5. Mehr als nur Erinnerung

Wie transportiert man einen Säugling an den Waldrand, ohne sich lächerlich zu machen? Snape hatte sich diese Frage während des Frühstücks wieder und wieder gestellt. Ihn mit verzaubertem Spielzeug zu beschäftigen und eine Nacht im Nebensessel verbringen war eine Sache, ihn anfassen und hinaustragen eine ganz andere. Bis jetzt hatte er Körperkontakt weitestgehend vermieden. Unschlüssig stand er vor dem Sessel. Die Milchflasche war leer und Hectors Hände streckten sich verspielt nach dem kleinen Stoffbären, der vor ihm langsam auf und ab sank.

Das war die Lösung! „Mobilcorpus!" murmelte Snape und wies mit dem Zauberstab auf das Kind, das sich sogleich vom Sessel löste und auf ihn zuschwebte. Snape wollte es grinsend aus der Tür dirigieren. Hector behagte das Gefühl der Schwerelosigkeit jedoch ganz und gar nicht und ein lang gezogenes, immer lauter werdendes Schreien ließ Snape vor Schreck beinahe seinen Stab verlieren. Schnell ließ er Hector wieder mehr oder weniger weich auf dem Sessel landen. Der Junge wollte sich jedoch nicht beruhigen. Er bewies sogar, dass er noch lauter brüllen konnte.

Snape widerstand der Versuchung, sich die Ohren zuzuhalten und in den Nebenraum zu laufen. Er überlegte stattdessen, ob er Hectors Stimme lautlos zaubern sollte, das würde ihn jedoch womöglich noch mehr aus der Fassung bringen und ernste gesundheitliche Konsequenzen haben. Der kleine Kopf lief bereits bedrohlich rot an. Snape war inzwischen davon überzeugt, dass dieses Wochenende auch für ihn ernste gesundheitliche Konsequenzen haben würde. „Dobby!" schoss es ihm durch den Kopf – aber dann – nein, er würde doch nicht um Hilfe rufen. Es konnte doch nicht so schwer sein, dieses Kind zu beruhigen. In der Zwischenzeit schrie Hector weiter und entfaltete sein gesamtes Stimmvolumen.

Es gab keine andere Möglichkeit. Snape griff nach dem Baby und hob es vorsichtig aus dem Sessel. Er hielt die Luft an und bereute, sich vorher keine Watte in die Ohren gesteckt zu haben. Er schloss genervt die Augen und stellte im nächsten Moment fest, dass das Schreien weniger kräftig wurde. Er ging zur Tür und verbarg den kleinen Körper so behutsam wie möglich in seiner Robe. Das Schreien ebbte langsam ab und wurde durch ein leises Schniefen und einige tiefe Seufzer ersetzt, bevor sich Hector schließlich völlig beruhigte. Snape blickte hinunter in die großen blauen Augen. Der Junge hielt seinem Blick stand. „Na geht doch", murmelte Snape, nicht wenig erleichtert. Mit großen Schritten näherte er sich dem Hauptportal und machte sich auf den Weg zum Waldrand, wo er die ihm fehlenden Kräuter sammeln wollte.

Die Sonne schien, der Regen und die grauen Wolken der letzten Tage hatten sich verkrochen. Während Snape sich kopfschüttelnd vorstellte, was für ein lächerliches Bild er wohl gerade abgeben musste, zauberte er eine Decke hervor und ließ sie auf einen schattigen Platz in der Nähe eines Busches fallen. Nicht bevor er die verzauberte Rassel und den Bären wieder hatte erscheinen lassen, lies er Hector vorsichtig auf der Decke nieder. Beruhigt stellte er fest, dass der Junge zufrieden schien. Er konnte sich somit den Kräutern widmen.

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„Was für ein reizendes Bild! Zwei mutige Krieger im Sonnenschein!"

Snape zuckte nur leicht zusammen, verblieb dann jedoch in seiner gebückten Haltung und zupfte gewohnt vorsichtig das kleine gelbgrüne Kraut heraus. Mit einem Stirnrunzeln begutachtete er, ob alle Wurzeln mit herausgekommen waren, das war wichtig für den Zaubertrank, für den das Kraut gedacht war. Er räusperte sich, sah jedoch noch immer nicht auf.

„Wo warst du?" Dass die Frage „was machst du hier" logischer gewesen wäre als die, die er gerade gestellt hatte, kam ihm nur kurz in den Sinn. Er glaubte den Grund ihrer Anwesenheit bereits zu kennen. Es hatte lediglich Sekundenbruchteile gedauert, bis er es nach Vernehmen ihrer Stimme verstanden hatte. Endlich stand er auf, verbarg das kleine Pflänzchen in seinem Umhang und sah sie an.

Ein Lächeln lag auf Jeanne d'Abrenvilles Lippen als sie ihm schließlich in die Augen blicken konnte. Sie stand da, in einen dunkelgrünen Umhang gehüllt, scheinbar frierend, trotz der Sonne.

Sie beantwortete die Frage nicht, ihr Blick wanderte von Snape zu Hector auf der Decke. Ihr Lächeln wurde strahlender und sie bückte sich, um das Kind aufzunehmen.

