4. Hector
Endlich stand er vor der schweren Eichentür, eine energische Bewegung des Zauberstabes ließ die Tür schwungvoll und mit einem Ächzen aufspringen. Snape stürmte durch das Labor, die Tür hinter ihm schnellte geräuschvoll zurück ins Schloss - hier war niemand – durch die nächste Tür in seinen Wohnraum.
Wie vom Donner gerührt blieb er vor einem der beiden Sessel stehen und stieß einen gellenden Schrei aus. Niemand der Professor Severus Snape kannte, hätte geglaubt, dass er überhaupt zu einem solchen Laut fähig war. Sicher wusste nicht einmal er selbst es.
Wie gebannt starrte er auf den Sessel. In ihm saß – er blinzelte nun ungläubig – ein Baby! Nun, zumindest hielt Snape es für eines, denn er hatte noch nicht allzu oft Bekanntschaft mit Kleinkindern gemacht. Pausbacken, kleine Nase, große, blassblaue Augen und ein dünner, dunkler Haarflaum auf dem runden Kopf. Ungefähr 70 Zentimeter lang, kleine Hände, noch kleinere Finger und die Füße in blau-weiß gestreiften Socken reichten nicht einmal bis zur Sesselkante.
Snape musterte das Kind geschockt während er innerlich die ihm bekannten Attribute abhakte, bis er seine erste Vermutung bestätigt fand: eindeutig ein Baby. Ein empörtes Schnauben entfuhr ihm: „Das ist ja lächerlich!" Das Kind vor ihm im Sessel krauste die Nase und ließ, wie zur Bestätigung seiner Bemerkung, einen lang gezogenen Laut ertönen.
Snape schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging zur Tür – drehte sich um und sah zurück zum Sessel. Es saß immer noch da. Er griff nach seinem Zauberstab und richtete ihn auf das Kind. „Unsinn!" entfuhr es ihm augenblicklich und er ließ den Zauberstab sinken, ein Gefühl der Hilflosigkeit machte sich in ihm breit. Ein grauenvolles Gefühl – von allen das Schlimmste.
Es klopfte. Hastig drehte Snape sich um und ließ die Tür mit einem Knall gegen die Wand schlagen. Er achtete nicht auf das erschrockene Wimmern aus dem Sessel hinter ihm, stattdessen funkelte er Dumbledore und seine Stellvertreterin wütend an.
„Direktor, ich verlange eine sofortige Erklärung dafür!" er drehte sich ruckartig um und wies mit der Hand auf den Sessel. Aus dem Wimmern wurde lautes Weinen.
Professor McGonagall schob sich an ihm vorbei und hastete auf den Sessel zu: „Professor Snape, sie machen ihm Angst!" sie nahm das Kind hoch und blickte vorwurfsvoll von Snape zu Dumbledore. „Albus, ich habe gesagt, dass es keine gute Idee ist",
„Da stimme ich ihnen voll und ganz zu, Professor", zischte Snape ungehalten.
Dumbledore räusperte sich: „Severus, es mag dir sehr – " er suchte nach dem passenden Adjektiv, „seltsam vorkommen, dass wir dich darum bitten, dich für zwei Tage um ein Baby zu kümmern, aber sei sicher, es gibt einen guten Grund! Hector braucht einen Ort, an dem er sicher ist und –"
„Hector?" Was für ein unpassender Name für so einen Wurm. Snape besah sich das kleine rot angelaufene Etwas auf McGonagalls Arm. Nichts an der kleinen hilflosen Gestalt erinnerte ihn an den mutigen trojanischen Krieger, über den er gern las. Mit Genugtuung stellte er fest, dass seine Kollegin sich in der momentanen Situation nicht besonders wohl zu fühlen schien. Unter anderen Umständen hätte er ein fieses Grinsen nicht unterdrücken können.
„Ja, seine Mutter – eine alte Freundin – hielt unsere Schule im Moment für den sichersten Ort – Severus, es ist eine große Verantwortung!", schloss Dumbledore ernst.
„Und wo ist diese alte Freundin? Der Vater? Großmutter, Tanten…" fragte Snape gereizt, „Warum kümmern sie sich nicht selber um ihren Sprössling?"
„Nun, ein wichtiger Auftrag ist zu erfüllen. Mehr kann ich dir im Moment nicht sagen. Vertrau mir!", Dumbledore hob beschwichtigend beide Hände als er Snapes vorwurfsvollen Blick bemerkte.
