TITEL: 100 tears away
TEIL: 2/3
FSK: PG-13
GENRE: Romanze
CHARAKTER(E)/PAAR(E): Garret, Annie
SPOILER: 5. Staffel (einschließlich „Luck be a Lady")
INHALT: Garret schmeißt seinen Job in Boston und geht nach Detroit, um noch einmal neu anzufangen und Abstand zu gewinnen. Doch dort muss er erkennen, dass die Vergangenheit oft näher ist als man denkt …
DISCLAIMER: Nichts gehört mir, alles gehört Tim Kring. Ich borge mir die Figuren und Orte nur aus und werde alles ordentlich gewaschen und gebügelt wieder zurückgeben! Nur die Handlung gehört mir …
BEMERKUNG: Mein Beitrag zur Challenge in der Livejournal Community jcareathon. Das Zitat, das in irgendeiner Art verwendet werden sollte, lautet A woman wears her tears like jewelry
Vielen Dank an meine Beta Mariacharly und an sie und CallistaEvans für die lieben Reviews.
So, jetzt geht es aber weiter im Text. Ich hoffe, es gefällt Euch dieses Mal auch und ihr hinterlasst ein (kleines) Review…
Wie Garret vermutet hatte, war Fisher nur ein Trittbrettfahrer, der den Serientäter imitiert hatte. Bei ihm fand man zwar den Schmuck von Allison Schneider und er gab auch nach einem kurzen Verhör und ein wenig Druck von Annie zu, den Mord begannen zu haben, doch für die anderen Morde hatte er Alibis, die wasserdicht waren. Der Staatsanwalt erhob Anklage, Fisher wurde in Untersuchungshaft gebracht und die Ermittler standen wieder da, wo sie angefangen hatten: Ganz am Anfang.
Zwei Tage später saßen Annie und Garret in seinem Büro und gingen die Akten der bisherigen Tränenschmuck-Opfer durch. Garret hatte die Akte mit dem Autopsiebericht des sechsten Opfers, die er gerade gelesen hatte, zugeklappt und sich nach hinten gelehnt, um sich die Schläfen zu massieren. Die Kopfschmerzen wurden einfach nicht besser – und der Schlafmangel und die Unmengen an Kaffee, die er seit dem Morgen in sich hineinschüttete, trugen nicht gerade dazu bei, dass die Kopfschmerzen jemals besser werden würden.
Nach Fishers Festnahme hatte sich die Presse wie die Geier auf sie gestürzt und gefordert, dass der Fall schnell aufgeklärt wurde. Das hatte Garret den ersten Fernsehauftritt und einen Haufen Ferngespräche aus Boston beschert, worauf er überhaupt nicht stolz war. Er hatte sich seinen Einstieg irgendwie ruhiger und weniger dramatisch vorgestellt – und nicht als einsamen Held fern der Heimat, wie Nigel ihn dramatisch betitelt hatte.
Er beobachtete Annie, die auf einem Stuhl in der Ecke saß. Vor sich auf dem Boden hatte sie die Bilder sämtlicher Opfer ausgebreitet und auf den Schoss lagen die Tatortberichte. Sie sah müde und erschöpft aus und es schien, als hätte sie auch seit Tagen nicht mehr geschlafen. Der Fall schien ihr zu Schaffen zu machen.
Er lächelte, als er sah, wie sich ihre Stirn in Falten legte, und sie nachdenklich auf ihrer Unterlippe kaute. Wie ein kleines Kind, dachte Garret, nur viel hübscher, aber doch irgendwie niedlich...
Um diesen Gedanken nicht zu Ende bringen zu müssen, griff er schnell nach der nächsten Akte und versuchte sich abzulenken. Er hatte in den letzten Tagen sehr oft an Annie denken müssen, was ihn irritierte. Sie hatte es irgendwie geschafft, dass er sich schnell in Detroit eingelebt hatte – und das, obwohl sie sich kaum gesehen und außer über dienstliche Dingen nicht viel geredet hatten. Dank ihr musste er sich morgens nicht mehr aus dem Bett quälen, sondern stand schon gut gelaunt auf und freute sich auf die Arbeit.
