Weinend, mit zitternden Beinen, stürzte Selene vom elterlichen Grundstück. Sie wollte nur noch weg, egal, wohin. Sie rannte über Wiesen und Felder auf einen schmalen Weg zu, der zum Dorf führte.
Erst ein Widerstand brachte sie zum Halten. Jemand packte sie an den Schultern, fing sie auf. Später sollte sie sich vor allem an die beruhigende Präsenz des Mannes erinnern. Der aufgestaute Kummer brach aus ihr heraus.
Als sie sich keine Tränen mehr hatte, blickte sie zum ersten Mal ihrem Retter ins Gesicht.
Gut gekleidet, über die Schultern fallende blonde Haare, ein aristokratisches Gesicht. Besänftigend kreiste seine Hand über ihren Rücken. Endlich konnte sie sich wieder aufrichten. Sie las eine Frage in seinen Augen, schüttelte abwehrend den Kopf. Nein, sie konnte es ihm nicht sagen. Es war zu schrecklich, zu intim. Er bedrängte sie nicht mit Fragen, reichte ihr stumm ein Tuch, um sich die Augen zu trocknen.
Er trug sie zu einer Kutsche, die am Wegrand stand, aus dunklem Holz, mit Schnitzwerk verziert, bettete sie in den Wagenkasten und deckte seinen Mantel über sie, bis ihr Zittern nachlies. Langsam setzte ihr Verstand wieder ein. Er schien zu spüren, dass es ihr langsam wieder besser ging: „Viktor", stellte er sich vor. Sonst nichts. Nur Viktor. Als sei sein Name eine Erklärung. „Selene," erwiderte sie leise. „Ich danke euch." Sie schwieg, ratlos, wie sie dem Fremden erklären sollte, warum sie mitten in der Nacht durch die Felder gelaufen war. Er akzeptierte ihr Schweigen. Vielleicht gerade deshalb begann sie zu erzählen, zuerst stockend, dann immer flüssiger. Geduldig hörte er ihr zu.
„Was euch widerfahren ist, kann durch nichts auf der Welt wieder gut gemacht werden," stellte er schließlich fest, „Doch es gibt eine Möglichkeit für euch, eure Familie zu rächen." Selene wehrte ab: „Redet nicht mit mir, als sei ich eine hohe Herrin. Ich war eine einfache Bäuerin, nichts weiter. Wie soll ich Rache nehmen, wenn ich nicht einmal weiß, an wem?"
„Ihr seid in eine Auseinandersetzung hineingezogen worden, die euch Menschen nicht hätte treffen sollen. Es tut mir sehr leid." „Ich verstehe nicht. Was soll ich denn anderes sein als ein Mensch? Von welcher Auseinandersetzung sprecht ihr?" „Eure Familie wurde von Männern gerissen, die Wölfe sind." „Das ist unmöglich. Es gibt keine Werwölfe." „Ihr sagtet selbst, dass kein Tier zu dem fähig wäre, was eurer Familie widerfahren ist. – Ich verfolge und jage sie bereits seit einiger Zeit, doch als ich erkannte, was sie auf eurem Hof vorhatten, war es zu spät. Ich machte mich auf die Suche nach Überlebenden und fand euch. Ich kann mein Versäumnis nicht wieder gut machen, doch ich kann euch die Chance geben, Rache zu nehmen, Zeit, sie bis in alle Ewigkeit zu jagen, bis auch der letzte von ihnen getötet ist." „Wie?" „Ihr selbst müsst es wollen, entscheidet euch." „Wie soll das möglich sein? Ich bin keiner von ihnen." „Aber sie können eine von uns werden, wenn sie das wünschen." „Was bedeutet das für mich?" „Ein kurzer Schmerz, dem die Unsterblichkeit folgt." „Ich habe keine Vorstellung, wovon ihr sprecht." „Ich bin kein Mensch, auch wenn ihr mich bislang dafür gehalten habt. Ihr Menschen nennt uns ‚Vampire'." Er öffnete leicht den Mund, gerade weit genug, dass sie die Spitzen seiner Zähne sehen konnte. Sie fuhr zurück, krallte ihre Finger in den Mantel. „Ich bedauere, dass ich euch erschreckt habe. Ihr habt in dieser Nacht schon mehr als genug an Schrecken durchlitten." „Ist es das, was ihr mir anbietet? Blut zu trinken und meine Feinde zu bekämpfen, bis ich sie ausgelöscht habe?" „Ja. Die Entscheidung liegt bei euch." Selene kämpfte mit sich. Die Kirche, in deren Namen sie noch am Mittag zuvor gebetet hatte, verteufelte Werwölfe und Vampire. Zu ihnen zu gehören, würde bedeuten, genauso verteufelt zu werden. Ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Menschen. Andererseits hatte sie alle Menschen verloren, die ihr etwas bedeutet hatten. Was zählte mehr: Wie fremde Menschen sie betrachten würden, oder was sie ihrer Familie an Gerechtigkeit widerfahren lassen konnte? Ein Bild flackerte vor ihren Augen auf, das letzte Bild ihrer Familie. Die Entscheidung war gefallen. „Ja, ich will." Er beugte sich über sie. Selene lauschte dem Schlagen ihres Herzens, das ihr in diesem Moment besonders laut in den Ohren zu dröhnen schien. Sanft beugte er ihren Hals zur Seite. Angst überfiel sie, eine namenlose Angst. Sie verkrampfte sich. Er hielt ihre Hand, gab ihr die Möglichkeit, Halt zu finden. Ein kurzer scharfer Schmerz, begleitet von Wohlempfinden, dann war es vollbracht. Behutsam drückte er die Wund zu. „War es das?" fragte sie erstaunt. „Ja." „Aber ich fühle mich nicht anders als zuvor." „Das kommt noch," sagte er, „Ihr habt Mut bewiesen. Ihr werdet mit den Veränderungen in eurem Leben klarkommen."
