4. Die Wahrheit ist manchmal verrückter als die Lüge
Snape schwor sich, den Schuldigen zu finden. Zunächst wurde er jedoch von neugierigen Kollegen und dem besorgten Direktor aufgehalten, denen er Rede und Antwort stehen musste. Sie schienen alle überaus amüsiert, auch wenn sie es zu verstecken versuchten. Seine Wut darüber äußerte sich in unangenehmen Magenkrämpfen. Schließlich ließ sich die Unterrichtsvorbereitung für die nächste Woche nicht länger verschieben und er kam erst an einem Abend in der Mitte der folgende Woche dazu, sich der Aufklärung des Falls zu widmen.
Akribisch machte er sich über sämtliche Aufsätze her, die er im Laufe der letzten Woche von seinen Schülern eingesammelt und noch nicht zurückgegeben hatte. Enttäuscht stellte er schon zu Beginn seiner Beweissuche fest, dass weder Potter noch Weasley als Täter in Frage kamen, die Handschriften stimmten nicht mit der in den Briefen überein. Er suchte weiter. Beugte sich mit einer Lupe in der Hand über die Briefe und zurück über die langen Aufsatzrollen – bis sein Rücken schmerzte und er sich seufzend zurücklehnen musste. Er warf die Lupe achtlos auf den Schreibtisch, mitten in den Stapel aufgerollter Papiere.
War es vielleicht eine verzauberte Handschrift? Er zeigte mit dem Zauberstab auf einen der Briefe und sprach „Zeig' deine wahre Identität" – Nichts geschah. Er schmiss resigniert seinen Zauberstab zu der Lupe, wodurch eine der noch nicht verglichenen Schriftrollen auf den Boden gefegt wurde. Snape nahm sie auf und warf einen flüchtigen Blick hinein.
Er sprang auf. Das war es! Bei allen möglichen Personen! Ausgerechnet sie?
Harry und Ron blickten sich suchend um. „Wo ist sie denn jetzt schon wieder?" Ron biss in einen Schokofrosch, Schokolade war nach der Prüfung in Verteidigung gegen die dunklen Künste genau das Richtige.
Harry zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich zurück in der Bibliothek! Seit Beginn er Prüfungen ist sie kaum noch zu sehen"
„Um genau zu sein, hab ich sie seit dem Wochenende nicht mehr wirklich gesprochen. – Was soll's, noch morgen und dann ist der ganze Spuk vorbei!" Ron setzte sich auf die Bank vor Hagrids Hütte. Bei ihm konnten sie sich bei einer Flasche Butterbier von den Strapazen der Prüfung erholen. Hermine hatte selber Schuld, wenn sie sich das entgehen ließ.
Hermine saß währenddessen nicht in der Bibliothek sondern unter einer schattenspendenden Eiche in der Nähe des Sees. Von hier aus konnte sie das glitzernde Wasser sehen. Der sanfte Frühlingswind und das Zwitschern der Vögel beruhigten ein wenig ihre Nerven. Ihr war nicht ganz klar, wie sie in den vergangenen vier Tagen durch die Prüfungen gekommen war. Immer wieder hatte sie sich beschämt gefragt, wie sie nur auf diese unmögliche Idee gekommen war. Eine halbe Woche lang war sie umher geschlichen, immer bemüht, allen aus dem Weg zu gehen, weil sie fürchtete, man könne ihr an der Nasenspitze ansehen, was sie getan hatte. Sie fürchtete, Harry und Ron würden sich an ihre Bemerkung von vor einer Woche erinnern.
Irgendwann würde der Vorfall am letzten Samstagmorgen aber sicher aufhören, Gesprächsstoff Nummer eins unter den Schülern zu sein und außerdem war ihre Zeit an dieser Schule in wenigen Tagen vorbei. Der Gedanke beruhigte sie nur kurz. Am meisten fürchte sie sich nämlich vor einer ganz anderen Person. Hermine konnte nur hoffen, dass…
„Miss Granger! Hier findet man sie also!"
