Kapitel 1: Snapes Zaubertrank
Maxime peccantes, quia nihil peccare conantur
('wer nicht zu sündigen wagt, begeht die größte Sünde'; Erasmus von Rotterdam)
Eine Woche später saß Hermine um dieselbe Uhrzeit wieder in der Bibliothek. Sie hatte gerade ein interessantes Buch eines römischen Zauberers namens Septimus durchgearbeitet, der sich ebenfalls an dem Trank versucht hatte und dort mehrere Hinweise auf die verwendeten Zutaten gefunden. Diese deckten sich größtenteils mit dem, was Snape sich notiert hatte und sie glaubte jetzt zu wissen, dass er die Forschung von Septimus als Grundlage für seine Experimente herangezogen hatte.
Allerdings hatte Snape etwas an der Zusammensetzung geändert. Zuerst hatte Hermine sich überhaupt keinen Reim darauf machen können, weil eine Zutat, nämlich das Drachenblut, so gar nicht dazu passen wollte. In geringer Menge war Drachenblut sogar ein bekanntes Heilmittel, aber in dieser Menge wie Snape es sich notiert hatte, war es gefährlich, wenn nicht sogar tödlich. Sie war eigentlich lange der Meinung gewesen, dass es sich bei dem Begriff "sterben" eigentlich mehr um eine Art Scheintod handelte, aber die Menge an Drachenblut ließ darauf schließen, dass sie sich geirrt hatte. Es ging wirklich darum, zu sterben, und sie fand den Gedanken sehr beunruhigend, dass Snape mit so etwas herumexperimentierte.
Aber mit dem Verständnis dafür, dass das Drachenblut nur ein Mittel war, um jemanden zu "töten", kam auch die Erkenntnis, dass das wohl sein Problem gewesen war. Er brauchte diese Menge, um den Tod herbeizuführen, nur gab es in seinen Zutaten keinerlei Gegengewicht für das Drachenblut. Je mehr sie recherchierte, umso klarer wurde ihr, warum es bisher nie jemand geschafft hatte, diesen Trank herzustellen. Sterben und wiederauferstehen, das waren zwei sehr gegensätzliche Dinge und die Zutaten neutralisierten sich vermutlich gegenseitig, sobald man sie miteinander mischte. Man brauchte also nicht nur ein genaues Gleichgewicht, damit nicht eine Seite überwog und den Trank nutzlos, wenn nicht sogar tödlich, machte, und andererseits musste man verhindern, dass sich die Wirkungen gegenseitig auslöschten. Kein Wunder, dass Snape Probleme damit hatte. Es hörte sich wie eine unlösbare Aufgabe an.
Hermine starrte wie gebannt auf ihre Notizen. Egal was er damit vorhatte, Snape war kein Idiot. Wenn es unmöglich wäre, den Trank herzustellen, hätte er es gar nicht versucht. Sie tippte auf das Blatt Papier. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, die Neutralisierung der negativen und positiven Substanzen einzudämmen…
"Man könnte eigentlich… eine neutrale Zutat nehmen… eine, mit der das Einhornpulver zuerst reagiert… dann bliebe Zeit für das Drachenblut um zu wirken und… dann könnte es funktionieren…", murmelte sie. Erst als sie das gesagt hatte, begriff sie, dass sie gerade einen großartigen Einfall gehabt hatte. Sie sprang auf, packte hastig die Bücher weg die sie nicht mehr brauchte, raffte ihre Notizen zusammen und rannte aus der Bibliothek.
Sie dachte gar nicht so recht darüber nach, auf was für gefährliches Terrain sie sich begab, als sie zu Snapes Büro stürmte und hektisch anklopfte. Er hatte von drinnen kaum sein unfreundliches "Herein!" gesagt, da stürmte sie rein. "Professor Snape, ich hab's!" Er schaute sie an und zog eine Augenbraue hoch. Nervös kramte sie ihre Notizen hervor und merkte so nebenbei, dass er wieder einen Kessel aufgesetzt hatte. "Da! Die Formel! Das Einhornpulver! Ich meine…"
"Wovon zum Teufel sprechen Sie, Miss Granger? Finden Sie, Gryffindor hat zu viele Punkte, oder warum erdreisten Sie sich, hierher zu kommen und mir auf die Nerven zu fallen?"