Annie sah in dem Moment auf, als Garret nach der nächsten Akte griff und sie aufschlug. Ihr war nicht entgangen, dass er sie beobachtet hatte und sie lächelte leicht. Sie wurde aus dem Mann einfach nicht schlau. In einem Moment war er fast gut gelaunt und im nächsten verfinsterte sich seine Miene und es bildete sich diese tiefe Falte auf seiner Stirn, so dass man fast Angst vor ihm bekommen konnte. In den letzten zwei Tagen hatte sie ihm schon mehrmals gesagt, er solle nicht so stinkig schauen. Anfangs nur, um ihn zu ärgern – wie sie es damals in Boston auch schon getan hatte – aber mittlerweile tat sie es, um ihn aufzumuntern. Und es half - meistens.
„Ich glaube, ich habe da was", sagte Garret plötzlich und blickte auf. Annie stand neugierig auf und ging zu ihm hinüber, um ihm über die Schulter zu blicken.
„Ist es nicht merkwürdig, dass unser Mr. Buchanan drei der sieben Mordopfer gefunden hat?", fragte Garret und zeigte ihr die Akten.
„Zeigen Sie mal her", meinte Annie und beugte sich etwas näher zu ihm herüber. Garret konnte ihren warmen Atem in seinen Nacken spüren und der Duft ihres Shampoos riechen. Als sie nach vorne griff, um ein Blatt aus der Akte zu nehmen, streifte sie zufällig seinen Arm. Garret verkrampfte sich augenblicklich und hielt die Luft an. Auch Annie verharrte und blickte ihn an. Er drehte den Kopf, so dass ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt waren. Er hätte den Kopf nur ein klein wenig weiter nach vorne neigen müssen, um sie zu küssen und -
Er löste sich aus seiner Erstarrung und wich zurück. Was war nur los mit ihm? Warum machte ihn die Gegenwart dieser Frau nur so nervös?
„Ja, also", sagte Garret und räusperte sich und fixierte einen Punkt an der Wand, knapp über Annies Schulter. Würde er sie länger ansehen, würde er die Kontrolle verlieren und das zu Ende bringen, was er gerade noch rechtzeitig abgebrochen hatte.
„Buchanan hat das erste Opfer, Ms Tyler gefunden und zwar am südlichen Ende des Beverly Parks. Das zweite Opfer, Miss Bunt…"
Annie hörte nur mit halben Ohr zu, was Garret ihr erklärte. Sie war verwirrt und schaffte es nicht, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Was war hier gerade geschehen? Waren sie wirklich kurz davor gewesen, sich zu küssen? Das hatte sie sich doch nur eingebildet, oder etwa nicht?
Sie schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück, um dann wieder um den Schreibtisch herum zu gehen.
„… und wenn man die Fundorte auf einer Karte einträgt, dann -", fuhr Garret fort und reichte Annie ein Blatt Papier, auf dem die Umrisse des Beverly Parks abgebildet war. Er hatte die Fundorte der Leichen markiert und verbunden.
„- dann erhält man die Form zweier Diamanten, von denen einer noch nicht geschlossen ist", brachte Annie den Satz zu Ende. Sie pfiff leise durch die Zähne. Das war ja … Warum waren ihre Jungs eigentlich nicht darauf gekommen?
„Garret, Sie sind ein Genie!", sagte sie. „Das muss ich sofort an meine Kollegen weiter reichen. Wenn wir die Punkte vermessen, dann können wir vielleicht den nächsten Tatort eingrenzen und -"
„Das habe ich schon erledigt", sagte Garret und reichte Annie ein weiteres Blatt. Ihren fragenden Blick beantwortete er mit einem „Das kommt davon, wenn man jahrelang mit Nigel zusammenarbeitet. Da schnappt man einiges auf."
Er grinste Annie an.
