Kapitel 10

Schmerz

Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, da geriet Bewegung in Snapes hohe, bislang reglose Gestalt. Mit einer Bewegung, die alle Wut ausdrückte, die er in diesem Moment empfinden mochte, kam er auf Alexa zu und beim Anblick seiner Züge, über die er nun endgültig die Kontrolle verloren zu haben schien, zuckte sie zurück und hob den Arm, um sich vor einem Schlag zu schützen.

Doch er schlug sie nicht. Zwei Hände ergriffen ihre Oberarme und drückten sie mit Wucht gegen das kalte Holz der Tür. Erschrocken wimmerte Alexa auf, als ihr Kopf gegen die Tür prallte, ängstlich und auf das gefasst, was kommen mochte. Snapes wilder Blick bohrte sich in ihr Gesicht und seine Stimme erklang seltsam abgehackt, als er hervorpresste:

„Ich verbitte mir jegliche Spekulation über meine Motive. Und damit wir uns verstanden haben – verkneifen Sie sich in der kommenden Zeit persönliche Äußerungen. Haben – Sie – mich verstanden?"

Dann ließ er sie los, so als habe er sich an ihr verbrannt. Alexa meinte noch den Druck seiner langen Finger auf ihrer Schulter zu spüren und atmete zittrig aus und ein. Sie hatte sich im Reflex zusammengekrümmt, um sich kleiner zu machen, denn diese Demonstration männlicher Macht kannte sie von Ronan – und sie kannte auch die Befriedigung, die ihr Stiefvater dabei empfand.

Doch Snape hatte nicht aus kalter Berechnung gehandelt, sondern war offenkundig von seinen Gefühlen geleitet gewesen. Und diese hatte er unter Kontrolle bekommen. Langsam verließ Alexa ihre Angst und sie nickte leicht.

„Ja, Professor."

Snape atmete durch und seine angespannte Haltung ließ abrupt nach. Seine angespannten Schultern sackten ein kleines Stück nach unten und dann trat er ein Stück zurück, um ihr Platz zu machen.

„Gehen Sie."

Dieses Mal blieb sie stumm, als sie sein Büro verließ und die Tür leise hinter sich schloss. Eilig floh sie in die beruhigende Stille ihres Schlafsaales und warf sich dort aufs Bett. Grüblerisch rollte sie sich auf den Rücken und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Unruhe und Verwirrung zitterten in ihr wie ein Insekt im Spinnennetz.

Langsam begriff sie, was Snape ihr mit seinem Angebot, sie die Drei Flüche zu lehren, bezwecken wollte. Es ging einzig und allein um Macht, um jenes Spiel, das er nur zu gut beherrschte. Indem er sie lehrte, Ronan ebenbürtig zu sein, wollte er sie aus jenem kranken Verhältnis aus Gewalt und Unterordnung befreien, in dem sie sich gefangen sah. Doch er hatte etwas nicht bedacht – selbst wenn Alexa die Flüche kannte, so war sie noch immer nicht fähig, ihre Familie zu beschützen. Denn das hätte bedeutet, sich ihrer Mutter und ihrer Schwester zu offenbaren und das konnte sie einfach nicht.

Alexa umarmte ihr Kissen und fühlte, wie Scham und Schmerz in ihr tobten. Ganz gleich, was geschehen, was sie auch lernen würde – sie konnte nur verlieren, wenn nicht -.

Mit einem Ruck setzte sie sich wieder auf. Sie würde Snape am nächsten Abend bitten, den Unterricht zu beenden, sobald sie gelernt hatte, wie sie Ronan ausspionieren konnte. Allein die Entlarvung als Todesser würde ihren Stiefvater endgültig ausschalten. Ihr Aufbegehren gegen ihn würde unnütz oder gar gefährlich sein und so musste sie sich in Geduld üben, auch wenn es bedeutete, ihm und seinen perversen Spielen weiterhin ausgeliefert zu sein.

So zog sie sich aus, rollte sich im Bett zusammen und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen, einem Freitag Anfang Dezember, erhob sie sich ein wenig zuversichtlicher. Als sie jedoch zum Frühstück in die Große Halle ging, sah sie verwundert, dass am Lehrertisch einige Aufregung herrschte. Die stellvertretende Schulleiterin, Minerva McGonagall, sah aus, als hätte sie nicht geschlafen und Albus Dumbledore tätschelte in regelmäßigen Abständen ihre Hand, um sie zu beruhigen.