Snape sah seine erste Vermutung bestätigt. Er betrachtete sie schweigend und ihm ging durch den Kopf, was für ein seltsamer Zufall es doch war, dass er erst vor wenigen Stunden seit langem wieder an sie gedacht hatte. So seltsam war es jedoch nicht, musste er sich korrigieren. Schließlich war ihr Abschied genau ein Jahr her und wenn er die Umstände ihrer Abreise bedachte… - er schob die Gedanken von sich und betrachtete stattdessen die junge Frau vor sich. Sie sah erschöpft aus, die Locken noch ein bisschen wirrer als noch vor einem Jahr, eine noch nicht ganz verheilte Verletzung zog sich blassrot über ihre linke Wange. Bei näherem Hinsehen wies der Umhang einige Risse auf. Snape wollte fragen, ob sie im Wald ein Rendezvous mit einem Werwolf gehabt hatte, sah dann jedoch davon ab und sprach aus, was er für sehr viel wahrscheinlicher hielt.

„ Du bist in die Dienste des Ministeriums getreten." Durch ein kaum wahrnehmbares Nicken wurde seine Feststellung bestätigt.

„Warum bist du nicht im sicheren Beauxbatons geblieben? Mit deinem Mann – und deinem Sohn? Die Tätigkeit als Aurorin ist wohl kaum angemessen für eine junge Mutter" Vorwurf und Sorge mischten sich im Klang seiner Stimme. Das hatte er nicht beabsichtigt, er hatte es spöttisch oder wenigstens neutral klingen lassen wollen.

„Ich bin dorthin letzten Sommer nicht mehr zurückgekehrt." entgegnete sie. „Und sicher ist man in diesen Zeiten nirgendwo, das weißt gerade du, Severus!"

Er hörte den zweiten Teil ihrer Antwort nicht, durchdachte, berechnete und verstand plötzlich jedoch den ersten Teil. Er schluckte, wagte jedoch keine direkte Frage: „Warum hast du ihn gerade hierher gebracht?" er wies auf Hector, der eine kleine Hand in den Umhang seiner Mutter vergraben hatte. „Du warst letztes Jahr froh, die Schule verlassen zu können." Snape gab sich größte Mühe, seine letzte Feststellung nicht vorwurfsvoll klingen zu lassen, doch die Fassade bröckelte erneut – genau wie vor einem Jahr.

„Hier würde man meinen Sohn kaum vermuten, " sie stockte „ Zudem ist dieser Ort der einzig einleuchtende für ihn, "

Snape beschloss, die Andeutung abermals zu ignorieren und lenkte stattdessen ab: „Warum kommst du schon heute, um ihn abzuholen? Mir wurde der Gast für das ganze Wochenende angekündigt, "

„Ich konnte meine Tarnung nicht länger aufrechterhalten und –" Obwohl die Situation für sie nicht ohne Gefahr gewesen war, musste sie schmunzeln, „Nachdem meinem Vater mitgeteilt worden war, dass ich seinen Enkel hierher zu dir bringen lasse, hat er Kontakt zu mir aufgenommen, um mich unter allen Umständen davon abzuhalten. – Er ist nicht besonders glücklich über – unser – Zusammentreffen im letzten Jahr,"

Snapes Gedanken rasten, ihm wurde fast schwindelig: „ Der Kerl aus dem Kamin!" war das einzige was er heraus brachte.

„Wie bitte?" Jeanne war verwirrt.

„Dein Vater war bereits hier, um den Direktor davon zu überzeugen, dass dies nicht der richtige Aufenthaltsort für deinen Sohn ist." kam die gequälte Erklärung.

„Ich bin sicher, Professor Dumbledore hat ihn überzeugt – er überzeugt jeden – im Übrigen bleiben wir dir erst einmal eine Weile erhalten",

Einige Augenblicke schwiegen sie. Jeanne schien alles um sich herum vergessen zu haben. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Hector, den sie liebevoll an sich drückte und in ihren Armen wiegte.

„Gut, dass du schon heute da bist, noch eine Nacht mit ihm hätte ich nicht überstanden!" unterbrach Snape die unerträgliche Stille „Ich habe nicht eine Minute geschlafen", fügte er vorwurfsvoll hinzu.

"Er hat die ganze Nacht geschrieen! – Das lag sicher an der unbekannten Umgebung", sie strich Hector zärtlich über den schwarzen Haarflaum.

„Er hat nicht geschrieen!" knurrte er „Genau das war das Problem",

Sie blickte zu ihm auf. Der Ausdruck in ihren Augen war kaum zu beschreiben, Spott, Erstaunen, Freude und – Glück? – spiegelten sich darin wider, „Du hast dir Sorgen um ihn gemacht?" Sie ging einen Schritt auf ihn zu, stand plötzlich dicht vor ihm, "Das solltest du auch! Es ist eine große Verantwortung!" flüsterte sie.

Snape wich nicht zurück, das Schwindelgefühl breitete sich aus, er bekam es jedoch unter Kontrolle, als er Jeanne fest in die Augen blickte und seinen Arm auf ihren legte. Sie hatte ihm in den letzten Minuten unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie nicht von seiner Verantwortung als Gastgeber sprach.

Ende