Erwachen – Kapitel 5

Tatsachen

Harry hatte keine Ahnung, was er eigentlich arbeitete. Er war nach drei Jahren wieder nach Hause zurückgekehrt und überlegte sich, ob er überhaupt einen Arbeitsplatz hatte. Draco war selbständig und arbeitete zu Hause, das hatte ihm Hermine erzählt. Er fragte Draco beim Frühstück.

"Du bist Auror", antwortete dieser verwundert. "Ach ja?", Harry biss in seinen Toast und wollte Einzelheiten hören. "Naja, was ein Auror eben so macht." Das war nicht sehr hilfreich, aber Draco sagte öfter solche Dinge, mit denen Harry nichts anfangen konnte. Das teilte er ihm mit. "Oh! Entschuldige!", Draco überlegte, "Du warst nun drei Jahre pausenlos im Einsatz. Ich denke, sie haben dir deinen Urlaubsanspruch aufgehoben, oder ausbezahlt, du musst in deinen Gehaltsabrechnungen nachschauen.", er deutete vage ins Wohnzimmer, offensichtlich lagen sie da. - Sie lagen da. Ungeöffnet. Nein! Halt! Geöffnet schon, aber Draco hatte nicht hineingesehen. Das Öffnen war nur ein Service von ihm, damit der ungeduldige Harry schneller an den Inhalt kam. Harry stellte das später fest, dass Draco generell die Umschläge aufschlitzte, aber nur seine eigenen Briefe las. - "Ich denke, du kannst heute beruhigt zu Hause bleiben und es reicht, wenn du dich morgen im Ministerium meldest, um das zu klären. Allerdings, " beeilte sich Draco hinzuzufügen, "kann ich ihnen aber auch eine Eule schicken, wenn du das möchtest. Dann weißt du sofort bescheid." "Nein, ist schon gut, ich denke, es reicht auch morgen. Wenn ich drei Jahre fort war, im Dienste der Allgemeinheit, dann passt das schon." Harry lächelte, Draco lächelte unsicher zurück. In Harrys Hinterkopf meldete sich der Gedanke, dass das "Widersetzensding" für Draco noch längst nicht abgehakt war. Der Riss in Harrys Herz meldete sich wieder schmerzhaft. Er musste das heute klären.

"Sag, Draco, wie bin ich eigentlich hierher gekommen?" "Ich weiß es nicht," Draco dachte nach, "Auf einmal standest du hier vorn im Eingang.", er deutete aus der Küche hinaus in den Bereich vor der Haustüre. "Wie bin ich hier hereingekommen?", Harry überlegte. Draco zuckte die Schultern: "Mit dem Schlüssel?" Harry sah ihn verblüfft an, Draco sah ausdruckslos zurück. "Mit dem Schlüssel!" "Ja, du hast einen." "Moment, du meinst, man kommt hier so einfach mit einem Schlüssel herein? Keine Sicherungen, kein Zauber, nichts?" Draco nickte und zuckte die Schultern. "Und wenn jemand gekommen wäre?", Harry konnte es nicht fassen. "Dann wäre jemand gekommen.", war die lapidare Antwort. "Er hätte dir was tun können." "Was hätte mir schon jemand tun können? Du warst weg. Das einzige was mir hätte passieren können, wäre gewesen, wenn du gestorben wärst. Ansonsten konnte mir nichts passieren.", Draco verstand die ganze Aufregung nicht und ihm war nicht wohl deswegen. "Er hätte dir weh tun können, Draco." "Nur dein Tod hätte mir noch weh getan, Harry. Und dir ging es gut. Alles andere ist unwichtig." "Ich wäre heimgekommen und hätte nur dein Grab gefunden. Ich denke, das ist schon wichtig.", Harry merkte zu spät, dass er die Stimme erhoben hatte. Draco zuckte zusammen und murmelte: "Das hätte mir Leid getan. Wirklich. Aber dann wäre ich tot gewesen."