Hermine musste nicht aufsehen, um zu wissen, wer sie in ihrem schattigen Versteck aufgespürt hatte. Sie fühlte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Sie versuchte sich einzureden, dass er vielleicht etwas ganz anderes von ihr wollte, bezweifelte es jedoch. Hermine stieß sich mit einer Hand vom Baumstamm ab und stand auf. Sie wollte ihm lieber gegenüber stehen, als ihm zu Füßen zu kauern. Mist! Er war noch immer anderthalb Köpfe größer als sie. „Professor Snape!" sie versuchte sich an einem überraschten Lächeln und scheiterte kläglich.
„So allein ?" Seine Stimme war dunkel und lauernd.
Hermine fiel keine Antwort ein. Er erwartete auch keine. „Ich wollte gerade zurück ins Schloss!" Sagte sie schnell, drehte sich um und ging los. Sie hörte ein kurzes Auflachen hinter sich.
„Nein, das wollten sie nicht!"
Sie drehte sich ihm wieder zu.
„Auf ein Wort, Miss Granger!" er machte eine übertrieben einladende Handbewegung in Richtung des Baumstammes. Hermine kam langsam zurück.
Endlose Sekunden verstrichen, in denen er sie einfach nur mit unergründlicher Miene musterte. Sie blickte in alle möglichen Richtungen, nur um seine Augen zu meiden. Länger würde sie das nicht mehr aushalten. Ihre Knie begannen zu zittern.
„Also!" unterbrach er die unerträgliche Spannung. „Ich hatte in den letzten anderthalb Tagen, in denen ich vergeblich versucht habe, sie aufzuspüren, genug Zeit, um darüber nachzudenken, was in aller Welt sie zu dieser Unverschämtheit veranlasst hat." Snape betonte jedes einzelne Wort mit ruhiger aber eisiger Stimme.
Hermine machte einen letzten verzweifelten Versuch: „Was meinen sie, Professor?"
Snapes Miene verfinsterte sich. „Es hat keinen Sinn, es zu leugnen. Ihre Handschrift hat sie verraten." Er verschränkte die Arme vor dem Oberkörper und baute sich vor ihr zu einer undurchdringlichen Mauer auf. „Was war es? Rache für die vielen Male, in denen ich sie während der Zaubertrankstunden ignoriert habe?" Er schnaubte „ Das ist lächerlich, Miss Granger. Ihre Noten ließen wohl trotzdem nicht zu Wünschen übrig. Oder war es eine Mutprobe, eine Wette? – Haben Mr. Potter und Mr. Weasley sie zu dem Unfug angestiftet? Das sähe ihnen ähnlich!"
„Harry und Ron haben mit der ganzen Sachen nichts zu tun, Professor. Das müssen sie mir glauben." Hermine biss sich auf die Lippen. Über Snapes Gesicht huschte ein triumphierendes Lächeln.
Mit einem Satz war er bei ihr. Sie sah sich plötzlich zwischen ihm und dem Baumstamm in die Enge getrieben. Sein Gesicht kam beunruhigend nah, seine Stimme war leise, rau und bedrohlich, als er sagte: „Hätten sie dann jetzt bitte die Güte, mir zu erklären, wer oder was mit dieser Sache zu tun hat!"
Hermine tastete hinter ihrem Rücken nach dem Baumstamm, fühlte seine raue Oberfläche und rutschte nervös mit ihren Fingern darüber. Er war ihr inzwischen so nahe gekommen, dass sie kaum eine andere Wahl hatte, als in die funkelnden schwarzen Augen zu sehen.
„Nicht Rache." stieß sie plötzlich hervor.
Soweit dies möglich war, kam er ihr noch ein Stück näher, sein Gesicht war nun nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt. „Sondern?"
Hermine versuchte ruhig zu atmen, „Frühlingsgefühle!" entfleuchte es ihr, ohne das sie wirklich darüber nachgedacht hatte.
Snape wich verwirrt ein Stück zurück. Diese Antwort hatte er nun wirklich nicht erwartet.
