Kapitel 6

Freundinnen

Irgendwann weit gegen Mitternacht schlich Alexa zurück in den Gemeinschaftsraum. Es hatte lange gedauert, bis ihr Atem nach Snapes Verschwinden wieder so ruhig ging, dass sie es wagte, sich von der harten Bank in der Bibliothek zu erheben.

Ihr Kopf war vollkommen leer, als sie das Wohnzimmer der Ravenclaws betrat. Im Kamin glommen nur noch Reste des Feuers, rote Glutaugen unter schwarzer Asche. Für einen Moment blieb sie auf dem ausgetretenen Teppich vor der Feuerstelle stehen und starrte hinein. So fühlte sie sich, genau so.

Als ob ihr Körper langsam abstarb, schwarz wurde und nur ganz klein im Inneren eine kleine Flamme loderte. Eine Flamme, die bei dem Anblick von Snape hochgeschossen war – allein mit dem Resultat, dass sie sich noch zerstörter fühlte. Sie wusste nicht, ob er etwas zu tun gedachte oder was. Im Fall, das er untätig blieb – und das zu erwarten – würde sie ihn noch mehr verachten, als sie es jetzt schon tat. Weil er gesehen hatte, was ihr Stiefvater tun konnte und was sie hatte mit sich machen lassen.

Der Gedanke an die Erniedrigung ließ ihr heiße Röte ins Gesicht steigen. Und falls Snape sich wider Erwarten doch einmischte, fürchtete sie Ronans Rache. Bei dem Gedanken, dass er ihrer Mutter noch etwas tun würde, bevor sie ihn verhafteten, musste sie schlucken. Er war ein Auror, einer der mächtigsten Zauberer, die sie jemals gesehen hatte. Und er wusste stets, was um ihn herum geschah und was in ihrem Kopf vor sich ging. Ronan wusste genau, dass sie ihm nichts entgegenzusetzen hatte.

Allein die Scham, die sie befiel bei dem Gedanken, das schildern zu müssen, was er ihr angetan hatte.

Sie wurde von einem leisen Räuspern aus den Gedanken gerissen und fuhr herum. Eine Kerze flammte auf und sie sah Kelly, sah zuerst das vertraute Blitzen runder Brillengläser.

„So, da bist Du wieder", sagte Kelly trocken und verschränkte angriffslustig die pummeligen Arme unter der Brust. „Hättest Du jetzt die Güte, mir zu erklären, was mit Dir los ist?"

Alexa seufzte leise und legte ihre Bücher auf einem Tisch ab. Sie wagte es nicht, ihre beste Freundin anzusehen, sondern fixierte die Einbände der Werke mit festem Blick. Ihrer Stimme gab sie einen schleppenden, gelangweilten Klang. Was sie für eine Schauspielerin geworden war, schoss es ihr durch den Kopf und ihr Körper krampfte sich zusammen.

„Du langweilst mich, Kelly. Wirklich. Wie oft muss ich Dir noch erklären, dass ich mir ein paar Gedanken gemacht habe. Ende dieses Jahres werde ich einen hervorragenden Abschluss machen und ich kann es mir nicht leisten, so jemanden wie Dich durchzuschleppen. Seit Jahren helfe ich Dir bei den Hausaufgaben und trage Dir Deinen Kram hinterher. Das reicht mir. Viel zu lange war ich zu gutmütig. Ich muss jetzt an mich selbst denken."

Aus den Augenwinkeln sah sie Kellys fassungsloses Gesicht. Das durch und durch liebenswerte Mädchen war vollkommen fassungslos und brachte hervor: „A – aber, was redest Du für einen Unsinn, Lexi? Es hat Dich nie gestört. Warum jetzt? Warum so plötzlich?"Ihre Miene wurde ernster. „Du bist so vollkommen anders, was ist los mit Dir?"

„Nichts", gab Alexa unwirsch zurück und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Du magst vielleicht damit zufrieden sein, später den Laden Deiner Mutter zu übernehmen und magisches Spielzeug zu verkaufen. Aber ich will mehr. Ins Ministerium. Und da kann ich niemanden gebrauchen. Vor allem Dich nicht."

Innerlich schrie sie gegen die Worte an, di sie sprach, doch nichts als die bösartigen Phrasen kamen über ihre Lippen. Sie wollte nicht, dass Kelly es erfuhr. Sie wollte sich nicht den entsetzten und angeekelten Gesichtsausdruck der Freundin vorstellen und erst recht nicht, dass Kelly in alles hineingezogen wurde. Dafür war sie ihr zu wichtig.

„Warum sagst Du nur so hässliche Sachen, Lexi? Was habe ich Dir getan?"

Kelly wich ein Stück zurück und Alexa fühlte eine Art perversen Triumph in sich aufsteigen. Sie setzte hinzu, nur wollend, dass dieses Gespräch, diese einzige Lüge ein Ende hatte:

„Du bist Du, Kelly und das hat mich zu lange gestört. Ich war nur zu höflich und habe es genossen, dass Du mich gebraucht hast. Aber das ist vorbei."

„Oh, Du – Du -."

Kelly drehte sich um und rannte die Treppe hinauf, die Kerze mit sich nehmend. Alexa blieb in der Dunkelheit zurück, die letzten Glutreste erloschen knackend im Kamin. Sie atmete tief durch, nahm ihre Bücher auf und ging in ihr Schlafzimmer. Sie brauchte kein Licht, denn die Stufen kannte sie längst auswendig. Mit einem kleinen Seufzer ließ sie sich auf der Bettkante nieder und starrte blicklos in die Düsternis. Vor den bleiverglasten Fenster tanzten dunklen Wolken vor einem sichelförmigen Mond.

Eine kleine Weile verging, in der sie an nichts denken konnte als an die Pein und Wut in Kellys Augen. Mit einer wütenden Bewegung warf sie schließlich die Bücher in eine Ecke, obwohl ihre Rippen schmerzhaft protestierten. Dann holte sie ihren Zauberstab heraus und zog ihren Ärmel hoch.

„Cura. Cura. Cura."

Was Snape gesehen hatte, durfte niemand anderes erblicken. Sie wollte es nicht einmal selbst sehen. Es genügte, wenn sie ihr Innerstes bluten fühlte.