Kapitel 2
Veni, vidi, vici?
Ich kam, sah und siegte?
Kühl war es in dieser Septembernacht in Godrics Hollow, als drei einsame Gestalten den Friedhof betraten. Die erste Gestalt ging ein wenig abseits von den anderen Zwei, einige Schritte vorweg, mit gesenktem Kopf.
An einem Doppelgrab blieben sie stehen. Einige Herbstblätter tanzten über die weißen Marmorplatten, auf welchen in goldenen Lettern die Namen der Verstorbenen eingraviert waren. Die Namen, derer, die hier ruhten.
Nun wehte ein heftiger Windstoß das Laub vom weißen Marmor und man konnte lesen:
Hier ruhen James und Lily Potter, geborene Evans.
Harry Potter sank auf die Knie und nahm seinen langen, schweren, schwarzen Umhang ab.
Er streichelte die weißen Marmorsteine und seine leeren Augen glitten über die Namen der Toten, über die toten Namen. Über die Namen seiner Eltern.
Noch nie war er hier gewesen.
Warum nicht, fragte er sich eben. Er hätte längst einmal herkommen sollen. Aber bisher hatte er nie die Zeit und die Ruhe gefunden. Immer wieder musste er den verdammten Helden spielen für den Rest der Zaubererwelt.
Alle verlangten das von ihm: Fudge, dann der Neue auf dem Ministerstuhl, das gesamte Zaubereiministerium und, er fühlte es, auch der Orden des Phönix.
Seit Harry die Prophezeiung gehört hatte, seit er zum „Auserwählten" geworden war, nicht mehr „der Junge, der lebte" war, hatte Harry das Gefühl, die ganze Welt warte nur darauf, ihre Lasten auf seine Schultern zu laden. Und warum? Nur, weil er den Todesfluch des mächtigsten Schwarzmagiers aller Zeiten, Lord Voldemort, überlebt hatte?
Manchmal, in einsamen Nächten, in denen er nichts hatte, als seine Ängste und seine Alpträume, wünschte er sich, er hätte es nicht überlebt. Dann würde sein Name hier ebenso stehen und er läge unter diesen Steinen.
In friedlichem Schlummer, endlich mit seinen geliebten Eltern vereint.
Harry sah in den Nachthimmel, wo ein bleicher Vollmond auf ihn herabblickte und mild leuchtete. Mitleidig warf er milchige Strahlen auf Harrys Haar, als wolle er den Jungen trösten, aber Harry lächelte nur bitter und wandte den Blick ab.
Wie sollte sein Leben weitergehen? Er hatte Dumbledore versprochen, die Horkruxe zu suchen und Voldemort endgültig seinem Schicksal zuzuführen. Aber er hatte sich auch darauf verlassen, dass Dumbledore bei ihm sein würde und immer ein Ass in der Hinterhand hatte, dass er im entscheidenden Augenblick hervorzaubern würde. Aber damit war es nun vorbei.
Denn Dumbledore war tot.
Gestorben an eben jenem Todesfluch, den er, Harry, damals überlebt hatte.
Harry musste innerlich bitter lachen. Er hatte einfach nur Glück gehabt. Er hatte eigentlich immer nur Glück gehabt. Wäre seine Mutter nicht gewesen, die für ihn gestorben war, wäre er ebenso elendiglich an diesem Fluch krepiert, wie alle Anderen auch.
Nach seinen Eltern hatte es seinen nächsten Schutzpatron erwischt, seinen Paten Sirius Black.
Und nun Albus Dumbledore, der immer wie ein Vater an ihm gehandelt hatte.
Seine Eltern, Cedric, Sirius, Dumbledore, Harry ließ sie alle aufmarschieren, die Opfer um seinetwillen in diesem ungleichen Krieg, der sein Lebensinhalt geworden war, für den er lebte und von dem er lebte. Für was lebte er denn sonst noch? Eine Familie hatte er nicht mehr. Seine Freunde waren das Einzige, was ihn noch davon abhielt, sich völlig seiner Verzweiflung hinzugeben.
