Erwachen – Kapitel 3

Erkenntnisse

Gemeinsam traten sie in den Kamin. Draco hatte Harry den Umhang um die Schultern gelegt und ihn zärtlich geküsst, als er ihm den obersten Knopf schloss. Mit elegantem Schwung warf er sich seinen Umhang über. Dracos Umhang war nicht schwarz wie Harrys, sondern so dunkelgrün, dass man meinen konnte, er sei schwarz. Harry berührte ihn und ließ den schimmernden Stoff durch seine Finger gleiten. "Oh, ist der schön. Er passt so wundervoll zu dir.", er legte seine Arme um Dracos Taille. "Du hast ihn mir geschenkt, Liebling.", hauchte Draco und umarmte Harry. Dann warf er ein wenig Flohpulver, nannte den Namen von Hermines und Rons Haus und gleich darauf betraten sie deren gemütliche Küche, wo sie stürmisch von den Gastgebern begrüßt wurden.

Draco sprach einen Reinigungszauber über sie beide, noch bevor Hermine Harry um den Hals fallen konnte. Draco schüttelte Rons Hand und hob dann ein kleines Mädchen hoch, Hannah, das sich begeistert an ihn schmiegte. Als Harry Ron auf die Schulter geklopft hatte, den Wein überreichte und Hannah in seine Arme schloss, sah er, wie sich Hermine und Draco freundschaftlich umarmten. 'Heute wundert mich nichts mehr', dachte Harry und beschloss, den Abend einfach zu genießen.

Ron und Draco gingen mit Hannah ins Wohnzimmer, wo Draco Hannahs neue Brio-Eisenbahn bestaunen musste. Harry setzte sich an den Küchentisch und leistete Hermine in der Küche Gesellschaft.

"Wie geht es dir?", fragte sie. Harry sah auf und wusste nicht, was er antworten sollte. Er schüttelte nur den Kopf. "Du kannst dich nicht erinnern, oder?", sie hatte schon immer die Gabe gehabt, die Lage zu erfassen. Er nickte. Sie setzte sich zu ihm an den Tisch, das Essen kochte auch ohne sie.

"Was weißt du denn noch?" "Nichts mehr", flüsterte er, "Ich kann mich an nichts mehr erinnern, Hermine. Ich bin heute morgen aufgewacht und habe mich gewundert, dass Draco da war." Sie nickte: "Er liebt dich." "Ich weiß. Er sagte, er liebe mich mehr als sein Leben.", Harrys Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Die junge Frau ergriff Harrys Hand und drückte sie leicht: "Er hat seines für deines gegeben, Harry. Weißt du denn nichts mehr?" Die Erinnerungen waren zu schrecklich und sie hätte weiß Gott was dafür gegeben, sie nicht noch einmal erzählen zu müssen, allerdings sollte Harry sich doch erinnern. Er hatte es zu tief verdrängt. Harry sah nicht auf und schüttelte stumm den Kopf. "Du warst drei Jahre fort, Harry." Er sah auf. Drei Jahre? Gedankenblitze, Erinnerungsfetzen, die er nicht richtig greifen konnte, zuckten durch sein Hirn. Er hörte jemanden schreien und fühlte sich hilflos.

"Hermine, ich weiß es nicht mehr. Ich bin aufgewacht und lag in seinen Armen. Das Ganze ist so surreal. Als ob es nicht wirklich wäre." Sie kniff ihn leicht in die Hand: "Spürst du das?", fragte sie lächelnd. Er nickte. "Siehst du, es ist wirklich wahr. Du bist hier. Ich bin hier. Ron, Draco und Hannah sind hier. Du bist zu Hause. Du bist gesund. Es ist vorbei, Harry." "Bitte, erzähl es mir", Harry flehte sie fast an.

"Ihr habt damals in einem anderen Haus gewohnt, als ihr von ehemaligen Todessern überfallen wurdet. Sie wollten Rache für Voldemorts Tod, den Sturz ihrer Führer und die Zerschlagung ihrer... wie sag ich es... Bande! Sie wollten dich töten. Als sie die Haustüre eintraten, setzte Draco dich mit einem Petrificus Totalus außer Gefecht, warf dir den Tarnumhang über und verhinderte so, dass sie dich fanden."

