„Es läuft gut," berichtete Sonia ihrer Tante.
Amelias Augen lächelten. „Ich begrüße es, wenn die Dinge geregelt sind und wir uns daran machen können, die Herrschaftsfolge zu klären. Dann herrscht wieder Friede in diesem Haus." Mit einer goldenen Spange steckte sie ihr dunkles Haar hoch. „Glaubst du, der Lykaner nimmt das Angebot an?"
„Ich denke schon," sagte Sonia und dachte: „Ich hoffe, dass er bleibt." „Wie lang stellst du dir die Herrschaftszeit vor?"
„Zwölf Jahrhunderte Schlaf, dann sechs Jahrhunderte als Regent, für jeden von uns."
„Ein guter Vorschlag. Ich bin schon gespannt, was die Männer dazu sagen."
„Was wir wozu sagen?"
„Ah, Marcus. Wir haben gerade über eure Regentschaft gesprochen."
„Ich hörte etwas von sechs Jahrhunderten. Warum nur so kurz?"
„Um keinem von euch die Gelegenheit zu geben, Pläne gegen den anderen zu schmieden."
Marcus verzog das Gesicht: „Warum sollten wir, wenn unsere Regentschaft festgelegt ist?"
In diesem Augenblick öffnete Viktor die Tür: „Wovon sprecht ihr?"
„Von dem immer gleichen Thema," seufzte Amelia.
„Schon wieder," knurrte Viktor.
„Wie lief es bei dir?" versuchte Amelia ihn abzulenken.
„Die Lykaner haben angenommen."
„Ausgezeichnet." Viktor warf seiner Tochter den strengsten Blick zu, der ihm möglich war. Komm nicht auf falsche Gedanken, sagte dieser.
Sonia ahnte, was in ihm vorging und sagte: „Du denkst zu viel, Vater."
Viktor entgegnete: „Ich kann mir nicht erlauben, nicht zu denken."
Sonia trat hinter ihn und umarmte ihn: „Wenn ihr euch in der Herrschaftsfolge abwechselt, ist dir die Verantwortung für eine gewisse Zeit von den Schultern genommen."
„Sie hat Recht," stimmte Marcus schnell zu.
„Du lässt auch keine Gelegenheit aus, Profit aus den Argumenten anderer zu schlagen, nicht wahr?" fragte Viktor mit kaum verhohlener Verachtung.
„Wenn ich auch sonst keine Talente haben mag, so wenigstens dieses," erwiderte Marcus. „Hat sich schon einer von euch Gedanken darüber gemacht, wie die Ruhephase eingeleitet werden soll?"
„Unsere Seele, unser Bewusstsein ist an unser Blut gebunden. Es könnte funktionieren, indem dem Betreffenden die Hälfte seines Blutes entzogen und dieses bis zur Erweckung gekühlt aufbewahrt wird," schlug Viktor vor.
„Könnte. Und wenn nicht?" fragte Marcus unbehaglich.
„Uns bleibt keine andere Möglichkeit als einen Versuch zu wagen," entschied Amelia.
„Und wer soll zuerst schlafen gelegt werden?"
„Ich lege euch beide in den Schlaf und regiere die sechs Jahrhunderte, während ihr schlaft. Nach Ablauf dieser Frist erwecke ich Viktor, der mich zur Ruhe legt. Nachdem er sechs Jahrhunderte regiert hat, erweckt er Marcus, und Marcus erweckt wieder mich. Und ich werde Viktor wiedererwecken."
„Schon gut, ich habe verstanden," wehrte Marcus schroff ab. Die Vorstellung dessen, was auf ihn zukam, war ihm höchst unangenehm. „Wann beginnen wir?"
„Sobald sich der Pakt mit den Lykanern als stabil erwiesen hat," entschied Amelia.
Sonia musterte die Älteren: „Da habt ihr ja was vor."
„Eines Tages, sobald du unser Alter erreicht hast, wird der Zyklus auch auf dich zukommen," machte Viktor ihr bewusst.
„Ich habe keine Angst. Die ganze Sache hat was. Ich meine, was erlebt man im Schlaf? Ihr müsst mir unbedingt davon erzählen." Sie klang ganz aufgeregt.
Viktor lachte knurrend. „Sonia," sagte er, „Mädchen. Du hast Ideen."
„Ich bin deine Tochter." Sie drehte sich um und verließ leichtfüßig den Raum.
Amelia blickte ihr hinterher: „Sie erinnert dich an Maraya, nicht wahr?" „Mit jeder Faser ihrer Seele, jedem Wort," gab Viktor mit vor Schmerz rauer Stimme zu.
