Kapitel 18

Ein neues Jahr

Es gab drei Orte, an denen Alexa Snape vermutete und nur zwei waren für sie frei zugänglich. Nachdem sie in seinem Klassenraum kein Glück gehabt hatte und vor seinem Büro stand, wagte sie es kaum, die Hand zu heben, um zu klopfen. Sie fragte sich, was sie tat und fand keine richtige Antwort darauf. Vielleicht war es die Szene im Schnee gewesen, die sie dazu trieb, jetzt nach Snape zu suchen, vielleicht auch Dumbledores Worte. Aber möglicherweise war es einfach ein Bedürfnis, das sie schon länger empfunden und vor dem sie Furcht gehabt hatte.

Er verstieß Menschen. Er tat ihnen weh. Seine Gegenwart bedeutete, mit Dunkelheit und tief verborgenem Schmerz konfrontiert zu werden. Doch warum sollte sie das fürchten, was er war? Sie war es selbst.

Entschlossen klopfte sie und drückte dann die Klinke hinunter, ohne auf eine Antwort zu warten. Im Büro war es fast vollkommen dunkel, nur im Kamin glomm noch die Glut eines längst zusammengefallenen Feuers. Snape saß hinter seinem Schreibtisch und blickte ihr entgegen. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Buch, doch wohl nur als Alibi, denn die einzelnen Worte waren sicherlich bei der Dunkelheit nicht mehr zu entziffern.

„Warum sind Sie hier?" Seine im üblichen kühlen Ton vorgetragene Frage stand im Raum wie ein Schatten. Alexa atmete tief durch, als sie die Tür schloss und auf ihn zuging. Vor dem Schreibtisch blieb sie stehen und sah ihn an. Ihre Hände flatterten, doch ihre Stimme klang ruhig, als sie eine Antwort zu finden suchte, für sich und für ihn:

„Ich kann nicht ewig vor dem fliehen, was ich fürchte. Und ich kann nicht ignorieren, was ich mir wünsche."

Snapes Augen blitzten kurz auf und seine langen Finger schlossen sich fast krampfhaft um die Armlehne seines Stuhles.

„Wenn Sie so mutig wären, Miss Hammond, dann wären Sie nicht bei mir, sondern würden Ihren Stiefvater anzeigen."

Der Hieb saß und Alexa zuckte zusammen. Schon lange hatten seine Worte sie nicht mehr verletzen können, doch dieses Mal hatten sie es getan, denn sie hatte sich geöffnet, für Snape, für eine Hoffnung, für eine Möglichkeit. Sie musste sich setzen, auf den harten, unbequemen Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches, der wie ein Ungetüm zwischen ihnen ruhte. Stille entstand, nur hin und wieder knackte es leise in der Asche im Kamin. Alexa starrte auf den Boden, auf ihre schmerzhaft ineinander verschränkten Finger und blinzelte gegen die Tränen in ihren Augen an.

Was hatte sie erwartet? Es gab in ihrem Leben keinen Ort, an dem sie ihren müden Kopf betten konnte, ohne Angst zu haben, verletzt zu werden und unverstanden zu sein. Daran war sie selbst schuld, weil sie der Mut verlassen hatte, mit jenem ersten Mal, in dem Ronan ihr ihre Bestimmung über ihren Körper und ihre Seele geraubt hatte. Nun hatte sie sich diesen Mann ausgesucht, viel Hoffnungen in ihn gesetzt, vielleicht zu viele und er tat, was er immer tat. Er reflektierte das Wesen, in das sie sich verwandelt hatte und es ekelte sie an. Und dennoch war es, als wäre sie, gefangen in seiner Düsternis, endlich zuhause angekommen, an jenem Ort, den sie sich so gewünscht hatte und den sie doch fürchtete.

Sie blickte auf und schämte sich der Tränen nicht, die aus ihren Augen rollten.

„Ist es das, was wir sind? Nur Schmerz und Verachtung? Ablehnung von allem, was einst für uns gut und schön war?" Die Tränen strömten heftiger und sie wischte sie mit dem Ärmel ihrer Robe fort. „Ist das alles, was wir sind, Professor? Ich möchte es nicht glauben, selbst wenn Sie es können."