Er konnte nicht mehr weinen, denn er hatte keine Tränen mehr. Sein Tränenfluss schien seit Dumbledores Begräbnis versiegt. Seitdem er die liebste, ihm Trost spendende Quelle aufgegeben hatte: Seine Liebe zu Ginny Weasley!
Denn er wusste, Ginny wäre stetig in Gefahr, wenn sie zusammen blieben und der Gedanke, sie immer, aber auch immer, in solcher Gefahr zu wissen, war ihm unerträglich.
Aber es war nur einer von vielen unerträglichen Gedanken.
Derer hatte Harry Potter viele.
Sehr viele.
Zu viele.
Er hatte schon gar keine anderen Gedanken mehr.
„Harry!"
Eine Stimme drang an sein Ohr, eindeutig weiblich und eine Hand legte sich auf seine Schulter. Harry seufzte und ein, schon fast unbekanntes Gefühl der Wärme durchflutete sein Herz. Hermine! Seine beste Freundin! Sie und sein bester Freund Ron Weasley waren das Einzige, was ihm geblieben war, an das er sich klammern durfte, um nicht in dem schwarzen See der Verzweiflung, des Zorns und der haltlosen Trauer zu ertrinken.
Er wandte den Kopf und sah sie neben sich knien, Hermine zu seiner Rechten, Ron zu seiner Linken. Beide hatten ihm die Arme um die Schultern gelegt und gaben ihm allein mit dieser Berührung ein solch angenehmes Gefühl der Wärme, dass Harry einen Kloß im Magen fühlte.
Er sah von einem zum Anderen und fragte sich innerlich, wie lange sie schweigen würden? Das Einzige, was sie gesagt hatten, war sein Name. Aber würde es dabei bleiben?
Es schien fast so.
Und er war dankbar dafür, denn Worte hätten den Fluss, der eben in seinem Innersten aufschäumte, beruhigt, den Damm, der langsam Risse bekam, womöglich geflickt. So aber ließen sie zu, dass das Schweigen sich weiter Risse und Löcher in Harrys Selbstbeherrschung fraß und ihn schwanken ließ. Er wollte es, aber er wagte nicht, den letzten Schritt zu gehen. Den Sprung in die Schwäche zu wagen.
Er spürte nicht, wie eine Träne seine kalte Wange hinunterrann.
Hermine wandte ihm ihr blasses Gesicht zu, hob die Hand und zeichnete den Lauf der Träne von seinem Auge, über seine Wange, bis zu seinem Kinn nach. Es war nur eine zarte Berührung, aber sie genügte, um dem Damm in seinem Innersten den letzten Stoß zu geben.
Und der Damm brach, die Fluten der Trauer brachen hervor, rissen die Überreste mit sich fort, verschlangen alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Harry brach haltlos schluchzend in Hermines Armen zusammen. Er verbarg den Kopf zunächst an ihrer Schulter, dann allerdings rutschte er in ihren Schoß und seine Hände krallten sich in ihre Robe. Hermine legte ihm nur eine Hand auf den Scheitel. Sie rührte sich nicht, denn sie wusste, dass dies lange, sehr lange, fällig gewesen war. Und sie hatte Angst, ihn durch eine Bewegung zu verschrecken. Harry weinte nicht nur, er schrie sich die ganze Trauer aus dem Leib, den ganzen Zorn aus der Seele, schrie all das in Hermines Schoß, was er nie ausgesprochen hatte, seinen Hass auf sein Heldendasein, seinen Hass auf Voldemort, seinen Hass auf Bellatrix Lestrange, sein Wunsch, sie bestialisch und grausamst leiden zu sehen, bevor er sie tötete, seinen Hass auf Snape, der sie alle verraten hatte, seine Liebe zu Ginny, die nun zum Ersticken verdammt war.
All das vertraute Harry Hermines Schoß an, schluchzte es in den dicken schwarzen Stoff ihrer Robe. Über Harrys Kopf hinweg suchte Hermines Blick Ron und ihre Blicke hingen einen Moment aneinander in unausgesprochenem Einverständnis, dann legte Ron eine Hand behutsam auf Harrys Rücken und legte ihm seinen Umhang wieder über die Schultern. Die Hände von Ron aber blieben dort. Sie rieben den Freund warm.