„Also, wenn ich mich nicht irre, dann wird er genau hier zuschlagen." Er deutete auf eine Stelle, wo in kleinen Buchstaben ‚Abenteuerspielplatz' stand.
Annie grinste breit.
„Doc, Sie sind genial!" Sie beugte sich über den Schreibtisch zu ihm hinüber, nahm sein Gesicht in beide Hände und drückte ihm einen kurzen, aber liebevollen Kuss auf den Mund. Bevor Garret auch nur reagieren konnte, hatte sie sich die Akte geschnappt und war schon auf dem Weg zur Tür.
„Ich muss sofort zum Revier", erklärte sie. „Wollen Sie mitkommen? Wir könnten im Anschluss Mr. Buchanan einen Besuch abstatten."
Von dem Kuss noch völlig verwirrt, konnte Garret nur stumm nicken. Er stand auf, schnappte sich seinen Mantel und lief hinter Annie her, die schon auf dem Flur verschwunden war.
-o-
„Glauben Sie, er ist unser Mann?"
Garret saß neben Annie auf dem Beifahrersitz ihres Wagens, während sie sich durch den Feierabendverkehr schlängelten, und versuchte das Gespräch auf einer dienstlichen Ebene zu führen, die weit von dem entfernt war, was wirklich in seinem Kopf vorging. Ein schwieriges Unterfangen, wie er schnell festgestellt hatte.
Während der Fahrt zum Präsidium und dann zu Buchanan hatten sie kaum miteinander gesprochen und Garret vermutete, dass Annie die ganze Sache ziemlich peinlich war.
Bloß nicht über den Kuss nachdenken, sagte er sich immer wieder. Er hat nichts zu bedeuten. Absolut gar nichts. Sie scheint ihn ja auch wieder vergessen zu haben. Er bedeutet nichts – absolut gar nichts.
Sie hatten Buchanan einen Besuch abgestattet und mit ihm gesprochen. Buchanan wohnte in der Nähe von Allison Schneider in einer kleinen Einsiedlerwohnung am Rande des Parks. Er machte einen eher unscheinbaren Eindruck, war zwar höflich gewesen, aber doch irgendwie nervös.
„Ich weiß es nicht", antwortete Annie. „Er schien mir irgendetwas zu verbergen zu haben."
Garret nickte. Ja, den Eindruck hatte er auch.
„Tja, was auch immer es ist, seine Alibis für die Morde scheinen wasserdicht", fuhr Annie fort. „Aber ich werde das genau überprüfen lassen. Und wenn mir irgendetwas faul verkommt, werde ich ihn beschatten lassen. Man kann nie wissen."
Schweigend fuhren sie eine Weile weiter, bis Garrets Magen plötzlich zu knurren begann.
„Haben Sie Hunger?", fragte Annie ungeniert. „Ich kenne da einen gemütlichen Drive-In, nicht weit von hier. Und Hunger hätte ich auch."
Ehe Garret protestieren konnte, hatte sie ihren Wagen auch schon gewendet und war auf dem Weg.
Das Max Corner gefiel Garret. Es war ganz im Stil der 60er gehalten. Die roten Sitzbänke waren weich gepolstert und grüne Lampen hingen über den Tischen, die dem Raum eine gemütliche Atmosphäre verliehen. Aus der Jukebox in der Ecke erklangen die ersten Takte von „Love me tender", als sie eintraten.
Das Diner war fast leer und Annie steuerte zielstrebig einen Platz in der hinteren Ecke neben der Jukebox an.
Nachdem sie bestellt hatten - einen Salat und einen Kaffee für Annie und einen Burger mit Kaffee für Garret – redeten sie über den Fall, über das Wetter, das letzte Spiel der Red Sox, bis ihnen der Gesprächsstoff ausging und sie schweigend ihren eigenen Gedanken nachhingen.
„Mein Dad ist früher oft mit mir hergekommen", sagte Annie nach einer Weile leise. Garret blickte auf und sah ihr direkt in die traurigen Augen.