„Und warum ich?" in der Frage klang mehr Hilflosigkeit mit als Snape hatte zugeben wollen. Er verschränkte die Arme. „Eine Menge Leute hier eignen sich wohl besser zur liebevollen Nanny als ich. Was ist mit Poppy? Oder Professor Sprout? – Ich bin sicher, sie würde ihre Mutterinstinkte gerne an unserem Gast erproben",
Dumbledore überhörte den Spott in Snapes Stimme und antwortete geduldig: „Weder Poppy noch Professor Sprout noch irgendjemand sonst sind aus den Ferien in die Schule zurückgekehrt. Der Rest der Kollegen hat sich zu einem letzten Wochenendausflug entschlossen. – Wir drei – und Sybill – sind im Moment die einzigen hier",
Sein Gegenüber zog die Augenbrauen hoch und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Dumbledore kam ihm zuvor: „Was Minerva und mich angeht, so haben wir am Wochenende etwas Dringendes zu erledigen – das war schon lange geplant und kann nicht verschoben werden", fügte er schnell hinzu.
Völlig unpassend kam Snape in diesem Moment in den Sinn, dass diese nicht aufschiebbare Erledingung der beiden an diesem Wochenende - (eindeutig eine Ausrede!) – eine Vermutung bestärkte, die er schon seit langem hegte. Er schob den Gedanken beiseite und sagte stattdessen trocken: „Na bitte, da haben wir die Lösung: Professor Trelawney wird höchst begeistert darüber sein, dem Kind sein vorzeitiges Ableben prophezeien zu dürfen",
Professor McGonagall schnaubte: „Also, diese Idee ist ja noch weitaus abschreckender als…", sie verstummte als sie Dumbledores vorwurfsvollen Blick streifte. „Sie würde ihn wahrscheinlich in Teeblättern ertränken oder mit ihren stinkenden Räucherstäbchen ersticken!" schnaubte sie dennoch trotzig.
Snape seufzte gequält. Er musste ihr Recht geben. Verzweifelt suchte er nach einer Ausrede. Es fielen ihm eine Menge Argumente ein: er war mit Abstand der unbeliebteste Lehrer der ganzen Schule, er hatte keine Ahnung, wie man mit Kindern umzugehen hatte, er hatte eine dunkle Vergangenheit, die sich keine Mutter für ein Kindermädchen wünschen würde, er hauste in einem Kerker mit winzigen Fenstern und verdammt noch mal, es war das letzte Ferienwochenende!
Dumbledore würde keines dieser Argumente gelten lassen.
Der Direktor bestätigte seine Befürchtung: „Ich bin sicher, bei dir ist Hector in guten Händen. Es ist ja nicht lange, Severus", er zwinkerte ihm aufmunternd zu und wandte sich dann an McGonagall: „Minerva, ich denke wir müssen los.
Professor McGonagall zögerte, Hector hatte sich auf ihrem Arm inzwischen beruhigt. Sie ging auf Snape zu und hielt ihm widerwillig das Kind hin. Er wies mit einem Nicken auf den Sessel.
„Er kann wohl nicht zwei Tage da drin sitzen, also los!" sagte McGonagall schroff.
Langsam hob Snape beide Arme und umfasste den Oberkörper des kleinen Jungen. McGonagall ließ los. Snape zog Hector nicht an sich heran sondern hielt ihn auf Armeslänge von sich entfernt, als fürchtete er, das Kind könne wild um sich beißen oder jeden Moment explodieren. Auf Snapes Miene spiegelte sich plötzlich noch größere Abscheu wider, als ihm ein neuer Gedanke kam.
„Direktor, sie verlangen doch nicht allen Ernstes, dass ich es auch sauber halte!"
Dumbledores Mundwinkel zuckten und er musste sich zusammenreißen, als er mühsam ruhig antwortete:
„Nun, Severus, ich fürchte Hector ist noch zu jung, um sich selber darum zu kümmern",
Snapes Augenbrauen schoben sich bedrohlich dicht zusammen. „Du wendest dich am besten an einen der Hauselfen, um dieses kleine Problem zu lösen!" fügte Dumbledore schnell hinzu, „Aber für den Rest trägst du die Verantwortung. Ich habe den Hauselfen ein ruhiges Wochenende versprochen. Sie haben lange gebraucht, um das gesamte Schloss für die Schüler herzurichten. Dobby wird euch die Mahlzeiten bringen!"
„Ich nehme an, auch in der selbständigen Einnahme von Mahlzeiten ist unser junger Freund noch gänzlich unerfahren", knurrte Snape.