Harrys Tränen schienen nicht mehr versiegen zu wollen, aber Hermine hatte Geduld, denn sie spürte, dass das, was sich da Bahn gebrochen hatte, mehr war, als nur die Trauer über Dumbledores Tod. Es war die Trauer Harrys ganzen Lebens.
Langsam begann sich die Hand, die auf Harrys Kopf lag, zu bewegen. Sie zauste das dunkle Haar, eine Berührung, die kaum spürbar war, aber doch voller Trost und Wärme.
Harrys Hände, die sich in Hermines Robe und auch teilweise schmerzhaft in ihren Oberschenkel gekrampft hatten, ließen ein wenig lockerer.
Ron und Hermine verständigten sich ohne Worte. Und der Freund verstärkte seine Berührung auf Harrys Schultern, die ihm zeigen sollte: „Wir sind bei dir, egal, was geschieht! Wir halten zu dir, was auch immer kommen mag!"
Harrys Schluchzen klang noch tief und kehlig. Zuviel hatte sich in all den Jahren aufgestaut, was jetzt hervorbrach und sich brutal Freiraum verschaffte. Die ständigen Schikanen und Quälereien von den Dursleys, die unglaubliche Erleichterung, als Zauberer von ihnen wegzukommen, der Schock, dass Voldemort die eigenen Eltern getötet hatte und er selbst eine Berühmtheit war, weil er den Fluch überlebt hatte. Die Abenteuer in Hogwarts, die unbändige Freude, als herauskam, das Sirius Black, sein Pate, doch nicht der Verräter war, die Hoffnung auf ein neues Zuhause, ein Stück Familie. Dann das Trimagische Turnier, der Schock, als Voldemort auferstand, die Lügen und Verleumdungen, die Rita Kimmkorn über ihn geschrieben hatte. Und dann, die Visionen, die, gepaart mit seinem Starrsinn, sich von Snape nicht unterrichten zu lassen, letztendlich seinen Paten das Leben gekostet hatten. So dachte Harry zumindest. Der Druck, den die Prophezeiung auf ihn auslöste.
Und nun auch noch Dumbledore. Dumbledore, der größte Magier aller Zeiten, der Einzige, der noch eine Art Vaterfigur für ihn gewesen war, tot, ermordet von Severus Snape für Draco Malfoy, der zu dieser Tat nicht fähig war.
Wobei Harry darüber froh war, er wusste nicht, wieso, aber es erfüllte ihn mit unbändiger Erleichterung, dass Draco Malfoy nicht fähig war, einen Menschen zu töten.
Todesser hin oder her, Malfoy war immer noch ein Mensch und es bestand noch Hoffnung für ihn. Das heißt, sollten sie ihn jemals wiedersehen.
Hermines Hand strich jetzt liebevoll durch Harrys dunkles wildes Haar, das ihm mittlerweile bis fast in den Nacken reichte. Sie senkte den Kopf und ihre zweite Hand begann, über Harrys Arm zu streicheln. Ron hatte sich mit seinem Oberkörper über seinen Freund gebeugt und hielt ihn umschlungen.
Die Wärme, die von den Körpern der beiden Anderen ausging, kroch durch Harrys Kleider in seinen Körper und breitete sich dort stetig aus, wie eine kleine Flamme, die, mit Luft und Liebe genährt, immer größer wurde. Harry fühlte, wie sie in seine Wangen stieg und er konnte förmlich fühlen, wie sich eine gesunde Röte über seine blassen Wangen zog, er spürte, wie sie in seine tauben Glieder fuhr und sie mit Leben füllte, dass sie zu prickeln begannen.
Harry fühlte, wie die Wärme und Liebe der Freundschaft von Hermine und Ron die verschlossene Tür zu seinem Herzen einfach eintrat, die Ketten sprengte, die Fesseln zerriss, in welchen Harrys Herz lag und es überflutete.
Und es tat so gut, dass er den Widerstand einfach aufgab. Er wollte nicht allein sein. Allein war er schwach, allein war jeder Mensch schwach, doch gemeinsam waren sie stark.
Harry merkte, wie die Wärme seine Tränen aufsog, sie schmolzen dahin unter der Hitze, die er nun ausstrahlte.