„Wo ist er jetzt?", fragte er, obwohl er die Antwort schon zu kennen glaubte.
„Er ist gestorben", antwortete Annie. „Vor acht Monaten, kurz nach Weihnachten."
„Wie?", fragte Garret. „Ich meine, was ist passiert?" Er griff automatisch nach Annies Hand, mit der sie zitternd ihre Kaffeetasse umklammert hielt, und strich sanft darüber. Aus jahrelanger Erfahrung wusste er, wie er trauernden Menschen ein wenig Trost spenden konnte – er war nicht so gut wie Lily, aber immer noch gut genug, um das hier durchzustehen. So hoffte er...
Annie schwieg einen Moment, bevor sie zu reden begann. Sie hatte nicht von ihrem Vater sprechen wollen und auch nicht darüber nachgedacht, als sie das Diner ausgesucht hatte. Doch irgendwie hatten die Erinnerungen sie plötzlich überfallen.
„Er hatte einen Herzinfarkt", begann sie und räusperte sich. Dass Garret ihre Hand genommen hatte und sanft mit dem Daumen darüber strich, nahm sie gar nicht wahr. „Es war zwei Wochen nach Neujahr."
Sie hatten gerade damit angefangen, den Weihnachtsbaum abzubauen und Richard Capra war dabei gewesen, die silbernen Kugeln in die Schachtel zu packen, während Annie in der Küche nach einer Tüte für das Lametta gesucht hatte. Als sie plötzlich ein klirrendes Geräusch aus dem Wohnzimmer gehört hatte, hatte sie alles stehen und liegen lassen und war zu ihrem Vater geeilt.
„Er lag auf den Boden, genau vor der Krippe, inmitten von silbernen Glassplittern und hielt sich den linken Arm", sagte Annie. „Ich bin zu ihm geeilt und wollte ihm helfen."
Sie hatte alles, was sie im Erste Hilfe Kurs gelernt hatte, angewandt, um ihren Vater zu retten. Vergebens.
„Ich konnte nichts mehr tun; nur den Notruf wählen und warten. Ich habe mich selten so hilflos und unsicher gefühlt", gab sie zu. „Er ist in meinen Armen gestorben."
Sie hatte auf dem Boden gesessen, ihren Vater im Arm, und musste mit ansehen, wie dieser immer schwächer wurde, kaum noch atmen konnte und immer fahler im Gesicht wurde.
„Er hatte die Augen geschlossen und atmete ganz unregelmäßig." Annie hatte Tränen in den Augen, während sie sprach und musste sich mehrmals räuspern. „Dann … hat er plötzlich die Augen geöffnet und mich angesehen. Er hat leise meinen Namen geflüstert und gesagt, ich solle nicht traurig sein. Können Sie sich das vorstellen, Garret? Er liegt im Sterben und macht sich nur Sorgen um mich." Sie lachte leicht hysterisch auf und Garrets Herz sank ihm in die Hose.
„Dann ist sein Blick ganz starr geworden, sein Körper hat sich verkrampft und er hat aufgehört zu atmen. Einfach so. Und ich konnte nichts tun, Garret. Gar nichts. Ich meine, wofür habe ich diese ganzen Erste Hilfe Kurse gemacht? Es war … es war, als hätte ich alles vergessen. Mein Kopf war … leer. Ich hätte ihm helfen müssen…"
Durch einen Tränenschleicher sah sie, dass Garret aufgestanden war und neben ihr in die Bank rutschte. Im nächsten Moment spürte sie, wie er sie in seine Arme zog und beruhigend auf sie einredete.
„Du warst für ihn da. Das hat er gespürt und das ist es doch, was zählt." Dass er sich ziemlich hilflos und unbeholfen fühlte und sich mehrmals wünschte, bei Lily ein paar Nachhilfestunden genommen zu haben, bekam sie nicht mit. Sie war einfach nur froh, dass jemand da war; jemand, mit dem sie reden konnte, der sie verstand.
