Amelia durchstreifte die Nacht. Beherrsche den Durst, lass dich nicht vom Durst beherrschen – wie oft hatte sie das gehört. Sie dachte nicht daran, diese Worte ernst zu nehmen. Seit einigen Minuten schon beobachtete sie die junge blonde Frau, die ihr Korsett zu genießen schien. Sie übernahm für einige Minuten die Augen eines entgegen kommenden Mannes, was diesem für einen Augenblick Kopfschmerzen verursachte. Sie hatte kein im eigentlichen Sinne schönes Gesicht, doch sie erkannte in ihm etwas wieder, was ihm nur allzu vertraut war. Lust. Lust zu herrschen, Lust am Sex. Das Korsett betonte ihre schmalen Hüften, ihre Figur, die ihr das Wasser im Mund zusammen laufen ließ. Im wahrsten Sinne des Wortes. Dann war sie hinter ihr. Sie ließ ihr Zeit, sich umzudrehen und ihr ins Gesicht zu blicken. Ihre Augen blickten zu ihr auf, schwankend zwischen Schrecken und Hoffnung.
„Darf ich Sie ausführen, Mylady?"
Sie senkte mit einer Züchtigkeit den Blick, der ihm ein Lächeln entlockte, da sie nur allzu gut wusste, wie sehr diese ihrer Natur widersprach.
„Ich kenne Euch doch kaum, werte Dame," ihre Stimme war voller Verlockungen.
„Ich bitte darum," sagte sie und verbarg ihr Lächeln schnell. Sie griff in ihren Verstand hinein. Lange musste sie sie nicht manipulieren, die Voraussetzungen waren bereits alle da.
„Folgt Ihr mir schon lange?"
Mit derselben Unschuld antwortete sie: „Erst seit Trafalgar Square."
Das war die Wahrheit, soweit es den heutigen Abend betraf. Sie musste ja nicht wissen, dass sie ihr seit Wochen auf den Fersen war und längst wusste, was sich unter ihrem Korsett verbarg. Wenn alles nach ihrer Vorstellung lief, war bald der Zeitpunkt gekommen, sie mit der Wahrheit zu konfrontieren.
„Heute Abend findet ein Ball nicht weit von London statt. Ich bin eingeladen. Möchtet Ihr meine Begleiterin sein?"
Sie wollte sie in ihrem Haus haben. Anstatt auf ihre Frage einzugehen, erkundigte sie sich: „Ihr hört Euch an, als kämt ihr nicht aus England."
„Ich bin nur Gast hier." Manchmal war Ehrlichkeit von Nutzen.
„Das dachte ich mir," erwiderte sie mit einem Lächeln, „Und woher kommt Ihr, wenn ich fragen darf?"
„Aus Rumänien."
Sie sah sie mit großen Augen an: „Dann habt ihr eine lange Reise hinter euch."
„Eine gebildete Frau, das gefällt mir," entgegnete sie charmant.
„Es bedarf keiner besonderen Bildung, sich diese Entfernung vorzustellen," erwiderte sie.
Amelia lächelte. Sie gefiel ihr immer besser.
Sie ging nicht weiter darauf ein, sondern forschte nach: „Wie ist Euer Name?"
„Ellen DeWinter."
„Eine DeWinter," stellte sie fest.
„Mein Name ist bis nach Rumänien gedrungen?"
„Und wie lautet der Eurer Familie?"
„Amelia Gräfin von Szilagysomlyo. Gesprochen Schilagschomlyo. Die Stadt meines Geschlechts."
Viktor gelang es während des Erwachens allmählich, die Erinnerungen Amelias von seinen zu trennen. Sie musste jenes Jahrhundert erlebt haben, in dem sich die Frauen schnürten und jener Platz, dem sein Verstand – oder Amelias – den Namen „Trafalgar Square" zuordnete, das auf ihm stehende Denkmal erhielt. Bedauerlicherweise gehörte auch Ellen Amelia. Sie hätte ihm gefallen.
Ellen DeWinter trat von hinten an Amelia heran, als diese auf das Meer herunter sah und beobachtete, wie die Wellen vor das Bug prallten. Zärtlich legte sie ihren Arm um die Hüften ihrer Gräfin: „Sind deine Gedanken wieder bei ihm?"
„Viktor? Ja. Als ich ihn im letzten Jahrhundert besuchte, stand sein Körper vor einem Kollaps auf zellularer Ebene. Ich weiß bis heute nicht, was damals mit ihm geschehen ist. Ich gab ihm von meinem Blut, und danach erholte er sich. Manchmal frage ich mich, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Zorn, der Sonia das Leben kostete, und seiner körperlichen Verfassung."
„Machst du dir da nicht zu viel Gedanken?"
„Er ist mein Bruder, Ellen, trotz allem, was er getan hat."
„Du wirst dich bald von seinem Wohlergehen überzeugen können, und im nächsten Jahrhundert steht seine Erweckung an."
„Kravens Einladung kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Ich freue mich, Viktor wieder zu sehen, schlafend oder wach."
„Ich weiß."
Das Blut bahnte sich seinen Weg durch Viktors Körper. Ein schmerzhafter erster Atemzug riss ihn in einen halbbewussten Zustand, und dann zurück ins Leben.
„Sonia."
„Verzeiht, dass ich eure Ruhe störe, Gebieter."
Das Gesicht in Viktors Blickfeld wurde klarer: „Selene. Du bist Selene, nicht Sonia."
Die junge Frau vor ihm nickte: „Wie schätzt ihr die Lage ein, Gebieter?"
Viktor sortierte seine Gedanken: „Derzeit ist noch vieles unklar. Du hast mich gegen die Regeln meines Ordens erweckt – doch es ist dir gelungen."
Bei Viktor kam dieses Eingeständnis beinah einem Kompliment gleich, doch Selene hatte derzeit keinen Sinn für Komplimente.
Ein Geräusch, das er nicht zu identifizieren vermochte, lenkte ihre Aufmerksamkeit ab.
„Ich muss los, Gebieter. Verzeiht."
„Geh. Geh und sammle Beweise für deine kühne Theorie."
Selene ging und ließ Viktor mit seinen Gedanken allein.
Selene, die Viktor kaum verschont hätte, hätte sie ihn nicht an seine Tochter erinnert. Ein Tochter-Ersatz wäre auch kaum nötig gewesen, hätte er Sonia damals am Leben gelassen, dachte er.
Der Augenblick war nahe, dass sich Sonias Prophezeiung erfüllen sollte. Eine Prophezeiung, die Viktor längst vergessen hatte und die in seinem Denken ebenso viel Platz hatte wie alte Legenden.
Er war zurück, und das allein zählte.