So langsam beruhigte Hermine sich wieder. Allerdings musste sie sich beeilen und ihm sagen, was für eine Idee sie hatte, bevor ihr wirklich klar wurde, was sie hier eigentlich machte. Sie zeigte ihm zittrig den Zettel mit ihren Notizen. "Ich habe in der Bibliothek recherchiert, nachdem ich Ihre Notizen gesehen habe. Ich weiß… oder ich glaube zu wissen… dass Sie am Auferstehungstrank arbeiten!" Sie nahm kaum wahr, wie sich sein Gesicht verfinsterte. "Ich konnte es natürlich nicht ausprobieren, aber ich nehme an, das Problem ist, dass das Einhornpulver und das Drachenblut sich gegenseitig aufheben. Ich habe mir überlegt, dass man etwas braucht, das schon von Natur aus mit dem Einhornpulver reagiert! Damit sich die Wirkung lange genug verzögert! Und das wäre ein neutrales Element, das in etwa so mächtig ist wie das Einhornpulver!"
"Offenbar stimmt es, dass die Gryffindors mutig sind, ihnen dafür aber jeglicher Verstand fehlt", sagte Snape eisig. "Was denken Sie sich eigentlich dabei, hier so reinzuplatzen und mir auch noch zu erzählen, dass Sie meine Notizen gelesen haben? Davon abgesehen ist das, womit Sie sich da beschäftigen schwarze Magie, ist Ihnen das bewusst, Miss Granger? Fünf Punkte Abzug für Gryffindor."
Fassungslos starrte sie ihn an. Eigentlich hätte sie gar nichts anderes erwarten dürfen. Wie hatte sie glauben können, Snape würde Hinweise von einer Schülerin annehmen! Enttäuscht ließ sie ihre Notizen sinken. Was hatte sie sich dabei gedacht?
"Nun, Miss Granger?", fragte Snape. "An welche Zutat hatten Sie gedacht?"
"Bitte?"
"Sie schlugen vor, ein neutrales Element hinzuzufügen, um das Einhornpulver zurückzuhalten. Woran hatten Sie gedacht?"
Jetzt begriff sie gar nichts mehr. Sie starrte ihn erst blöde an, dann fing sie sich einigermaßen und murmelte: "So genau habe ich darüber nicht nachgedacht… vielleicht Giftwurz… oder ein schwarzer Kristall…"
Anerkennend nickte er. "Gar nicht so schlecht. Zehn Punkte… für Gryffindor. Für Ihre unerwartet logischen Fähigkeiten, Miss Granger."
Diesmal glotzte sie ihn wirklich wie ein Schaf an. Es war das erste Mal, dass sie mitbekam, wie Snape Punkte FÜR Gryffindor verteilte. Sie sah stumm zu, wie er aufstand und um den Schreibtisch herum ging, um zum Kessel zu gelangen. "Tatsächlich bin ich vor ein paar Tagen zur selben Erkenntnis gelangt. Ich habe Giftwurz verwendet für diesen Trank." Er drehte sich zu ihr um, sah, dass sie neugierig zum Kessel rüber lugte. "Da Sie so überaus wissbegierig sind, Miss Granger, habe ich einen Vorschlag für Sie. Sie können mir helfen, bei der Erforschung des Auferstehungstranks. Wenn Sie das möchten."
"Wirklich?", fragte sie aufgeregt. Sie wusste selbst nicht, warum der Gedanke sie so begeisterte. Vielleicht war es der Anflug von dunkler Magie, von der man sie im Unterricht immer fernhielt, oder die Spannung, eine Aufgabe zu lösen, die sogar einem erfahrenen Zauberer wie Snape Probleme bereitete, jedenfalls konnte sie bloß atemlos nicken.
"Dann kommen Sie her, Miss Granger. Es ist fast fertig." Etwas schüchtern kam sie zu ihm und blickte in den Kessel, der wie letztes Mal eine unspektakuläre, braune Flüssigkeit enthielt, die friedlich vor sich hin köchelte. Er warf ihr einen Blick zu und sagte: "Ihnen ist klar, dass ich von Ihnen erwarte, dass sie niemandem davon erzählen, oder?"
"Natürlich." Hermine war ziemlich sprachlos. Erst hatte sie gedacht, Snape würde sie von der Schule werfen lassen für ihre Neugier, und jetzt durfte sie ihm plötzlich helfen. Irgendwie passte das nicht zu ihm. Vielleicht hatte sie ihn wirklich beeindruckt?