Nachdem sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, löste sie sich aus Garrets Umarmung und blickte beschämt zu Boden.
„Es tut mir Leid", sagte sie. „Ich wollte mich nicht bei dir ausweinen."
„Aber das ist doch verständlich, Annie. Du musst dich nicht entschuldigen, hörst du", sagte Garret und blieb neben ihr sitzen. Er war vorhin einfach zum ‚du' übergangen. Da sie es auch tat und er es sowieso albern fand, sie nach dem Kuss und überhaupt weiterhin zu siezen, blieb er dabei.
„Es gibt nichts, was du entschuldigen müsstest. Es war sicher nicht leicht für dich, das alles durchzustehen. Und es ist doch auch alles noch so frisch." Er schob ihr eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr.
„Es braucht seine Zeit, bis man damit klar kommt. Aber sei dir darüber im Klaren, dass der Schmerz nie ganz weggehen wird. Du wirst nur eines Morgens aufwachen und feststellen, dass es nicht mehr das erste ist, woran du denken musst." Er lächelte sie aufmunternd an und musste plötzlich an seine Mutter denken. Er hatte Monate gebraucht, um mit ihrem Tod klar zu kommen und er war immer noch traurig, wenn er sich an sie erinnerte. Aber er war damals auch nicht alleine gewesen; er hatte Maggie und Abby gehabt, die ihm durch die schwere Zeit geholfen hatte. Doch Annie … sie schien niemanden zu haben.
„Was ist mit deiner Mutter?", fragte er leise und reichte Annie eine Servierte.
„Danke", sagte diese und wischte sich die Tränen weg. „Meine Mutter habe ich nie kennen gelernt. Sie ist bei meiner Geburt gestorben. Ich bin mit meinen Dad alleine aufgewachsen."
„Oh, das tut mir Leid", sagte Garret und ohrfeigte sich innerlich, weil er so taktlos gewesen war.
„Nein, das ist schon in Ordnung. Es ist … also, so seltsam das auch klingen mag, aber ich habe meine Mutter nie vermisst." Sie lächelte schüchtern. „Es hat irgendwie nie etwas gefehlt. Mein Dad ist … ich meine, er war klasse. Er war auch Polizist, hier in Detroit. Als ich klein war, hat er mich oft mit aufs Revier genommen. Das war wie mein zweites Zuhause." Ihr Gesicht erhellte sich, während sie von diesen offenbar schönen Erinnerungen sprach. Garret freute sich darüber und unterbrach sie nicht. Er hörte einfach weiter zu.
„Die Kinder in der Schule waren alle ziemlich neidisch, wenn einer von Dads Kollegen mich mal wieder von der Schule abgeholt hat. Alle wollten mit mir befreundet sein und auch in den Genuss kommen, mit einem Polizeiauto fahren zu dürfen. Am Anfang fand ich das noch lustig und habe mich über so viel Aufmerksamkeit gefreut. Aber mit der Zeit habe ich dann schon gemerkt, wie der Hase läuft." Sie nahm ihren Kaffee und trank einen Schluck.
„Ich glaube, ich bin nur wegen Dad zur Polizei gegangen", sagte Annie nach einer Weile. „Ich hatte das Gefühl, dass ich ihm den Gefallen tun musste." Sie wurde nachdenklich. „Aber bereut habe ich es nie. Es macht Spaß, die bösen Jungs zu fassen und für ein wenig Gerechtigkeit in dieser ungerechten Welt zu sorgen."
„Warum bist du aus Detroit weggegangen?", fragte Garret plötzlich, als ihm bewusst wurde, dass Annie schon eine ganze Weile schwieg.
Sie sah auf.
„Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten", sagte sie leise. „Ich war irgendwie immer nur die kleine Annie, die Tochter von Detective Richard Capra. Nie hat man mich nach dem beurteilt, was ich konnte, immer nur nach dem, was ich war. Deshalb bin ich gegangen."
Garret nickte verstehend, sagte aber nichts.