Harry stand auf und verließ die Küche. Draco hatte offensichtlich einen an der Klatsche! Wütend ging er nach oben ins Bad, putzte sich die Zähne und versuchte, sich wieder zu beruhigen. Wie konnte Draco sein Leben nur als so wertlos betrachten?

Draco saß einen Moment da wie ein begossener Pudel, als Harry die Küche verlassen hatte. Er begriff nicht, was Harry so aufgebracht hatte gegen ihn. Er war so ganz anders seit seiner Rückkehr. Man konnte ihm irgendwie nichts mehr Recht machen und einschätzen sowieso nicht. Er räumte die Küche auf und spülte das Geschirr auf seine Art: Er ließ den Zauberstab kreisen und sah zu wie das Geschirr sich selbst spülte. Hermine hatte ihm einmal erzählt, Muggel hätten Maschinen dafür. Wie umständlich.

Harry trampelte wieder die Treppe herunter. Draco zuckte bei dem Lärm zusammen. Für ihn war Lärm wie Schläge. Er konnte nichts dergleichen mehr ertragen. Harry riss sich seinen Umhang von der Garderobe, warf ihn sich um und verließ das Haus mittels Flohpulver durch den Kamin. Bevor Draco ihn noch um Verzeihung bitten konnte, war er weg. Draco starrte in den leeren Kamin und hatte ein ungutes Gefühl im Bauch. Das lief irgendwie gar nicht gut. Er schluckte.

Er stand immer noch so da, als ihn eine vertraute Stimme aus seinen Gedanken riss: "Draco, warum weinst du?" Das hatte er überhaupt nicht bemerkt. Beschämt nahm er sich ein Taschentuch aus einer Schublade, wischte sich die Tränen fort und putzte sich die Nase. "Severus, gut, dass du kommst", Draco ging nicht auf die gestellte Frage ein und setzte schon wieder frischen Tee auf. Das Geschirr hatte sich längst selbst abgetrocknet und in den Schrank geräumt. Dafür hatten die Muggel keine Maschinen...

Sein ehemaliger Lehrer betrachtete ihn besorgt. Er hatte gehofft, Harrys Rückkehr würde Dracos verletzter Seele gut tun. Irgendwie hatte er sich da wohl getäuscht. Severus Snape war wütend auf Harry und würde sich ihn mal bei Gelegenheit vorknöpfen. Der Auserwählte, rettete jeden wertlosen Idioten, aber Draco ließ er am ausgestreckten Arm verhungern, na, der sollte ihm unter die Augen treten. Er nahm den Tee entgegen und bedankte sich. Dann schnitt er ein unverfängliches Thema an und sie diskutierten über Tränke, Zutaten und künftige Projekte. Krebsheilkunde war eines davon. Severus dachte daran, dass man mit konkreter Hilfe für all die Kranken auch noch ungeniert Profit machen konnte. So etwas liebte er: Zwei Fliegen mit einer Klappe. Draco ging es längst nicht mehr um Geld. Er hatte mehr als genug davon. Soviel konnte er gar nicht verprassen, wie er hatte. Nun, verprassen tat er sowieso nichts. Er verließ kaum das Haus und das Wenige, das er zum Leben brauchte, war nicht der Rede wert.

'Eines Tages verschmelze ich mit der Wand', dachte Draco manchmal in seiner Einsamkeit. Er wusste selbst nicht, wie er das meinte, aber es klang beruhigend.

Um Harry nicht eventuell noch mehr zu verärgern, weil er "tratschte", behielt Draco das Gespräch vom Frühstück für sich. 'Vielleicht sollte ich doch noch ein Schloss an der Tür anbringen', überlegte er, während er seinem Paten und Geschäftspartner in den Keller folgte. Dann wäre Harry vielleicht nicht mehr so ungehalten?

"... was meinst du, Draco?" Draco schreckte auf, er hatte Severus überhaupt nicht zugehört. "Es tut mir Leid, Severus", entschuldigte sich Draco, "Ich war in Gedanken." "Schon gut, mein Junge", beruhigte ihn der sanft, "Dann sage ich es eben noch einmal." Diesmal hörte Draco aufmerksam zu. Er bekam doch sonst alles auf die Reihe, jetzt benahm er sich unaufmerksam und schusselig. Draco riss sich zusammen. Er würde keine Fehler mehr machen und Harry keinen Grund mehr geben, wütend auf ihn zu sein.

