So folgten den Worten Taten. Durch einen Boten ließ Viktor Lucian die Einladung überbringen, und Lucian nahm sie an. Der Alpha des örtlichen Rudels trug das dunkle Haar zu einem Zopf gebunden, seine braunen Augen blickten ernst. Interessiert nahm er den Empfangssaal in Augenschein, in dem Viktor ihn begrüßte. Er hatte Kraven zu seinem Zeugen bestimmt, Lucian war mit Rage gekommen.
„Setzt Euch," gebot Viktor seinen Gästen.
Rage war einen Kopf größer als er selbst , seine Miene wirkte grimmig.
„Was hat mich zu Euch geführt?" erkundigte sich Lucian höflich.
„Die Sterblichen machen uns und Euch die Nahrung streitig. Da ich um Eure Not weiß, biete ich Euch an, mit uns zusammen zu arbeiten."
„Zur Nahrungssuche, oder was habt Ihr im Sinne?" In Lucians Gesicht lag offene Besorgnis: „Wir setzen uns nur selbst auf die Abschussliste, wenn wir den Sterblichen offen die Nahrung streitig machen oder uns gar von ihnen ernähren."
„Mein Vorschlag ist ein anderer."
Das Geräusch einer sich öffnenden Tür in seinem Rücken unterbrach Viktors Gedankengang.
„Ich hatte gebeten, nicht gestört zu werden," wandte er sich in verhaltenem Zorn an die Person in seinem Rücken.
Die junge Frau hinter ihm antwortete nicht sofort. Ihre Augen verweilten auf Lucians Gesicht, und er erwiderte ihren Blick mit einem Lächeln. Sie gab sein Lächeln zurück und trat um den Sessel ihres Vaters herum.
„Sonia. Was ist so dringend, dass du die Verhandlungen störst?" Viktors Stimme hatte merklich an Schärfe verloren.
„Deine Gäste müssen durstig sein," entgegnete sie, „Ich wollte ihnen etwas zur Erfrischung bringen."
Sanft berührte er ihren Arm, bedeutete ihr, sich zu ihm herabzubeugen. „Das ist Sache der Diener," raunzte er ihr ins Ohr.
„Wo habe ich nur meine Manieren gelassen? Entschuldige, Vater. Ich war neugierig." „Lucian, meine Tochter Sonia. Sonia, Lucian."
„Freut mich." Sie reichten aneinander die Hände, hielten sie nur ein wenig länger als es der Anstand gebot. Sonia senkte die blauen Augen, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Lucian beobachtete sie mit kaum verhohlener Faszination. Viktor entging der Blickwechsel und der Tausch des Lächelns nicht.
„Ich bin gleich wieder da."
Viktor verabschiedete sie mit einem Nicken. Seine Tochter wurde allmählich flügge, ob es ihm nun passte oder nicht. Was konnte schon mehr passieren als eine kurze Affäre? Auch wenn ihm der Gedanke nicht behagte, dass der erste Mann seiner Tochter möglicherweise ein Lykaner werden könnte. Er straffte die Schultern und versuchte sich zu entspannen.
„Ihr habt eine reizende Tochter," sagte Lucian offen. Seine Augen leuchteten.
„Sie kommt nach ihrer Mutter."
Lucian ahnte, dass der König der Vampire nicht mehr Worte darüber verlieren würde. „Ihr habt von einem Angebot gesprochen, das Ihr mir unterbreiten wolltet," kam er auf das ursprüngliche Thema zurück.
„Wir brauchen Tageslicht-Wächter, und würden euch dafür gut entlohnen. Euer Gehalt würde ausreichen, genug Nahrung für Euren ganzen Bau auf den Märkten der Sterblichen zu beschaffen. Nehmt mein Angebot an, es ist zum beiderseitigen Vorteil."
Lucian lehnte sich zurück und dachte darüber nach. Er ließ sich Zeit, der Vampir sollte nicht glauben, dass er ihm wie eine reife Frucht in die Hände fiel: „Wie stellt Ihr Euch unsere Aufgaben genau vor?"
„Ich dachte an eine Bewachung unserer Grundstücke sowie an die Auskundschaftung der Sterblichen und daran, dass Ihr – wenn nötig – stellvertretend für uns Verhandlungen mit ihnen führt."
Lucian beugte sich vor: „Welchen Lohn haben wir dafür zu erwarten?"
„Fünfhundert Unzen pro Mann im Monat." Das war sehr viel, doch Lucian wusste, wie wenig im Vergleich zu den Reichtümern, die seine Vettern angesammelt hatten.
„Aus welchem Grund sollten wir uns auf den Handel einlassen?"
Viktor lehnte sich entspannt zurück: „Eure Nahrung ist gesichert, und ihr lauft nicht Gefahr, von den Sterblichen angeprangert zu werden, ihr würdet ihnen die Nahrung streitig machen. Darüber hinaus beschert die Bezahlung Euch Wohlstand."
Lucians Gesicht wurde hart: „Reichtum bedeutet mir nichts. Mit Unzen könnt Ihr uns nicht ködern."
„Was wollt Ihr dann?"
„Eure Anerkennung der Tatsache, dass wir mit euch auf gleicher Stufe stehen. Tut ihr das nicht, seid Ihr besser beraten, euch Wachhunde zuzulegen oder gleich Sterbliche mit diesen Aufgaben zu betrauen."
„Ich erkenne euch als gleichberechtigt an, wie jeder hier," erwiderte Viktor glatt.
Lucian konnte seine Bedenken nicht zur Seite schieben. Dennoch sagte er: „Ich nehme an."
„Dann ist der Handel beschlossen."
Lucian sah Sonia vor sich, wie sie zur Tür herein gekommen war. Um ihretwillen nahm er das Angebot an. Viktor ahnte seine Beweggründe, ließ sich jedoch nichts anmerken. Sonia hatte offensichtlich doch mehr Gespür für die Situation, als ihr Auftritt vermuten ließ. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, was wäre, wenn sie den Lykaner tatsächlich lieben lernen würde. Doch dazu würde es nicht kommen. Er würde Lucian genug zu tun geben, um diesen von seiner Tochter abzulenken.
Die Männer prosteten sich zu. Im Verlaufe des Abends kehrte Sonia noch mehrmals zurück, um die Männer zu verköstigen, und Viktor nutzte die Gelegenheit, Lucian und seine Tochter unauffällig zu beobachten. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass er sich das beiderseitige Interesse eingebildet haben musste.