Bevor sie darüber nachdenken konnte, löschte Snape die Flammen unter dem Kessel, nahm eine Kelle und schöpfte was von dem Trank in ein kleines Fläschchen. Dann drückte er ihr das Fläschchen wortlos in die Hand. Sie schaute ihn an und fragte neugierig: "Wie testen Sie es?"
Stumm deutete er rüber zum Fensterbrett. Dort standen zwei Käfige, die sie vorher nicht bemerkt hatte. In dem größeren tummelten sich gut ein Dutzend Ratten, der kleinere war leer. Er griff in den Käfig, packte eine der Ratten und setzte sie in den kleineren Käfig. Dann nahm er ihr das Fläschchen ab und schüttete es in den Wasserspender. Es dauerte nicht lange, bis die Ratte davon trank und gespannt wartete Hermine ab, was passieren würde. Ein Funken von Mitleid für das Tier schlich sich ein, als sie zusah, wie die Ratte erst langsamer wurde, bis sie schließlich stehenblieb und dann einfach umfiel. Aber sie war schon froh, dass er es nur an Ratten testete, vor denen sie sich ehrlich gesagt immer etwas geekelt hatte.
"Und jetzt?", erkundigte Hermine sich und beobachtete das tote Tier eingehend. "Warten wir einfach, bis sie wieder wach wird?" Seine Antwort war bloß ein Nicken. "Ist das denn überhaupt eine gute Idee, den Trank an Ratten zu testen? Die Wirkung wird bei einem Menschen nicht unbedingt die Gleiche sein."
"Ich kann es ja wohl schlecht an Menschen testen", erwiderte er gereizt. "Außerdem, solange es nicht wenigstens bei Ratten funktioniert, haben weitere Tests sowieso keinen Sinn."
Während sie darauf warteten, dass die Ratte irgendein Lebenszeichen von sich gab, fragte Hermine: "Warum wollen Sie diesen Trank eigentlich herstellen? Sind Sie eigentlich sicher, ob es überhaupt möglich ist?"
"Ich habe Aufzeichnungen, die das bestätigen. Nur leider kein vollständiges Rezept. Warum ich das mache, geht Sie wohl kaum etwas an."
Nachdem Hermine die Ratte etwa fünf Minuten lang angestarrt hatte, sagte Snape: "Geben Sie es auf, Miss Granger. Sie wacht nicht wieder auf. Irgendwas fehlt." Er ging rüber zum Schreibtisch und holte das lateinische Buch, das sie vor einer Woche bei ihm gesehen hatte. "Das sind die ältesten Aufzeichnungen, die ich habe. Septimus war nah dran aber er muss irgendetwas ausgelassen haben. Mit seiner Formel funktioniert es überhaupt nicht."
"Ich kann das nicht lesen", sagte sie nach einem Blick auf das Buch. "Ich hatte nie Latein."
So als würde es in seiner Muttersprache dort stehen, übersetzte Snape die Worte und Hermine hörte aufmerksam zu. Als er fertig war, legte er es weg und sagte: "Vielleicht schaffe ich es mit Ihrer Hilfe, Miss Granger. Ich muss das Rezept neu analysieren."
"Ich helfe Ihnen!", rief sie enthusiastisch. "Erzählen Sie mir alles, was sie bisher herausgefunden haben und auch, warum sie die Modifikationen an seinem Rezept vorgenommen haben." Snape setzte sich, um ihr sein Notizbuch zu zeigen und Hermine holte sich einen Stuhl, setzte sich daneben und lauschte.
An diesem Abend kam sie erst weit nach Mitternacht ins Bett. Sie hätte nie gedacht, dass ihr das Fachgebiet Zaubertränke so viel Spaß machen würde. Es war wie ein großes Rätsel und man brauchte Logik und etwas Gespür, um es zu lösen. Sehr zu ihrem Erstaunen war Snape wirklich großartig auf seinem Gebiet. Seine Veränderungen an der Rezeptur waren wohl durchdacht und ergaben durchaus Sinn. Jetzt verstand sie auch, warum er so eifrig daran arbeitete. Das war nicht bloß ein Hirngespinst, sondern sie war fest davon überzeugt, dass er eine echte Chance hatte, die richtige Rezeptur zu finden. Und sie durfte dabei sein.
In dieser Nacht konnte sie vor Aufregung nicht schlafen. Zum ersten Mal hatte sie etwas anderes als Bücher lesen gefunden, in dem sie richtig gut war.
…tbc…