Harry war nicht mehr wütend. Er war beschämt. Er trat aus dem Kamin in Hermines Küche und wurde von Hannah freudig begrüßt. "Wo ist Onkel Draco?", fragte sie dann. "Zu Hause, Schätzchen.", Harry hob sie hoch, drückte ihr einen Kuss auf die Wange, sie quietschte, und setzte sie wieder ab. Hannah lief hinaus, um ihrer Mama zu sagen, dass der Onkel da sei. Wenig später kam sie in die Küche: "Oh, hallo, Harry. Schön, dich zu sehen." "Hermine, ich muss dringend mit dir reden. Ich habe das Gefühl, mit Draco stimmt etwas nicht.", er war froh, dass Hannah sich ins Wohnzimmer verzogen hatte und mit ihrer Eisenbahn spielte. Hermine wedelte mit dem Zauberstab und sorgte für Tee. Sie setzten sich an den Küchentisch.

"Was ist los?", fragte sie. Harry erzählte ihr von dem seltsamen Verlauf des gestrigen Gespräches und dann von dem am Frühstückstisch. Das mit den Handschellen ließ er lieber weg.

Hermine sah in ihre Tasse. Harry fühlte sich unbehaglich.

"Ich sagte doch gestern, dass er keine Schmerzen mehr erträgt. Und keinen Lärm. Aber Lärm erträgt er nicht, weil ihm der weh tut, womit wir wieder bei den Schmerzen wären." Harry nickte. "Nun, wie soll ich es sagen?", sie suchte nach Worten, "Eure Beziehung war ziemlich... hm... "speziell", weißt du?" Nein, wusste er nicht. Was meinte sie mit "speziell"?

"Ihr hattet eine", es war ihr nicht angenehm, darüber zu sprechen, "Herr- und Meister-Beziehung." Wie?

"Was du gesagt oder verlangt hast, war Gesetz." Wie?

"Draco hat sich nie widersetzt. Er hat getan was du wolltest?" Wie?

"Bis zu dem Tag, als die Todesser kamen. Da hat er nur noch daran gedacht, dich zu schützen und sich gegen deinen ausdrücklichen Wunsch gestellt. Du hättest sie am liebsten sofort alle miteinander kalt gemacht. Aber er wusste, ihr hättet keinerlei Chance gehabt, auch nur einen von ihnen zur Strecke zu bringen. Er war schon immer der Stratege, du der Impulsive. Ihr hattet euch perfekt ergänzt. Aber gegen die hattet ihr keine Chance. So setzte Draco dich außer Gefecht und verbarg dich unter dem Tarnumhang. Den Rest habe ich dir gestern erzählt.", sie trank von ihrem Tee.

"Er war Auror?", eine Information nach der anderen filterte sein Hirn aus der Erzählung. Hermine nickte: "Er ist es noch, aber halt nicht mehr aktiv. Jetzt forscht er mit Severus an Tränken."

"Und er war so durch den Wind, weil er mich gerettet hat?"

"Nein, weil er sich deinem Wunsch widersetzt hat. Das mit dem Retten ist keine Entschuldigung für seinen Ungehorsam."

Harry hatte das Gefühl, alle Welt müsste spinnen: "Ungehorsam? Habt ihr sie nicht mehr alle? Er hat mir mein verdammtes Leben gerettet, seines dabei fast verloren und alles an was er die drei Jahre denkt, ist, dass ich ihn bestrafe, wenn ich wieder zu Hause bin?" Harry begriff langsam in welcher Angst sein Geliebter all die Jahre gelebt haben musste.

"Harry, es ist nicht meine Idee gewesen. Es war... nein, nicht deine... eure? Jedenfalls war es eure Art zu leben und ich halte mich da raus, weil es mich nichts angeht." Gute, pragmatische Hermine.

