Er spielte seine Orgel. Sie wusste nicht , ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, denn der Widerhall der Höhle machte es ihr unmöglich, die Stimmung seines Spiels auszumachen. Vorsichtig jedes Geräusch vermeidend, das ihre Anwesenheit verraten könnte, kam sie langsam näher, bis sie einen klareren Eindruck von seinem Lied bekam. Es war eine ruhige, leichte Melodie, und doch besaß sie einen Hauch von Ironie, ja Erheiterung. Er war offensichtlich sehr mit sich zufrieden. Sie kam zu dem Schluss, dass es sicher war, ihn anzusprechen und ging weiter, bis sie direkt hinter ihm stand.

Sie erkanntre an seiner veränderten Körperhaltung, dass er sie bemerkt hatte, doch er unterbrach sein Spiel nicht, und er nahm sie auch in keiner anderen Weise zur Kenntnis.
Sie kannte das nur zu gut; er, der wartete, damit sie den ersten Schritt tat. Seit sie ihn an diesen Ort gebracht hatte, hatte er immer ihre Führung, ihren Rat gesucht. Immer. Bis er begonnen hatte, ungewöhnlich viel Interesse an einem gewissen Chormädchen zu zeigen. An diesem Punkt warn ihr Kontakt plötzlich abgebrochen. Sie hatte wiederholt versucht, seine Grotte zu erreichen, aber das Gittertor auf den See war stets verschlossen gewesen. Heute Nacht war es offen. Ein weiteres Zeichen für seine gute Stimmung ...

Plötzlich bemerkte sie, wie sehr sie sich in ihren Gedanken verloren hatte, und sie öffnete den Mund, um ihn anzusprechen.

„Wie überaus freundlich von dir, deine Tür wieder für mich zu öffnen." Sie konnte sein Lächeln beinahe spüren. „Mademoiselle la danseuse, sie hat dir stets offengestanden."
Sie setzte eine überraschte Miene auf. „Ach, wirklich? Nun, vielleicht haben mir diese Gitter auf dem See ja den Blick versperrt." „Vielleicht." Er hörte schließlich auf zu spielen und drehte sich zu ihr um. „Mademoiselle la danseuse, ich hatte auf deine Meinung bezüglich der heutigen Vorstellung gehofft."

Mademoiselle la danseuse … so hatte er sie stets genannt, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie am Pariser Opernhaus tanzte. Weder ihre Heirat noch ihr Abschied von der Bühne hatte ihn bewogen, seinen Namen für sie zu andern.

„Ich muss zugeben, dass es eine recht angenehme Überraschung war. Nach dem, was das Mädchen während der Proben gezeigt hatte, habe ich weit weniger erwartet." Er schien mit ihrem Kommentar zufrieden zu sein. „Wie immer hätte ich es selbst nicht besser ausdrücken können. Sie hat sich in der Tat als recht brauchbares Werkzeug erwiesen."

Sie traute ihre Ohren nicht. Wovon redete er da? Und wo zur Hölle war das Mädchen? Ihr Gesicht musste ihre Verwirrung verraten haben, denn er begann leise zu lachen.

Mademoiselle la danseuse, du bist nicht wirklich auf meine kleine Charade hereingefallen, nicht wahr?" Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Wenn es etwas gab, das sie nicht ausstehen konnte, dann war es, dass man über sie lachte. Er wurde wieder ernst und sprach weiter. „Ich stelle fest, dass einige Erklärungen angebracht wären. Du siehst, Mademoiselle, dass ich irgendwie den Respekt unserer geschätzten neuen Direktion gewinnen musste. Was wäre wohl besser geeignet als ein Geist, der unsterblich in ein Chormädchen verliebt ist, von mir aus auch einfach hinter ihr her, und der breit ist, über Leichen zu gehen, um sie ins Rampenlicht zu bringen?" Erkenntnis zeigte sich auf ihrem Gesicht. „Willst du damit sagen, dass das alles Schauspielerei war?" „Alles, vom Anfang bis hin zum höchst dramatischen Ende." Sie hatte Mühe, ein hysterisches Lachen zu unterdrücken. Er hatte alle hinter Licht geführt! „Aber was ist mit dem Mädchen?" Nun war er es, der gegen das Lachen kämpfte. „Das Mädchen? Ein hübsches Gesicht, eine hübsche Stimme. Ich hätte nichts dagegen, sie für ein, zwei Wochen zu behalten, aber nach einer gewissen Zeit würde das Leben ziemlich langweilig werden. Man kann einfach kein intelligentes Gespräch mit ihr führen. Beim kleinsten bisschen fällt sie in Ohnmacht. Nur wenige beherrschen die Kunst, Schönheit und ésprit miteinander zu verbinden so wie du, Mademoiselle."

„Du solltest einer alten Frau nicht schmeicheln. Eines Tages könnte ich dir tatsächlich glauben." Er grinste. „Mademoiselle la danseuse kann mir immer glauben. Übrigens, warum ehrst du meine bescheidene Behausung mit deiner Gegenwart? Ich bezweifle, das du lediglich vorbeischaust, um ein Schwätzchen zu halten."

Sie wurde ernst. „Der Junge ist auf dem Weg hierher. Er will sie zurück." Wieder lachte er. „Nun, er kann sie haben. Ich sehe nicht, wo das Problem liegt." Sie verdrehte die Augen. „Das Problem, mein Lieber, liegt bei deiner verdammten Schauspielerei. Er denkt, du wärst unsterblich in sie verliebt, und er rechnet mit einem Kampf bis zum Letzten. Willst du seine Erwartungen etwa dermaßen enttäuschen und sie einfach zurückgeben? Ohne ein grand finale? Sie lächelte schelmisch und schüttelte den Kopf. „Was für eine Verschwendung von Raffinesse."

„Wer hat gesagt, dass dieses Ende nicht dramatisch sein kann? Es ist tatsächlich das perfekte Szenario für die wohl grausamste Frage der Welt. Ich werde sie vor die Wahl stellen, bei mir zu bleiben und ihren Geliebten zu retten oder aber mich zu verlassen und ihn zum Tode zu verdammen."

„Das wäre in der Tat höchst amüsant. Sag an, ist in deiner kleinen Komödie auch eine Rolle für mich übrig, oder bin ich zum Zuschauen verdammt?" Er verneigte sich vor ihr. „Mademoiselle la danseuse, ich wäre auf das Höchste geehrt, wenn du dich an meiner unwürdigen Vorstellung beteiligen würdest. Ich schlage vor, dass du dich im Schatten verbirgst und zu einem Zeitpunkt dazutrittst, der dir passend erscheint. Ich überlasse es dir, zu wählen, ob du meine böse, gerissene Komplizin bist, oder der leuchtende Schutzengel. Das sorgt für ein wenig Überraschung."

„Ich werde sehe, was sich in der Situation anbietet, aber ich denke, ich werde deine Komplizin sein. Böse zu sein ist so viel versuchender." Und mit diesen Worten zog sie sich in den Schatten zurück, um die Szene zu beobachten, die sich vor ihren Augen entfalten würde.