Er blieb still sitzen und sie wartete, wartete auf seine Antwort, sein barsches Einlenken in ihren Ausbruch, doch nichts geschah. Eine Unendlichkeit an Zeit schien zu vergehen, bis sein Stuhl knarrte, als er sich erhob. Er trat zu ihr, verließ den Schutz des Schreibtisches und nahm sie bei der Hand, um sie zu sich emporzuziehen.

In einem Anfall von Verzweiflung schlang sie ihre Arme um ihn, aus reiner Angst, dass er sich ihr wieder entziehen würde, wie er es an diesem Abend bereits einmal getan hatte. Doch Snape wich nicht und schließlich spürte sie, wie sich seine Hände nach einem winzigen Moments des Zögerns auf ihren Rücken legten. Der schwarze Stoff seiner Robe hüllte sie ein und schien die Welt auszuschließen, die außerhalb des Büros stürmisch ein neues Jahr begrüßte. Im Büro schien die Zeit stillzustehen und Alexa weinte stumm an Snapes Schulter, vor Glück, weil sie es akzeptieren konnte, dass ein Mann sie berührte.

Snapes Stimme erklang tonlos, bar jeder Emotion, doch sie wusste, dass das trog.

„Es gibt Spiele im Leben, die beginnt man zu spielen, doch man weiß, dass man am Ende verlieren wird. Wenn man das erkennt, dann kann man aussteigen, alles ändern und einen neuen Weg beginnen. Aber manchmal muss man dieses Spiel beenden, weil zu vieles davon abhängt. Für Dich ist es nicht zu spät, ganz gleich, was Du denkst. Doch mit jeder Minute, die Du zögerst, verlierst Du Menschen, die Dich lieben und damit stirbst Du, Stück für Stück. Ich möchte das nicht."

Alexa hob den Kopf und sah ihm in die Augen, die im schwachen Schein des Kamins im Schatten lagen.

„Ich glaube, für Dich ist das Spiel auch noch nicht beendet", flüsterte sie leise. „Das darf es nicht sein. Ich – ich brauche Dich. Nenn mich schwach oder mutlos. Bei Dir bin ich das nicht."

Snape schüttelte leicht den Kopf und sie meinte, dass sich seine Gesichtzüge entspannten. Er setzte an, etwas zu sagen, doch dann schwieg er wieder und löste sich von ihr, um erneut ihre Hand zu nehmen. Sie wehrte sich nicht dagegen, dass er sie aus der verborgenen Tür führte und in seine Wohnung brachte. Ihr Herz raste so sehr, dass sie befürchtete, er könne es hören, als sie durch die kühlen Gänge gingen und als sie seine Räume betrat, begann aus dem Herzklopfen doch Angst zu werden, vor ihrer eigenen Courage und dem, was passieren konnte.

Er brachte sie ins matt durch einige Kerzen beleuchtete Schlafzimmer und beim Anblick des Bettes wallte nunmehr nackte Panik in ihr auf, doch in dem Moment, in dem sie sie zu überwältigen drohte, ließ er ihre Hand los.

„Ich werde noch etwas arbeiten. Ich sehe, wie müde Du bist. Schlaf. Es wird Dir hier nichts geschehen."

Alexa drehte sich um und lächelte ihn schwach an, zur selben Zeit beruhigt und doch unheimlich einsam in diesem Moment. Er strich ihr über die Wange und küsste sie auf die Stirn, dann ging er in seinen Arbeitsraum und die Tür schloss sich hinter ihm. Vor den schmalen Fenstern pfiff der Schnee vorbei und in der Ferne hörte Alexa das Knallen des Feuerwerkes.

Zögerlich ging sie zum Bett und spürte, wie müde sie tatsächlich war. Sie dachte an sein Versprechen, dass ihr nichts geschehen würde und wusste, dass er sie nicht belog. Mit einem warmen Gefühl der Geborgenheit beschenkt, schlüpfte sie aus Robe, Rock und Schuhen, dann schlüpfte sie zwischen die kühlen Laken und dämmerte bald lächelnd in einen tiefen Schlaf.