„In Boston war das anders. Dort wusste niemand, wer ich war. Dort hat man mich so akzeptiert, wie ich war und nach dem beurteilt, was ich geleistet habe. Es war eine schöne Zeit", sagte sie wehmütig. „Und wir haben einige böse Jungs weggesperrt, oder?"
„Ja, das haben wir", sagte Garret. „Mehr oder weniger erfolgreich." Er dachte dabei an Oliver Titlemans Rückkehr, sagte aber nichts weiter dazu.
Die Kellnerin, die bisher nur gelangweilt an der Theke gelehnt und in den Fernseher gestarrt hatte, kam an ihren Tisch, um die leeren Teller abzuräumen und um zu fragen, ob sie noch etwas trinken wollte. Nachdem Garret sich kurz mit Annie abgesprochen hatte, verneinte er und bat stattdessen um die Rechnung. Es war mittlerweile schon spät. Der Tag war lang gewesen und der kommende würde es ebenfalls sein.
Nach einem kurzen Streit darüber, wer zahlte, zog Garret einen Geldschein aus der Tasche und half Annie in ihre Jacke.
Auf dem Weg zum Wagen stellte er die Frage, die ihn schon die ganze Zeit gequält hatte. „Warum bist du aus Boston wieder weggegangen? Du warst plötzlich verschwunden, niemand wusste warum oder wo du warst."
Annie seufzte, schloss den Wagen auf und stieg ein.
„Einen Monat, bevor ich nach Boston gekommen bin, ist Dad pensioniert worden", sagte sie und startete den Wagen. „Das scheint ihm nicht bekommen zu sein. Er ist zweimal zusammengebrochen, während ich in Boston war. Beim dritten Mal hat sein Arzt ihn endlich dazu überreden können, dass er mich anrufen darf. Dr. Meyers meinte, die plötzliche Ruhe hätte ihm nicht gut getan. Dazu noch das Übergewicht und die vielen Zigaretten."
Sie schluckte und blickte unwillkürlich auf den Aschenbecher im Armaturenbrett. Sie hatte das Rauchen sofort aufgegeben, als Dr. Meyers ihr sagte, wie gefährlich dieses Laster für ihren Vater war. Das Rauchen gefährlich war, wusste sie schon, bevor sie in der Highschool ihre erste Zigarette geraucht hatte. Aber da es damals alle taten und ihr Vater auch, hatte sie sich nicht davon abhalten lassen.
„Ich habe dann sofort meine Koffer gepackt und bin nach Detroit geflogen", fuhr Annie fort. „Als es meinem Vater dann wieder besser ging und er zurück nach Hause konnte, bin ich geblieben. Die Stelle in Boston war sowieso schon längst neu besetzt, aber hier in Detroit war gerade eine Stelle frei geworden. Glück für mich, oder?", fragte sie und grinste halbherzig.
Garret nickte nachdenklich. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass sie nicht ganz freiwillig geblieben war. Wahrscheinlich war sie hier immer noch die kleine Annie, die Tochter von Richard Capra – ob dieser nun noch lebte oder nicht, das machte keinen Unterschied. Und er hatte auch die Blicke und Bemerkungen seiner eigenen Kollegen, wenn Annie anwesend war, nicht vergessen. Als Frau hatte man es schwer, sich zu beweisen – und in einem Männerjob erst recht.
-o-
Die nächsten zwei Tage verbrachte Annie am Schreibtisch. Die Staatsanwaltschaft wollte die Berichte zum aktuellen Stand der Ermittlungen haben, Buchanans Alibis mussten überprüft und die Vorbereitungen für den nächtlichen Einsatz koordiniert werden. Man hatte Annie die Leitung der ganzen Operation übertragen und sie war Telefonzentrale, Koordinator und Ansprechpartner für die Kollegen vor Ort, den Staatsanwalt, die lästige Presse und ihren Chef in einem.
