Der Junge ließ sich offenbar Zeit. Es war schon eine ganze Weile her , dass sie sich im Schatten verborgen hatte, und doch war nichts von ihm zu sehen. Obwohl sie äußerlich kühl und gefasst wie immer wirkte, war ihr Inneres in Aufruhr.
Zu viel war passiert, und zu viel davon war unerwartet gewesen. Sie wusste nicht mehr, wann sie sich zum letzten Mal keine Sorgen um irgendjemanden gemacht hatte. Zuerst, als sie von dem, was sie gerade herausgefunden hatte, noch nichts geahnt hatte, war ihr oft schlecht vor Angst gewesen, wenn sie daran dachte, was geschehen könnte, wenn das dumme Mädchen seine Anweisungen nicht aufs Wort befolgte. Wieder einmal dachte sie mit Erstaunen an die brillante Täuschung, die er inszeniert hatte. Nicht einmal sie, die ihn fast ihr ganzes Leben lang gekannt hatte, hatte ihn durchschauen können.
Dann hatte sie sich Sorgen um ihn selbst gemacht. Als sie von dem Plan erfahren hatte, ihn während des Stücks gefangen zu nehmen, hatte sie versucht, ihn zu warnen, mehrmals, aber das Eisengitter, das zu seiner Grotte führte, war verschlossen gewesen.
Ihn in solcher Gefahr zu wissen und nichts dagegen tun zu können war mehr gewesen, als sie glaubte ertragen zu können. Sie hasste es, zur Untätigkeit gezwungen zu werden. Sie konnte sich nur sicher fühlen, wenn sie die Kontrolle über die Situation besaß.
Aber es war ihm gelungen zu fliehen. Die kurze Welle der Erleichterung war zu einem plötzlichen Ende gekommen, als der Junge zu ihr gekommen war. Wieder hatte sie um ihr Phantom fürchten müssen.
Die Tatsache, dass über ihren Köpfen gerade das Opernhaus nieder brannte, hatte ihren Verstand noch gar nicht erreicht. Sie war zu sehr mit der Frage beschäftigt, warum er sie nicht in seinen Plan eingeweiht hatte, warum er sie nicht miteinbezogen hatte.
Sie bemerkte plötzlich, dass das Mädchen aufgewacht war und ihn nun beschuldigte, ein seelenloses, herzloses Monstrum zu sein, genau wie es jeder andere stets getan hatte. Er hatte Recht. Sie war nichts Besonderes, nichts außer einer hübschen Stimme und einem hübschen Gesicht. Der Junge konnte sie haben.
Nun, da sie wusste, dass er nur seine Spielchen spielte, konnte sie seine Vorstellung erst richtig würdigen. Während das Mädchen zeterte, zeigte sein Gesicht keine Spur von Gefühlen, abgesehen von einem leicht amüsierten Lächeln, dass kaum zu sehen war, wenn man nicht wusste, wo man suchen musste. Als sie still wurde und ihn ansah, verwandelte sich sein Gesicht in eine Maske aus Schmerz. Hätte sie es nicht besser gewusst, dann hätte sie nicht erkennen können, dass er von den harten Worten des Mädchens nicht tief getroffen war.
Natürlich, er litt unter der Art und Weise, in der die Menschen ihn behandelt hatten, ansonsten wäre er nicht dort, wo er war, aber er würde sich von bloßen Worten niemals dermaßen beeinflussen lassen. Er drehte sich um, und sie bekam einen besseren Blick auf sein Gesicht. An seinen Augen erkannte sie, dass er gegen den Drang kämpfte, einfach loszulachen. Sie bekam eine leise Ahnung davon, wie unterhaltsam es für ihn gewesen sein musste, ‚den Respekt der Direktion zu gewinnen'.
Sie lächelte gezwungen. Es war nicht für jeden so unterhaltsam gewesen. Wieder erinnerte se sich an die furchtbare Angst, die sie während der letzten Monate ausgestanden hatte.
Plötzlich wandte er sich dem See zu und lächelte triumphierend. „Ich denke, meine Lieb, wir haben einen Gast!"
Der Junge hatte endlich seinen Weg gefunden.
