2. Eulenpost
Ein Samstagmorgen im Mai. Kein Unterricht, dampfende Brötchen, Marmelade, Rührei mit Speck, Sonnenschein, Vögelgezwitscher und - „Montag beginnen die Prüfungen – so viel zu tun!" durchkreuzte Hermine plötzlich Rons friedvolle Morgenstimmung. Nicht dass sie ihn mit diesen Worten direkt angesprochen hätte, eigentlich schaukelte sie schon seit einiger Zeit murmelnd und mit abwesendem Blick auf ihrem Stuhl hin und her. Nachdem ihr Gemurmel nun auch Ron erreicht hatte, machte sich in ihm schlechtes Gewissen und ein flaues Gefühl in der Magengegend breit. Hermine verbrachte jede freie Minute mit der Nase in ihren Büchern und er dachte an Sonnenschein und Vögelgezwitscher. Ein kurzer Blick auf die blasse Hermine, die nervös schaukelnd an einem trockenen Stück Brot nagte und dabei ihren Fingernägeln gefährlich nahe kam, verdarb ihm den letzten Rest Appetit.
Genervt blickte Ron sich um. Harry sah auch nicht viel ruhiger aus. Rons Augen wanderten weiter über die Schülertische bis hin zum Lehrertisch und nahmen die gewohnte Sitzordnung wahr. Professor Dumbledore in der Mitte, vertieft in ein Gespräch mit den Professorinnen Sprout und McGonagall. Professor Flitwick und Madam Hooch kicherten über irgendeinen Witz und Professor Snape kauerte hinter seiner übergroßen Kaffeetasse und stierte grimmig vor sich hin.
Einen Augenblick später wurde das morgendliche Gemurmel von einer Scharr hereinflatternder Eulen übertönt. Die Morgenpost. Hier und da ließen die Vögel kleine Pakete, Briefe und Tagespropheten fallen. Auch vor Rons Nase landete die Tageszeitung und er wollte sich gerade mit einem Blick auf die Sportseite von dem wachsenden Druck im Magen ablenken, als am Lehrertisch laut quietschend ein Stuhl zurückgeschoben wurde und Professor Severus Snape mit einem schallenden: „Was zum Teufel…!" ungewollt die Aufmerksamkeit des gesamten Saales auf sich zog.
Unzählige Köpfe reckten sich, um die Ursache für diesen Ausbruch erkennen zu können. Nicht dass Professor Snape nicht ohnehin zu Ausbrüchen, vorzugsweise Wutausbrüchen, neigte, so früh an einem unterrichtsfreien Morgen schien es dennoch außergewöhnlich.
Auch für die hintersten Tischreihen war das, was eine große braune Eule vor Snape fallengelassen hatte deutlich zu erkennen. Neville Longbottoms Augen wurden groß und er zog instinktiv den Kopf ein. Seamus Finnegan entfuhr ein erschrockenes und zugleich erstauntes „OOUHH – Professor Snape!" Unter normalen Umständen hätte ihn ein derartiger Ausruf einige Punkte Abzug für Gryffindor gekostet.
Die Umstände waren jedoch nicht normal. Snape starrte auf den kleinen roten Umschlag vor sich, der unruhig zu pulsieren schien und ein stetig lauter werdendes Zischen und Pfeifen von sich gab. Im Saal war es still geworden.
„Ein Heuler, Severus?" Professor Dumbledore war erstaunt.
„Was haben sie angestellt?" Professor McGonagall klang ebenso überrascht, vor allem jedoch eine Spur amüsiert.
„Da fällt mir so einiges ein!" flüsterte Ron Harry zu. Der gleiche Gedanke ging wohl fast allen Anwesenden durch den Kopf.
Snape jedoch schien aufrichtig verwirrt. er hatte seine Hände auf dem Tisch abgestützt und musterte noch immer den roten Brief. Ruckartig schoss sein Kopf nach oben und er fixierte mit böse funkelndem Blick die Schülerreihen. Gerade wollte er etwas sagen, als der Briefumschlag vor ihm einen gefährlichen Satz machte und ein äußerst ungeduldiges Knurren von sich gab.