Irgendwie war wohl durchgesickert, dass der nächste Mord nach Zeitplan in der kommenden Nacht anstehen würde - oder die Presseleute hatten selber eins und eins zusammengezählt und war so darauf gekommen. Garret hatte ganze Arbeit geleistet und nicht nur das Muster der Tatorte zusammen gefügt, sondern auch noch herausgefunden, dass sämtliche Morde bei Neumond stattgefunden hatten; dann, wenn die Nacht am Dunkelsten war.
Bis zum Mittag waren die Alibis überprüft - und so wasserdicht, wie Annie vermutet hatte, waren sie nicht gewesen. Ein kurzer Anruf bei Larry Paul hatte genügt, und Annie hatte eine weitere Aufgabe dazubekommen: Die Beschattung planen und koordinieren.
Bis zum nächsten Mittag wusste sie, wann Buchanan schlafen ging, wann er aufstand, wie oft er am Tag auf der Toilette verschwand und wo er seine Brötchen kaufte. Nur die Strecke, die er angeblich täglich joggte, fanden sie nicht heraus. Entweder war Buchanan krank oder er ging gar nicht so regelmäßig joggen, wie er behauptet hatte.
Doch abgesehen davon schien sich Buchanan ziemlich unauffällig zu verhalten, und Annie hatte schon die Befürchtung, dass sie den falschen Verdächtigen beobachteten. Auch die Kollegen, die den möglichen nächsten Tatort observierten, langweilten sich und hatten nichts zu berichten.
Annie gähnte und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie streckte Arme und Beine aus und versuchte die Verspannungen zu lockern. Sie war nervös und aufgeregt. Wenn dieser Einsatz schief ging, wenn sie es vermasselte, dann würde sie sich warm anziehen müssen. Sowohl die Presse als auch die Staatsanwaltschaft wurden von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute ungeduldiger und forderten Ergebnisse.
Doch das war nicht der einzige Grund, warum sie so nervös und unruhig war. Der Grund hatte einen Namen: Garret, der ihr seit Tagen im Kopf herumspukte. Er und dieser Kuss …
Sie hatte ihn nicht küssen wollen … oder doch - eigentlich hatte sie es schon gewollt und wollte es immer noch – aber nicht so, nicht auf diese Art. Sie hatte sich in den letzten Tagen immer wieder gefragt, ob es nicht ein Fehler gewesen war, ob sie ihn damit endgültig verscheucht hatte, ob dieser Kuss vielleicht etwas beendet hatte, was gerade erst angefangen hatte.
Aber hatte sie das wirklich? Hatte sie ihn geschockt, verscheucht? Wenn ja, warum war er dann so nett und verständnisvoll gewesen und hatte sie getröstet, als sie ihm von ihrem Vater erzählt hatte? Aus Mitleid? Oder weil er sie auch mochte?
Sie mochte Garret, sehr sogar. Und sie wollte, das er ein Teil ihres Lebens war; als Kollege, als Freund – vielleicht als mehr …
Darüber würde sie nachdenken und vielleicht auch mit ihm sprechen müssen, wenn das alles hier vorüber war und sie wieder ein bisschen zur Ruhe kommen konnte. Nicht jetzt …
Annie blickte auf die Uhr; es war fast sechs. Sie nahm ihre leere Tasse Kaffee und wollte gerade in die Teeküche gehen, um sich Nachschub zu holen, als ihr Rechner piepte. Sie setzte die Tasse wieder ab und rief ihr Email-Programm auf. Am Morgen hatte sie die Kollegen in Seattle angeschrieben und sie um Mithilfe gebeten. Bis auf die Tatsache, dass Buchanan vor etwa fünf Jahren von Seattle nach Detroit gezogen war, hatte sie nämlich nichts in ihren Akten finden können.
„Bingo!" rief sie, nachdem sie die Email überflogen hatte. Das war doch genau das, was sie gesucht hatte. Sie druckte die Mail aus, schnappte sich ihren Mantel und den Autoschlüssel und fuhr zum Institut.
-TBC-