Professor McGonagall konnte ein leises Kichern nun nicht mehr unterdrücken. „Geben sie ihm doch einen Löffel in die Hand. Ich bin sicher, ein wenig von dem Essen wird auch in seinem Mund landen!" Die Bemerkung wurde mit einem vernichtenden Blick beantwortet. McGonagall räusperte sich: „Er wird sicher viel Schlafen – das tun Babys ja für gewöhnlich", Snape überhörte den versöhnlichen Unterton in ihrer Stimme und sah noch einmal fragend den Direktor an.
„Nun aber los!" unterbrach Dumbledore die Stille. „Severus! – Hector! Wir sehen uns Sonntag",
Sie ließen einen verwirrten Lehrer für Zaubertränke in der Tür stehen. Snape hörte gerade noch, wie Professor McGonagall sagte: „Fillibus ist nicht glücklich über diese Lösung! Das hat er uns vorhin ganz deutlich gesagt. Und du willst trotzdem, dass er…?" Dumbledore unterbrach sie „Warten wir es ab Minerva! Ich denke, so schlecht ist die Lösung nicht."
Snapes Augenbrauen zogen sich zusammen. War er gemeint oder war das durchgedrehte Pärchen mit seinen Gedanken schon wieder woanders? Was sollte der dicke Kerl aus dem Kamin mit ihm und diesem Balg hier zu tun haben? Ein gequältes Seufzen entfuhr ihm und er blickte auf Hector, den er immer noch so weit wie möglich von sich entfernt hielt. „Das darf nicht wahr sein!" zischte er leise, kehrte in den Raum zurück und konnte sich gerade noch davon abhalten, mit dem Fuß die schwere Tür hinter sich zuzuknallen.
Severus Snape hatte es sich mit einem Buch im Sessel bequem gemacht. Hin und wieder blickte er auf, um kurz die Milchflasche zu betrachten, die sich wie von Zauberhand mal über, mal in Hectors Mund hielt.
Snape verzog sein Gesicht zu einem kurzen Lächeln. Es war nicht etwa das zufrieden vor sich hin nuckelnde Baby, das ihn dazu veranlasste sondern seine, wie er fand, brillante Idee, die Milchflasche mittels eines Zauberspruches zu verselbständigen. So musste er seinem Gast nicht zu nahe kommen, was möglicherweise einen Schreikrampf geführt hätte. Wer von ihnen beiden den Schreikrampf bekommen hätte, vermochte Snape nicht genau zu sagen. Zufrieden war er auch darüber, dass die Mahlzeiten, die Dobby alle paar Stunden brachte, nur aus Milch bestanden. So musste er nicht die Überreste irgendeines grell gefärbten Breis von seinem Ledersessel kratzen. Wenn das Kind nicht gerade an einer Milchflasche sog, schlief es, ließ sich von einer verzauberten Rassel und einem auf und ab tanzenden Stofftier beruhigen oder gurrte allenfalls in einer mehr oder weniger angemessenen Tonlage vor sich hin.
Der Rest des Nachmittags und der Abend waren ruhig verlaufen. Bevor er schlafen ging, überlegte Snape, wo Hector die Nacht verbringen sollte. In seinem Schlafzimmer? Nein, dass ging zu weit. Er zauberte eine einfache kleine Holzwiege herbei und hob den Jungen hinein, vorsichtig, um eine gereizte Reaktion zu vermeiden. In der Nähe des Kamins war er sicherlich gut aufgehoben.
Die Nacht wurde unruhig und bei weitem nicht so entspannt, wie Snape es sich erhofft hatte. Er wurde jedoch nicht von einem schreienden Hector wach gehalten sondern von einem quälenden Gefühl der Sorge um den Jungen. Nicht dass Snape dieses irritierende Gefühl, das ihm den Schlaf raubte bewusst unter dem Begriff Sorge erfasst hätte! Wie sonst aber könnte sein nächtliches Verhalten gedeutet werden?
Kaum hatte er sich hingelegt, sprang er wieder auf.
- War es normal, dass das Baby so ruhig war?
Sicher, er lag friedlich schlafend in der Wiege. Snape ging zurück ins Bett.
- Schlafend? Tatsächlich? Atmete er noch? Lebte er?
Mit einem Satz war er auf den Beinen und zurück im Nebenraum an der Wiege. Gleichmäßige Bewegungen unter der Bettdecke ließen Snape erleichtert aufatmen – der Junge schlief und es gab keine Anzeichen für irgendwelche Anormalitäten.
Zurück im Bett schloss er die Augen und wartete auf den Schlaf.