Harry verstand sie. Im Grunde hatte sie Recht und er war ihr unendlich dankbar, dass sie ihm keine Vorwürfe machte. Schließlich war es seine Schuld, dass Draco halb wahnsinnig vor Angst war. Liebe sollte keine Angst machen, dachte er und ihm fiel ein Bibeltext ein:

Die Liebe ist langmütig und gütig. Die Liebe ist nicht eifersüchtig, sie prahlt nicht, bläht sich nicht auf, benimmt sich nicht unanständig, blickt nicht nach ihren eigenen Interessen, rechnet das Böse nicht an. Sie freut sich nicht über Ungerechtigkeit, sondern freut sich mit der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, erduldet alles. Die Liebe versagt nie. (1. Korinther, 13:4 ff)

Er schämte sich entsetzlich. Der gestrige Verlauf des Gespräches war ja keine Klärung gewesen. Es war lediglich ein Aufschub für Dracos Strafe. So musste es Draco wohl vorgekommen sein. Draco hatte bestimmt eine Heidenangst. Und dann sein Ausbruch vorhin. Er war ungehalten gewesen und hatte es offen gezeigt. Er hatte sich keine Mühe gegeben, leise zu sein.

Draco ertrug keine Schmerzen mehr. Draco hatte mehr als genug Schmerzen ertragen. Und alles was er empfand, war, dass er Fehler begangen hatte, die keine waren, dass sein Leben nichts wert war, weil er Harry erzürnt hatte. Er stellte sich vor, wenn er heimgekommen wäre und nur noch Dracos Grab gefunden hätte. Der Riss in seinem Herzen wurde tiefer und tat höllisch weh. Sie waren erst 25 Jahre alt und hatten mehr durchgemacht, als die meisten hochbetagten Leute.

Hermine ließ Harry Zeit und trank ihren Tee. Sie liebte Harry wie einen Bruder, den sie niemals gehabt hatte, aber manchmal war er einfach ein Esel. Die Liebe zu ihm überwog.

"Ich habe ihn behandelt wie einen Hund.", Harry brachte seine Gefühle auf den Punkt. Hermine sah ihn überrascht an und schüttelte den Kopf: "Nein, so nun auch wieder nicht." "Doch schon so. Ich habe ihn behandelt wie mein Haustier.", beharrte Harry, "Hat er gefolgt, habe ich ihm den Kopf getätschelt und wenn nicht, setzte es was." Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie es damals gewesen war. Offensichtlich hatte er durch den Schock und der Jagd nach den Schuldigen, das meiste vergessen. Nach und nach kam zwar die Erinnerung wieder, es würde aber noch einige Wochen, wenn nicht gar Monate brauchen, bis er alles wieder wusste. "Das ist jetzt nur, weil du dich nicht mehr erinnern kannst, Harry", versuchte ihn Hermine zu beruhigen, "So wie du es sagst, war es nicht. Wirklich." Harry ließ sich jedoch nicht beirren: "Vielleicht nicht so, aber so ungefähr. Mich macht es krank, wenn ich sehe, wie er zusammenzuckt. Wie entsetzt er schaut. Hast du seine Augen gesehen, wie sie sich weiten und er bleich wird?"

Das hatte sie in den vergangenen Jahren nur zu oft gesehen. Es hatte ihr in der Seele weh getan. Ron kostete es ebenfalls viel Kraft, als er Draco stützen und wieder Mut machen musste. "Manchmal wünsche ich mir den arroganten Bastard aus unserer Schulzeit zurück.", meinte er einmal, als sie den ganzen Tag damit verbracht hatten, Draco aus seiner Erstarrung zu befreien. Luna, die inzwischen einen Esoterikshop in Muggel-London besaß, hatte ihnen schließlich Duftkerzen empfohlen, die - oh Wunder - sogar ihre Wirkung taten.

Harry hatte Hermine genug Zeit gestohlen. Er stand auf, umarmte sie und winkte Hannah zum Abschied zu. Kurz darauf trat er wieder aus dem Kamin seiner eigenen Küche und sah sich nach Draco um. Er war nirgends zu sehen.