Sieben Jahre später stand sie in der Bibliothek vor ihm, die Hand schützend über ihren gewölbten Bauch gehalten. Er sah sie an, und sein Instinkt teilte ihm alles mit, was er wissen musste.
„Vater, ich muss mit dir reden."
Scharf musterte er ihren Bauch: „Du erwartest ein Kind – von ihm." Er sprach das letzte Wort voller Abscheu aus. „Du bist schwanger von einem Hund, einem Tier," sagte er. „Vater." Sonia war aufrichtig erschüttert: „Wie kommst du dazu, so etwas zu sagen?" „Lykaner sind Tiere! Sie haben uns zu dienen, nicht Kinder mit unseren Kindern zu zeugen!"
„Vater." Sonia kämpfte um Ruhe: „Du selbst hast sie gebeten, Aufgaben für uns zu übernehmen, die wir selbst nicht wahrnehmen können."
„Sie haben den Pakt gebrochen!" schrie er sie wutentbrannt an.
„Wer hat den Pakt gebrochen?" Unbemerkt war Amelia hereingetreten.
„Sie ist schwanger von diesem...diesem Lykaner!"
„Ich weiß," sagte Amelia kühl.
„Du weißt es?" Fassungslos sah Viktor seine Schwester an.
„Ich liebe ihn. Ich habe die Beziehung begonnen. Ihn trifft keine Schuld, Vater."
„Die Lykaner gehen ihren Aufgaben wie vereinbart nach, und sie machen ihre Sache gut," sagte Amelia.
„Habt ihr euch alle gegen mich verschworen?" brüllte Viktor.
„Du bist von Sinnen. Beruhige dich doch," versuchte Amelia auf ihn einzuwirken.
„Ich kann mich aber nicht beruhigen! Ich will mich nicht beruhigen!"
„Das merke ich. Und wenn du weiter so schreist, weiß es bald das ganze Haus," Marcus war hinzugetreten, und seine Äußerung ernüchterte Viktor schlagartig.
Er fühlte nichts mehr, als er anordnete: „Hol Kraven."
Marcus nickte und verschwand. Eine Ahnung drohenden Unheils erfüllte ihn. Es widerstrebte ihm, doch solange die neue Herrschaftsordnung noch nicht in Kraft getreten war, hatte er Viktor als dem Ältesten zu gehorchen. Kurze Zeit später stand Kraven auf der Schwelle.
„Kraven, leg sie in Ketten und ihren hündischen Freund. Bei Sonnenlicht soll sie brennen, und er wird zusehen. Die Lykaner werden bestraft für das Vergehen ihres Rudelführers. Sie werden in Zukunft ohne Lohn für uns arbeiten, und sollten sie sich widersetzen, löscht sie aus. Den ganzen Bau, ohne Ausnahme."
Viktor verließ den Raum, ohne dem namenlosen Entsetzen in den Augen der anderen Beachtung zu schenken.
„Großer Gott," sagte Amelia. Sonia war im Schock erstarrt. „Tu doch etwas, Marcus." „Viktor ist der Älteste. Sein Befehl gilt. Tut mir leid, ich habe meine Lektion gelernt." „Marcus," flehte Amelia, „Kraven. So tut doch etwas."
Sonia löste sich aus ihrer Starre: „Wenn er meinen Tod will, soll er tun, was er für richtig hält. Er ist nicht länger mein Vater. Ich verfluche ihn. Kraven, tu, was du tun musst." Sie hielt ihm die Hände hin, sich in Fesseln legen zu lassen. Kraven sah sie voller Bedauern an. Sie hatte die Würde ihrer Eltern.
Kurz, bevor die Sonne sie verbrannte, schrie Sonia ihrem Vater ins Gesicht: „Mein Tod wird dein Untergang sein! Tötest du mich, tötest du dich!" Ohne sichtbares Zeichen der Trauer stand Viktor da, hörte ihre Worte, ohne sie zu hören. Sein Herz war voll von Gram und verletztem Ehrgefühl. Scheinbar ungerührt sah er zu, wie sie starb. Und Lucian sah seine seelische Unbewegtheit. Außer sich vor Zorn und Schmerz bäumte er sich auf: „Sonia, nein!" Peitschenhiebe zwangen ihn in die Knie. Als die Angehörigen seines Rudels seine Misshandlung mit ansahen, begann ihr Widerstand gegen die Vampire. So begann ihre Versklavung und der Krieg.
Erst, nachdem Kraven ihm die Haut von Lucians Arm überbracht hatte, ließ Viktor sich von Amelia schlafen legen.
