Selene setzte sich zu ihm auf den Kutschbock. Die Erlebnisse der Nacht begannen auf sie zu wirken. Erschöpfung und Leere machten sich in ihr breit. Sie spürte, wie ihr Kopf gegen seine Schulter sank, und sie nahm es hin. Und dann, an der Grenze zum Schlaf, begannen die Veränderungen.
Ein Zittern wie im Fieber durchlief sie. Viktor stoppte die Kutsche, hielt sie, gab ihr Halt, wie er es in dieser Nacht schon einmal getan hatte. Ein Ziehen lief durch ihr Zahnfleisch; sie fühlte, wie Zähne aus ihm hervor an die Oberfläche brachen, Zähne, die zu groß für ihren Mund schienen. Jedenfalls kam es ihr so vor. Die Pupillen weiteten sich, sie nahm die Umgebung um sich in neuer Klarheit wahr, obwohl doch Nacht herrschte. Nach der Kälte kam die Hitze, und dann die Kraft.
Sie begrüßte die Schmerzen, die den seelischen Schmerz überdeckten, ihn in etwas Neues, Besseres verwandelten.
Sie spürte, dass sie zum Raubtier wurde, ihre neu gewonnene sehnige Kraft, und sie genoss den Wandel.
Bilder tanzten durch ihren Geist. Viktor, der sie hielt, der ihr neue Vitalität verlieh. Seine Stimme erklang in ihren Gedanken: „Ich kann dir nichts geben, was nicht bereits in dir ist." Die Worte, die Stimme vermittelten, dass er ihr zugeneigt war. Zwar kannte sie den Grund dafür nicht, doch der war ihr im Augenblick auch egal.
In ihr erwachte ein nie gekannter Durst. Verlangen nach Blut. Etwas in ihr wusste, wie Blut schmeckt, und das Verlangen nach diesem Geschmack wurde unerträglich. Sie hob ihren Arm, drehte ihn nach oben.
Sanft drückte Viktor ihn nieder, bot ihr seinen Hals. Zuerst noch zögernd neigte sie sich ihm zu, dann versanken ihre Zähne in seinem Hals. Warmes Fleisch teilte sich unter ihren Lippen, sie sog die ausströmende Flüssigkeit auf. Lust quoll in ihr auf, sie sog gieriger und gieriger. Viktor ließ es geschehen. Als sie gesättigt war, ließ sie von ihm ab.
Blut für Blut, Fleisch für Fleisch. Sie waren sich nahe, der Pakt besiegelt. Sie gehörte ihm, er gehörte ihr.
Die Wunde, die sie ihm beigebracht hatte, schloss sich vor ihren Augen, doch das emotionale Band blieb.
Selene war bereit – für die Zukunft, für ein neues Leben, und sie wusste schon jetzt, dass sie es genießen würde.