Dumbledore beugte sich zu Snape hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
„Das weiß ich auch!" zischte Snape erbost. Er streckte seine Hand aus und nahm den bebenden Brief vom Tisch, drehte sich um und wollte den Saal verlassen, als die große braune Eule noch einmal auf den Teil des Lehrertisches zugeflogen kam, an dem er gerade noch gesessen hatte. Mit einem lauten WUUHSCH landete ein zweiter zappelnder roter Umschlag auf seinem Platz. Die Eule gab ein vorwurfsvolles und recht angespanntes Schnarren von sich und flog aus dem Saal.
Unter den Schülern begann ein aufgeregtes Gemurmel und Getuschel.
„Ein zweiter Heuler" keuchte Neville.
„Der muss ja tierisch was ausgefressen haben!" japste ein Hufflepuffmädchen aufgeregt.
„Haltet euch schon mal die Ohren zu, Leute!" riet Colin Creevey.
„RUHE!" Für einen Augenblick war nicht klar, ob der dröhnende Ausruf von dem Heuler oder von Severus Snape stammte. Ein Blick in Snapes Gesicht machte es jedoch deutlich. Seine schmalen Lippen zitterten: „Noch ein Wort von irgendeinem der hier Anwesenden und ich…" Zu mehr kam er nicht. Der erste Heuler drehte und wendete sich geräuschvoll in seiner Hand. Zischend, fauchend, rauchend und schnaubend vor Wut befreite er sich aus Snapes Griff und schnellte ab in die Luft, genau vor die Nase seines Adressaten, wo er sich wild summend hielt. Snape fischte mit der Hand nach dem Brief, der jedoch immer wieder auswich und schließlich zerbarst, um sich in eine lange Papierrolle zu verwandeln.
Der Saal hielt den Atem an als eine ohrenbetäubend schrille Frauenstimme ertönte.
„Professor Snape! Wie konnten Sie mir das antun? Sie impertinente Person! Sie halten sich wohl für die Krone der Schöpfung? Noch nie hat mich ein Mann derart entwürdigend behandelt. Was haben Sie sich dabei gedacht? Erst diese vor Schmalz triefenden Briefe und dann… Herzen erwärmen, Fassaden abbauen, Mauern einreißen – ich hätte in der Tat Lust, bei Ihnen etwas einzureißen! – Oder besser Abzureißen! Wagen Sie es nicht, mir auf irgendeine Weise nahe zu kommen sonst erwartet Sie weit Schlimmeres als dieser Heuler!"
Fast unmöglich, aber bei den letzten Worten hob die Stimme noch einmal an und wurde zu einem fast unerträglichen Quietschen, bevor die Rolle mit einem Jaulen in Flammen aufging und die Asche langsam zu Boden rieselte.
Mit offenem Mund starrten hunderte von Schülern von dem Häufchen dampfender Asche auf dem Boden hin zu Snape. Dieser war kreideweiß. Bevor sich irgendjemand regen konnte, machte sich der zweite Heuler bemerkbar. Bis jetzt hatte er geduldig auf das Finale seines Vorgängers gewartet, doch jetzt hielt ihn nichts mehr auf den Tisch. Zischend schwirrte der Brief vor Snapes Nase und formte sich ebenfalls zu einer Papierrolle.
Abermals erfüllte eine Frauenstimme den Saal. Genauso laut, schallend und anklagend wie die erste, diesmal jedoch auch tränenerstickt und von tiefem Schluchzen unterbrochen.
„Professor Snape – S – Severus ! (ein Schluchzen) Ich bin zutiefst gekränkt! Sie haben mit meinen Gefühlen gespielt! Was haben Sie mir angetan? Zum ersten Mal seit Jahren brachten mir Ihre Briefe einen Hauch von Hoffnung! (ein geräuschvolles Schnauben ins Taschentuch) Ich habe Stunden auf Sie in den DREI BESEN gewartet – dann diese Nachricht! Erbärmlich! (ein halb Schluchzen halb Schnauben) Und diese Briefe! Ich hätte es ja gleich wissen müssen:
Geboren auf deinem Schoß, will ich auf deinen Wangen leben und auf deinen Lippen sterben!