Harry meinte sich zu erinnern. Vielleicht erinnerte er sich aber auch nur an Dracos Versuch, ihn am Anfang des sechsten Schuljahres aus der Schule zu verbannen, als er ihn im Zug liegen ließ oder an Dumbledores Schutz, kurz bevor er umgebracht wurde. Er hörte lieber Hermine zu.

"Sie fanden nur Draco. Unbewaffnet. Ich glaube, wir fanden später seinen Zauberstab unter dem Bett. Sie wollten wissen wo du bist. Und weil er es nicht preisgab, folterten sie ihn mit Cruciatusflüchen."

Harry hörte Schreie, entsetzliche Schmerzensschreie in seinem Kopf hallen. Er schloss die Augen.

"Es muss über Stunden gegangen sein. Er wäre fast gestorben. Aber er hat dich nicht verraten. Du lagst in einer Ecke des Zimmers und musstest hilflos mit ansehen, was sie ihm antaten. Nevilles Eltern haben damals den Verstand verloren vor Schmerzen. Draco nicht." Hermine kostete es ungeheure Kraft, darüber zu sprechen. Sie wollte es vergessen, aber sie konnte nicht. Und sie durfte nicht. Sie hatte eine Pflicht zu erfüllen. Und sie hatte ihre Freunde zu retten: Harry und Draco.

Harry sah durch die geöffneten Türen ins Wohnzimmer. Draco saß mit Hannah am Boden und half ihr, die Holzeisenbahn zusammenzubauen. Er legte gewagte Schleifen, Kurven und bastelte Brücken. Sie quietschte vor Vergnügen und schlang ihre Ärmchen um seinen Hals. Draco lachte und herzte das kleine Mädchen. Ron wühlte in einer Kiste und fischte weitere Elemente heraus, die Draco verbauen konnte.

"Irgendwann verlor er endlich das Bewusstsein und diese Schweine verließen euer Haus. Anscheinend dachten sie, er hätte es gesagt, hätte er es gewusst. Sein Fluch war aufgehoben und du konntest dich endlich wieder rühren. Du hast noch Hilfe geholt. Wir haben dich gefunden, wie du ihn in den Armen hieltest und weintest. Du warst überhaupt nicht zu beruhigen." Sie schluckte und fuhr dann fort: "Draco lag über Wochen im Koma. In Sankt Mungos dachten sie schon, er würde nie wieder aufwachen und wenn, hätte er einen Schaden. So wie Nevilles Eltern. Du bist nicht von seiner Seite gewichen. Tag und Nacht bist du an seinem Bett gesessen, hast seine Hand gehalten, hast geweint, gefleht und Rache geschworen." Hermine putzte sich die Nase und wischte sich die Tränen fort. Harry hatte ihr schweigend zugehört. Zusammenhanglose Erinnerungsfetzen zuckten erneut durch sein Hirn.

"Irgendwann wachte Draco doch auf. Ich weiß noch, wie erleichtert und erfreut wir waren, als wir es erfuhren. Er war wach und er war in soweit guter Verfassung, dass er relativ bald entlassen werden konnte." Sie sahen sich an. "Du hast ein anderes Haus für euch gefunden, in diesem konntet und wolltet ihr nicht mehr bleiben. Nein! DU konntest und wolltest nicht bleiben. Draco hast du nicht gefragt, aber ich denke, das war schon in Ordnung so. Du hast also ein anderes Haus gefunden, den Umzug organisiert und als Draco heim konnte, brachtest du ihn in das Haus, in dem ihr jetzt wohnt. Am nächsten Tag warst du weg."

"Wie!" Harry konnte es nicht fassen.

"Weg", antwortete Hermine schlicht. "Du hast uns und ihm gesagt, du würdest dafür sorgen, dass kein Todesser seiner gerechten Strafe entgeht. Dass keiner von denen "wieder auf die Füße fällt", wie du es so schön formuliert hast. Keiner sollte sich herausreden und wieder eine Top-Position bekleiden, wie es nach gestürzten Regimen immer geschieht. Dafür wolltest du sorgen. Und dann warst du eben weg."