Snape war nirgendwo zu sehen und das war ungewöhnlich, denn eigentlich saß er jeden Morgen mit bitterer Miene an der Tafel und verbreitete eine Aura von Missmut. Alexas Magen krampfte sich zusammen und sie musste zugeben, dass sie den Lehrer zwar nicht mochte, aber sich dennoch an ihn gewöhnt hatte.

Nach einem hastigen Frühstück begab sich Alexa in den Unterricht, dem sie an diesem Tag nicht folgen konnte. Immer wieder zuckte ihr Blick zur Tür des Klassenzimmers, ständig erwartend, dass sie eine Nachricht erhielt, dass die Stunden bei Snape ausfallen würden. Doch nichts dergleichen geschah und so machte sie sich am Abend wie üblich auf den Weg in den Kerker.

Um das Schloss tobte ein Schneesturm und ihr schien es, als würde die Kälte gnadenlos die massigen, dunklen Steine durchdringend, aus denen der Kerker gemauert war. Schaudernd zog Alexa ihren Umhang enger um sich und eilte schneller durch die niedrigen Gänge, um zu Snapes Büro zu kommen.

Auf ihr Klopfen hin herrschte eine kleine Weile Stille, doch dann hörte sie Snapes Stimme, die sie hereinrief. Im Inneren des Büros war es überraschend warm, denn in dem kleinen Kamin, der in die Regale eingebettet lag und der bisher unbenutzt geblieben war, brannte ein Feuer. Snape saß in einem hohen Lehnstuhl vor den Flammen und blickte hinein. Er hob nicht einmal den Kopf, als sie eintrat, sondern starrte weiterhin blicklos vor sich hin. Alexa wurde mulmig zumute.

„Professor?", fragte sie leise. „Geht es Ihnen gut?"

Snape drehte den Kopf und als der Feuerschein seine bislang abgewandte Gesichtshälfte beleuchtete, schnappte Alexa geschockt nach Luft. Irgendetwas hatte seine Stirn und seine Wange verbrannt. Rohes Fleisch schimmerte im Schein der Flammen auf.

„Setzen Sie sich", sagte er lediglich mit schleppender, müder Stimme und wandte sich dann wieder dem Feuer zu. Alexa nahm gehorsam an ihrem Tisch Platz und fand dort ihre Aufgaben für den Abend. Sie begann zu schreiben, doch immer wieder musste sie sich heimlich umdrehen, was er zum Glück nicht sehen konnte, da er mit dem Rücken zu ihr saß.

Die Uhr in einem der Regale tickte unbarmherzig und die Holzscheite im Feuer knacken leise. Alexa lauschte in die von tanzenden Feuerschatten erhellte Düsternis des Büros und stellte nach einer Weile fest, dass sie nur Unsinn schrieb. Sie legte die Feder hin und erhob sich.

Als sie wieder neben Snapes Stuhl stand, sah sie, dass er die Augen geschlossen hatte und dass sein Gesicht inzwischen kalkweiß war. Der Ausdruck von Qual auf seine Gesicht schnitt Alexa mitten ins Herz. Sie hob die Hand, um sie auf die seine zu legen, die um den Griff der Seitenlehne des Stuhls gekrampft war, doch dann ließ sie sie wieder fallen.

„Soll ich Hilfe holen?" , fragte sie leise. Snapes Lider ruckten nach oben.

„Unterstehen Sie sich, Miss Hammond. Gehen Sie ins Bett." Seine Stimme klang zwar schwach, aber wie stets befehlsgewohnt. Alexa atmete kurz durch.

„Nein", sagte sie dann fest und setzte sich kurzerhand auf den Boden neben ihn, ihre Schulter gegen den Stuhl lehnend. „Sie können mich ja rauswerfen."

Ein entnervter Seufzer verkündete ihr, dass sie diese kleine Auseinandersetzung gewonnen hatte. Und so starrten sie gemeinsam ins Feuer.