- Hatte er die Wiege zu dicht an den Kamin gestellt?
Stöhnend quälte er sich aus dem Bett. Er berührte vorsichtig Hectors Wangen – sie waren nicht zu warm. Sicherheitshalber rückte er die Wiege dennoch ein Stück vom Kamin ab. Zurück ins Bett!
- Was, wenn dem Kind nun zu kalt war?
„Das ist ja lächerlich – jetzt reicht es! Es ist August – Schluss!" knurrte Snape leise in sich hinein, um sich davon abzuhalten, erneut aufzuspringen.
- Aber ein verdammt kalter, schottischer August!
Er wühlte sich aus seiner Decke. Nachdem er sicher war, dass Hector noch immer friedlich schlief und es ihm weder zu warm noch zu kalt war ließ Snape sich genervt in den Sessel neben dem Kamin fallen. Er konnte das was von der Nacht übrig geblieben war genauso gut hier verbringen. „Jetzt ist der Weg zur Wiege wenigstens nicht so lang", dachte er spöttisch.
Der viel zu kurze Schlaf wurde durch ein leises Plopp beendet. Snape streckte die steifen Beine aus und wurde sich seiner äußerst unbequemen Lage bewusst. Ohne die Augen zu öffnen knurrte er:
„Es kann doch unmöglich schon wieder Zeit für eine Milchflasche sein – wie viele Kühe braucht dieses Kind am Tag? – Oder ist es das Wechseln der… bei Merlin! Nicht auf meinem Sessel! " er fuhr alarmiert auf.
„Guten Morgen, Sir, ich wollte nur sicher gehen, dass es ihnen gut geht", sagte Dobby schüchtern und stellte das Frühstückstablett auf den kleinen Tisch.
„Den Umständen entsprechend", kam die knappe Antwort. Aus den Augenwinkeln nahm Snape wahr, dass tatsächlich eine neue Milchflasche über dem anderen Sessel schwebte. Aus der Wiege klang ein ungeduldiges Quengeln.
Er bewegte sich nicht und stellte zufrieden fest, dass Dobby mit Hector kurz verschwand und ihn kurz darauf in den Sessel setzte, wo das Baby zufrieden die Milch in Empfang nahm.
Dieser Tag würde hoffentlich so schnell vergehen wie der letzte, bis jetzt hatte er, die unruhige Nacht einmal ausgenommen, nicht allzu viel Arbeit mit seinem Gast gehabt. Sobald ein unzufriedenes Quietschen aus dem Sessel gegenüber ertönte, würde er die verzauberte Rassel und das lächerlich bunte Stofftier zum Einsatz bringen, die den Jungen auch am gestrigen Nachmittag unterhalten hatten. Das kostete ihn nicht mehr als eine Bewegung mit dem Zauberstab. Es gab vielleicht doch noch eine Chance auf ein ruhiges Wochenende. Nie hätte er gedacht, dass ein Säugling so wenig Arbeit machen würde.
Dobby durchkreuzte seine Tagesplanung: „Nach dem Frühstück sollten sie Hector an die frische Luft bringen, Sir!"
Snapes Augenbrauen zogen sich erstaunt nach oben. Bevor er etwas erwidern konnte fügte der Hauself hinzu: „Den ganzen Tag im Halbdunkeln zu verbringen ist nicht gesund für ihn!" „Und für sie auch nicht!" wollte er noch hinterher schicken, ein Blick in das Gesicht des Professors belehrte ihn jedoch eines Besseren und er verschwand leise, ohne auf eine Antwort zu warten.
„An die frische Luft?" zischte Snape und warf einen missmutigen Blick auf Hector. Was, wenn ihn jemand mit einem Baby herumspazieren sah? Er schnaubte. Gleich darauf fiel ihm jedoch ein, dass ja kaum jemand im Schloss war, der ihn sehen könnte. Er schaute erneut auf das Baby. „Ich will nicht Schuld sein, wenn du von Motten angefressen wirst, weil du anderthalb Tage hier im Halbdunkeln in meinem Sessel verbringen musst", sagte er spöttisch und erhob sich mit einem Seufzen aus dem Sessel. „Zudem muss ich noch einige Kräuter sammeln" er sah kurz auf seinen Kalender, „dafür ist heute genau der richtige Tag – verbinden wir also das Angenehme mit dem Notwendigen!" Ein zustimmendes Gurgeln ertönte aus dem anderen Sessel. Snape verzog das Gesicht. „Und du bist ganz sicher nicht das Angenehme!" murmelte er und verschwand im Bad.