"Und Draco?" Harry hatte Angst vor der Antwort, aber der musste er sich jetzt stellen.

"Draco blieb alleine zurück. Es dauerte Wochen, bis er es endlich schaffte, ohne Licht zu schlafen. Monate, bis er die Gesellschaft anderer außer Ron, Hannah und mir ertragen konnte. Und ich denke, es war mehr als ein Jahr, bevor er das Haus überhaupt verlassen konnte. Er ging nicht einmal in den Garten. Ron und ich mähten abwechselnd den Rasen. Das Schlimmste war, er lächelte nicht einmal mehr. Diese Augen... so verloren...", sie senkte die Stimme, obwohl sie sowieso schon leise gesprochen hatte, "Einmal habe ich ihm seine Lieblingsschokolade auf sein Kissen legen wollen. Es war ganz feucht. Ich bin sicher, er hat sich jede Nacht in den Schlaf geweint. Einmal sagte er, er sei ohne dich nur die Hälfte. Es war so schrecklich, diesen ehemals so stolzen und unbeugsamen Mann, der so gerne gelacht hat und so viel Witz hatte, so zu sehen."

Harry hatte das Gefühl, als zöge sich ein Riss von oben nach unten durch sein Herz. Er sah wieder ins Wohnzimmer, in dem die beiden Männer immer noch mit Hannah spielten. Draco ließ den Zug fahren, ahmte das Geräusch nach und die Kleine jauchzte wieder.

"Draco ist immer zusammengezuckt heute, wenn ich eine plötzliche Bewegung machte." Harry wollte das eigentlich nicht erzählen, aber er musste mit Hermine darüber sprechen. Sie nickte verstehend: "Er erträgt keine Schmerzen mehr, Harry." Er sah sie an und wusste gar nicht was sie meinte. "Keine Schmerzen mehr", wiederholte sie eindringlich, er nickte. "Keine plötzlichen Bewegungen, keine lauten Stimmen oder Geräusche und keine verschlossenen Türen." Er nickte wieder.

"Er ist einmal wie erstarrt am Tisch gesessen, als Fred einen neuen Scherzartikel vorgeführt hat, der Draco dann aus Versehen an der Schulter traf. Nichts Ernstes, einfach nur auf ihn drauf geflogen. Aber Draco erstarrte und wurde schneeweiß im Gesicht. Rons Mutter ist fast ausgeflippt, was die Sache nicht besser machte, du weißt doch, wie sie laut werden kann. Ginny und ich mussten ihn raus bringen."

Harry dachte daran, dass er nicht da war. Er war nicht da gewesen, um Draco zu beschützen, um ihm beizustehen. Er hasste sich selbst, dass er fort war, um die Welt zu retten und dabei das Wichtigste vergessen hatte: Draco. Den Menschen, der ihn am nötigsten gebraucht hätte, hatte er im Stich gelassen. Alleine. Dachte er denn immer nur an sich selbst und sein Heldentum?

"Harry, Draco hat geweint. Er saß einfach zwischen Ginny und mir und es hat ihn geschüttelt vor Weinen. Das Unheimliche daran war, dass er keinen Ton von sich gab. Die Tränen liefen ihm über das Gesicht, die Schultern zuckten, aber gehört hat man von ihm nichts." Harry hasste sich noch mehr. Er betrachtete seinen Geliebten wie er noch einige Holzteile an die Bahn baute, die Ron ihm reichte. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Drei Jahre? Drei Jahre, die für den ehemaligen Slytherin die Hölle gewesen sein mussten.

"Die Weasleys, ohne Percy natürlich, Professor McGonagall und Snape sind die einzigen, mit denen Draco in all den Jahren Kontakt hatte. Direkten Kontakt. Pansy, Blaise, Vincent und Gregory können nur über uns mit ihm in Kontakt treten. Und nur per Eule. Es ist einfach zu gefährlich. Sie sind wirklich lieb und würden ihn gerne wiedersehen, aber was ist, wenn man sie erpresst oder sich an sie dran hängt? Er traut keinem mehr, außer uns. Außer dir."

