte aus seinen Erinnerungen hoch, als er hinter sich ein Klirren hörte. Er dreht sich hastig um und stellte erleichtert fest, dass der alte Mann in einem Gemälde an der gegenüberliegenden Wand im Schlaf eine Weinflasche umgestoßen hatte. Snape musterte den Schlafenden und hörte nun auch deutlich ein leises, gleichmäßiges Schnarchen.

„so friedvoll?" entfuhr es ihm grimmig.

„Ich hab nichts damit zu tun Emily!" murmelte der alte Mann im Schlaf unruhig.

„Wohl doch nicht." Snape grinste gehässig.

Er blickte sich zum Fenster um, durch das er eben noch gedankenversunken den nebelverhangenen See betrachtet hatte. Die klirrende Flasche hatte ihn zurück in die Gegenwart geholt, er erinnerte sich, dass der Direktor ihn erwartete und setzte den Weg zu dessen Büro fort. Snape ärgerte sich darüber, diesen Erinnerungen für einen Moment so ausgeliefert gewesen zu sein. Er hatte Monate damit verbracht, Jeanne d'Abrenville wieder aus seinem Gedächtnis zu löschen. Die Mühe war eindeutig fehlgeschlagen. Zornig stellte Snape fest, dass sich ein Teil von ihm danach sehnte, weiter an sie zu denken.

– an das, was nach dem Wortgefecht geschehen war…

an ihr mädchenhaftes Lachen …

„Es reicht!"zischte er leise in sich hinein „du wirst nicht wieder damit anfangen!"

Entschlossen und mit festen Schritten ging er weiter. Seine Schuhe dröhnten auf dem gebohnerten Parkettboden.

– an die gemurmelten Worte, die er kaum verstanden hatte…

– an ihren ersten Blick hinter die eiserne Fassade…

– an seinen ersten Blick…

„Verdammt!"Snape blieb stehen, sein Fluchen hallte den langen Gang entlang.

„So wütend, Professor?" quiekte es aus einem Portrait an der Wand.

„ist er doch immer." kam es aus einer anderen Ecke kichernd zurück.

„Was zum Teufel…" - Snape blickte wütend von einem Gemälde zum anderen.

„Hat er das Passwort vergessen?" in einem der Bilder raschelte es hinter einer Zeitung. Eine kleine Hexe spähte blinzelnd hervor.

„Der Professor hat das Passwort vergessen!" kicherte es aus der anderen Ecke erneut.

„Ich könnte es ihm ja verraten – aber…" die kleine Hexe schlüpfte grinsend hinter die Zeitung zurück.