„Nur zur genauen Aufklärung dieser seltsamen Umstände, Miss Granger, ihre Frühlingsgefühle haben sie dazu veranlasst, für mich diese lächerliche Kontaktanzeige aufzugeben?"
„Ja." Hermine war nun selber verwirrt. Dass der Ausgangspunkt dieses fehlgeschlagenen Plans ihre eigenen Frühlingsgefühle gewesen waren, war ihr bis jetzt nicht wirklich bewusst gewesen.
„Ich wollte ihnen nur helfen, Professor. In der allgemeinen Aufregung vor den Prüfungen habe ich aber in meinen Antworten an die Damen ein falsches Datum für das erste Treffen ausgemacht," sie schluckte als sie bemerkte, wie Snapes Augenbrauen sich zusammenzogen und er wieder bedrohlich nah kam. „Es war eigentlich vorgesehen, dass ich ihnen die Antworten der Damen nach den Prüfungen zukommen lasse und sie dann selber entscheiden können…"
„Das ist die dümmste Idee, die mir je zu Ohren gekommen ist!" Unterbrach er sie donnernd.
„Ja!" entfuhr es Hermine bestätigend.
Er ignorierte es und tobte: „Ist ihnen eigentlich klar, in was für eine Lage sie mich gebracht haben? Sie haben mich zum Gespött der ganzen Schule gemacht!" Wütend packte er sie fest bei der Schulter.
Bewegungsunfähig nahm Hermine die Nähe seines Gesichts wahr und spürte seinen Atem auf ihrer Haut. Ihre Gedanken rasten. Für einen kurzen Augenblick hatte sie hatte Angst, er würde sie töten oder – noch schlimmer – so kurz vor Ende der Prüfungen von der Schule verweisen lassen. Ihre Gedanken verschwammen, die Knie gaben endgültig nach und sie fiel.
Snape fing sie auf und verhinderte so einen unsanften Aufprall. Wenig gefühlvoll lehnte er sie gegen den Baumstamm. „Miss Granger, sie wachen sofort auf! Wir sind hier noch nicht fertig!" knurrte er ungehalten, betrachtete sie jedoch mit etwas Sorge.
Langsam kam Hermine zu sich und blickte zu ihm hoch. Wackelig stellte sie sich wieder auf ihre Beine. „Professor Snape, es tut mir schrecklich leid."
„Glauben sie nicht, dass es damit getan ist!" Als er sah, dass sie sich erholt hatte, ging er wieder auf sie zu, packte diesmal beide Schultern und rüttelte sie leicht, um dann gefährlich leise fortzufahren: „Warum glauben sie, mir müsste geholfen werden? Und woher haben sie Kenntnis darüber, wie sie mir helfen können? So langsam verstehe ich! – Ihre lächerlichen Briefe und Vorstellungen über mich sind das Produkt ihrer eigenen Jungmädchenphantasie, Miss Granger! Mit meinen Vorlieben und Wünschen haben die Damen, die sie leichtsinnigerweise für mich ausgesucht haben, rein gar nichts zu tun."
Snape hielt inne und fixierte Hermine. Diese drohte in den schwarzen Augen zu ertrinken, irgendetwas in ihrem Magen schien aufzuschreien und sich wie wild zu drehen, so dass sie kaum atmen konnte. Sie brauchte dringend Luft oder sie würde ganz sicher sterben. Verstört überlegte sie kurz, was für einen Zauber Snape auf sie gelegt haben könnte, als dieser plötzlich seine Hände von ihren Schultern nahm, die Finger stattdessen in ihren wirren Locken vergrub und seine Lippen sanft auf ihren Mund drückte.
In Hermine explodierten tausend Feuerwerke, sie fühlte sich gegen den Baumstamm gedrückt, Snape presste sich eng an ihren Körper, seine Finger zerwühlten leidenschaftlich ihr Haar, seine Lippen ließen nicht von ihren ab. Hermine keuchte. Sie brauchte dringend Luft! Andererseits…