Harry nickte. Er wusste Draco hatte das riesige Vermögen seiner Familie geerbt und im Notfall hätte er von Harrys Vermögen leben können, sehr bequem sogar, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Draco Malfoy jahrelang untätig im Haus herumsaß und nichts für seinen Lebensunterhalt tat. Er musste diese Frage stellen.

"Er hat im Keller ein Labor eingerichtet und mit Severus an verschiedenen Tränken geforscht. Sie haben sogar einige Patente angemeldet und in die Muggelwelt verkauft." Sie kicherte. Harry zog die Augenbrauen hoch. Patente in die Muggelwelt? "Für Produkte gegen Reisekrankheit! Stell dir vor, das Zeug wirkt so gut und ist der absolute Renner. Airlines haben zum Beispiel die Kaugummis in den Netzen am Sitz, neben den Spucktüten. Und seitdem brauchen sie weniger Spucktüten, weil Dracos und Severus' Erfindung so gut wirkt." Harry war beeindruckt und betrachtete seinen Geliebten wieder. Hannah lag in seinen Armen und ließ sich ein Märchen erzählen. Offensichtlich kamen da Hänsel und Gretel nicht so gut weg. Hannah quietschte begeistert.

"Hermine, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, dass du mir das alles erzählt hast. Es tut mir so unendlich Leid, was passiert ist, was ich getan habe... oder besser nicht getan habe. Und dann habe ich auch noch alles vergessen." Harry schämte sich entsetzlich.

"Es war auch für dich ein Schock" Hermine wollte ihn zwar trösten, war aber auch ehrlich, "Erst musstest du mit ansehen, wie sie Draco stundenlang mit Cruciatusflüchen belegten, dann konntest du nichts tun, außer Hoffen und Beten, als er im Koma lag und als du was tun konntest, hast du es getan. Das war eben typisch du, Harry: Losziehen und Todesser zur Strecke zu bringen.", sie lächelte ihn an und drückte erneut seine Hand. Er war ihr so dankbar dafür, dass sie ihm keine Vorwürfe machte.

"Na? Gibt es bald Essen? Wir sind am Verhungern." Ron war in die Küche getreten und öffnete den mitgebrachten Wein. Hermine sprang auf und sah nach dem Essen, fügte noch einige Gewürze zu und ließ die Schüsseln, in denen das Essen serviert werden würde aus der Wärmevorrichtung auf die Arbeitsplatte ihrer Küche schweben. Harry lächelte und nickte: "Wir haben uns nur ein wenig verratscht." Ron nickte und füllte den Wein in den Dekanter: "Du warst lange weg." Er lächelte Harry an: "Ich bin so froh, dass du wieder da bist." Harry lächelte zurück und sah dann zu Draco, der in die Küche kam. Hannah spielte derweilen alleine mit ihrer Eisenbahn. "Ich auch", sagte Harry, erhob sich und umarmte Draco. Draco legte seine Arme um Harry und lächelte.

Während Ron und Hermine sich darum kümmerten, dass der Wein und das Essen auf den Tisch kamen, fragte Harry Draco, ob er ihnen das Geschenk für das Baby schon gegeben hätte. "Aber nein, Liebling, sie wollen es doch spannend machen und uns überraschen. Das wollte ich ihnen nicht verderben.", Draco sprach sehr leise. "Bist du sicher, dass Hermine wieder ein Kind erwartet?", Harry sah so etwas immer erst, wenn der Babybauch nicht mehr zu übersehen war. "Ja", war Dracos schlichte Antwort. "Und wieso?", Harry sah Draco fragend an. "Weil du es in ihren Augen siehst. Schwangere Frauen haben so ein Strahlen darin. Das ist nicht zu übersehen.", Draco lächelte Harry an und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Harry schluckte. Wie konnte er diesen wundervollen Engel nur so lange alleine lassen? Er würde es bis an sein Lebensende nicht begreifen.