Sein Schluchzen ebbte ab und seine Hände ließen Hermines Robe los, in welchen sie sich verkrampft hatten, glitten über ihre Arme bis zu ihren Schultern, wie Harrys Blick nach oben glitt, als er seinen Kopf aus ihrem Schoß hob und ihr ins Gesicht sah.
Hermine blickte in tränenüberschwemmte grüne Augen, in denen sie jedoch endlich wieder den Harry erkannte, den sie seit über zwei Jahren schmerzlich vermisste.
„Hallo, Harry. Da bist du ja wieder!", flüsterte sie leise und schlang ihre Arme um ihn.
Harry erwiderte die Umarmung und ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, als er Rons Arme ebenfalls um sich fühlte.
„Wir haben dich vermisst!", murmelte Ron ihm ins Ohr und Harry hatte das Gefühl, er konnte es nicht oft genug hören. Er genoss es, inmitten seiner besten Freunde, die für ihn durch jedes Feuer, durch die Hölle und in den Tod gehen würden, zu sitzen und zu wissen, dass er niemals allein sein würde, solange es sie gab. Dieser Gedanke gab ihm soviel Kraft, soviel Trost. Wieso hatte er ihn vorher nicht gesehen? Weil er selbst Gefangener seines eigenen Schmerzes gewesen war. Harry zog Hermine noch enger an sich und drückte sich selbst enger in die Arme von Ron. So saßen sie dort und gaben sich gegenseitig Trost und Kraft in dieser dunklen Stunde, wohlwissend, das sie diese auf ihrem Weg noch brauchen würden. Engumschlungen hielten sie sich aneinander fest, als um sie herum die Welt auseinander zu brechen drohte.
So war fast nicht auszumachen, wo der Eine aufhörte und der Andere anfing.
Sie waren eine Einheit, eine Einheit mit drei Herzen, drei Geistern und drei Seelen.
Sie waren wieder das, was sie immer gewesen waren: Ein Bund der Drei!
Eine lange Zeit verstrich, in welcher keiner von ihnen ein Wort zu sagen wagte, aus Angst, die beängstigende, um sie herumwabernde, bedrückende Stille könnte ihn ersticken, wenn er den Mund öffnete.
Schließlich jedoch begann die Kälte sich durch ihre Roben bis in ihre Glieder zu schleichen und machte Hermine trotz der Tatsache, dass sie in Harrys Armen lag, zittern.
Auch Harry fühlte, wie die Kälte mit ihren eisigen Fingern nach ihm griff und er löste sich sanft aus der Umarmung seiner Freunde und erhob sich. Er streckte die Hand aus und half Hermine auf die Füße, bevor er begann, sich den Staub und die welken Herbstblätter von der Robe zu klopfen. Kräftige Hände unterstützten ihn mit einem Mal im Rücken und Harry ließ zu, dass Ron ihm half, bis seine Robe wieder einigermaßen sauber war.
Er indes half Hermine, sich vom Atem des Herbstes zu säubern und sie blickte ihn mit einem dankbaren Lächeln an.
Ihre kleine Hand wischte ihm die letzten Tränen von der, nun roten Wange und dann umfasste sie seinen Arm.
„Sag uns, wohin unser Weg uns führt, Harry!", bat sie leise und ihre Augen spiegelten ihr Versprechen wieder, das sie ihm gegeben hatte. Sie würde ihm folgen, wohin auch immer er gehen würde. Auch, wenn es der Tod war, nichts und niemand würde sie davon abhalten können. Harry wandte sich zu Ron um und konnte in seinen Augen den selben Schwur lesen.
Es erfüllte ihn einerseits mit Zorn über ihre Risikobereitschaft, andererseits mit Erleichterung, dass er diesen dunklen, schweren Weg nicht allein beschreiten musste.
Er würde es tun und hätte es auch allein getan, aber er wusste tief in seinem Herzen, dass es ihm mit seinen Freunden wesentlich leichter fallen würde, das alles, was war und das, was noch vor ihm lag, durchzustehen.
Er drückte
Hermines Hand und in seinen Augen lag tiefe Dankbarkeit, als er
erwiderte:
"Zurück nach Hogwarts! Ich habe noch eine
Erinnerung zurückzuholen!"