PAAH! das ist nicht von Ihnen! das ist von SHAKESPEARE! Sie ----- DIEB! Jawohl!"
Ein herzzerreißendes Wimmern beendete die Nachricht und die Rolle fing Feuer.
Snape stand wie gelähmt da und starrte auf den sich bildenden zweiten Haufen Asche. Lippen zusammengepresst, Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Die Adern an seinen Schläfen pochten wie wild und er hatte seine Finger so eng ineinander verschlungen, dass alles Blut aus ihnen gewichen war. Nichts und niemand wagte, sich zu bewegen.
Ein Poltern durchdrang die Stille. Nicht nur Ron zuckte zusammen. Er blickte verdutzt neben sich und fand Hermine benommen neben ihrem umgefallenen Stuhl sitzend. Ein Ausdruck grenzenlosen Entsetzens beherrschte für einen Augenblick ihr Gesicht. Dann schaute sie in Rons verwirrte Miene und rieb sich verlegen das schmerzende Hinterteil. Ron streckte Hermine die Hand entgegen, erleichtert ließ sie sich hochziehen.
Hermines kleiner Unfall riss Snape aus der Trance, die ihn für die letzten quälenden Minuten bewegungsunfähig gemacht hatte. Aufgebracht durchfuhr er mit dem Fuß den Aschehaufen und funkelte die anwesenden Schüler und Kollegen an: „Wenn ich herausfinde, wer hinter diesem geschmacklosen Scherz steckt – und verlassen sie sich darauf, ich werde es herausfinden – dann wird sich dieser Jemand wünschen, nie geboren worden zu sein!" Mit wehendem Umhang und donnernden Schritten schoss Snape aus dem Saal.
„Was war denn das?" Ron wandte sich seinen Freunden zu, nachdem Snape verschwunden war. Harry verzog den Mund, konnte ein Grinsen nicht länger unterdrücken. Um ihn herum begann alles, aufgeregt zu schnattern.
„Hermine? Geht es dir gut? Hast du etwa das Beste verschlafen? Das kann doch nicht war sein!" Ron fasste sie leicht bei der Schulter.
„Was, wer, warum? Ich ... bin vom Stuhl…!" Hermine wechselte die Gesichtsfarbe von schneeweiß zu knallrot. „Oh nein! Ich … Datum… wie konnte ich… verwechseln…. Ich hab es verpasst. Nein, nein, nein!" Sie vergrub die Hände in ihrem Gesicht.
Harry schüttelte den Kopf. „Hermine, du hast kein Datum verwechselt! Die Prüfungen haben noch nicht angefangen. Beruhige dich!" er legte beschwichtigend seine Hand auf ihren Arm. Hermine jedoch brach in Tränen aus, schnellte von ihrem Stuhl hoch und rannte aus dem Saal.
„Die ist ja total fertig!" Ron sah Hermine nach.
„Hast du sie vor Prüfungen schon jemals anders erlebt? Ärgerlich, dass sie die absolute Supershow verpasst hat!" Harry wies mit einem Nicken auf den leeren Platz am Lehrertisch.
„Allerdings! Entweder Snape ist ein Heiratsschwindler und Herzensbrecher, " Harry verschluckte sich prustend an einem Schluck Orangensaft. „Oder jemand hat sich wirklich einen verdammt coolen Scherz erlaubt. Nur gut, dass wir von schulfremden Lehrern für die N.E.W.Ts geprüft werden, sonst würde Snape uns sicher vor Wut alle durchrasseln lassen!" Ron widmete sich grinsend dem inzwischen kalten Rührei und drehte sich kurz darauf zu Harry und Seamus, die mit den anderen lachend den wahrscheinlich aufregendsten Samstagmorgen der Schulgeschichte diskutierten.
