IV.

8:15

„Harrison!" Meredith Davies traute ihren Augen nicht. „Was machst du bitte schön hier! Und das um diese Uhrzeit!" Harrsion schenkte ihr ein unschuldiges Lächeln. „Ich dachte, ich besuche einmal wieder meine große Schwester", erklärte er grinsend.

Meredith blinzelte. Und schloss die Türe vor der Nase ihres Bruders. Der klingelte erneut. Meredith seufzte und öffnete die Türe wieder. Sich zusammenreißend erkundigte sie sich entnervt: „Was willst du?"

„Ich dachte, wir könnten den Tag zusammen verbringen. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht…" Harrisons Gesicht zierte noch immer das gleiche blöde Grinsen, das Meredith beinahe in den Wahnsinn trieb. „Korrektur, Harrison. Das haben wir noch nie gemacht. Ich bin die blonde Schwester, falls das deiner Aufmerksamkeit entgangen ist. Ich bin nicht Tru, die sich, trotz allem was dagegen spricht, damit zufrieden gibt, deinen Hintern an deiner Stelle aus Schwierigkeiten raus zu halten. Also, was willst du? Ist es Geld? Hast du den letzten Vorschuss, den dir Dad gegeben hat, schon wieder beim Glücksspiel verpulvert?"

Harrisons Miene verfiel während dieser kleinen Rede innerhalb von sekundenschnelle. „Zu deiner Information, Meredith", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „Ich bin schon lange Zeit nicht mehr der Versager, der ich mal war, ich lebe nicht mehr einfach so in den Tag hinein. Ich habe einen ernstzunehmenden Job, übernehme Verantwortung und helfe Tru bei….bei all dem, wobei ich ihr eben helfe."

Meredith schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln. „Das ist sehr schön, Harrison", meinte sie langsam. Ihr Lächeln verschwand. „Wir sehen uns heute Abend", mit diesen Worten knallte sie erneut die Tür vor der Nase zu. Auf sein darauf folgendes Sturmgeklingel reagierte sie nicht.

8:25

„Du siehst also, Davis, es ist offenbar wichtig, dass ich Jensen heute aus Schwierigkeiten heraushalte", schloss Tru, „Und zugleich muss ich einen Weg finden um Meredith zu retten."

Davis wippte nachdenklich in seinem Schreibtischsessel hin und her. „Bist du dir sicher, dass es keine bloßen Zufälle waren?", erkundigte er sich. Tru biss sich auf die Lippen. „Nein", gab sie dann zu, „Ich bin mir ganz und gar nicht sicher, ob es nicht nur blöde Zufälle waren. Genau das ist mein Problem. Ich fange langsam an richtig paranoid zu werden. Irgendwie ist es Jack gelungen mir einzureden, dass Jensen die Ordnung des Universums durcheinander bringt. Und dabei bin ich mir ganz und gar nicht sicher, ob er mir das nicht nur erzählt um mir heimzuzahlen, dass ich Jensen gerettet habe. Aber mir bleibt keine Wahl als auf die Ereignisse zu reagieren, oder?"

„Mmh, ja, das verstehe ich schon. Und wenn du dich um Jensen kümmerst, wer unternimmt dann etwas um Meredith zu retten?"

„Harrison."

Davis sah sie zweifelnd an. „Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist? Ich gebe zu, dass Harrison gewisse…ähm… Fähigkeiten bewiesen hat, wenn es darum geht, dir bei deinen Missionen zu helfen, aber andrerseits kann er sehr…"

„…nervig sein?", vervollständigte Tru den Satz ihres Bosses, „Das ist wahr. Aber Meredith kann auch besonders stur sein. Manchmal muss man eben zu härteren Mitteln greifen. Ich muss jetzt los um Jensen zu suchen. Halt hier die Stellung. Ich ruf dich an, wenn es etwas Neues gibt." Sie griff nach ihrer Jacke erhob sich und wandte sich zum gehen.

„Tru, ähm, soll ich zu der Party heute Abend etwas Bestimmtes mitbringen?", fragte Davis schnell bevor sie sein Büro verließ. Tru schüttelte den Kopf. „Falls wir es heute bis dahin schaffen sollten, meinst du. Nein. Aber du könntest mit Avery einkaufen gehen. Sie hat die Liste. Ich bin gegen 11 mit ihr verabredet", meinte sie, „Und wenn du schon dabei bist, könntest du für alle Fälle versuchen ein Auto aufzutreiben. Bis dann."

Sie wirbelte herum und eilte aus der Leichenhalle. Davis sah ihr etwas perplex hinterher. „Kein Problem", murmelte er.

8:40

Meredith wollte gerade in ihr Auto steigen, als sie jemand auf die Schulter klopfte. Natürlich war es ihr Bruder. „Harrison, du bist ja noch immer hier", stellte sie fest. Harrison nickte ernst. „Ich habe beschlossen dich zu begleiten", erklärte er.

Meredith schloss kurz die Augen und zählte langsam bis zehn. Dann öffnete sie die Augen wieder und sah Harrison an. „Du willst zu meinem Geschäftsmeeting mitkommen?", vergewisserte sie sich. Ihr Bruder nickte.

Wohl kaum, mein Freund. Sie stieg schnell ein und war bereit los zu fahren. Harrison saß sogar noch schneller neben ihr. Das muss alles ein Traum sein. Ein Alptraum.

„Also", meinte Harrison unverfänglich, „Wo geht's hin?"

9:00

Jensen öffnete ihr ein wenig verschlafen aussehend die Wohnungstür.

„Du hast dich also nach mir gesehnt?", vermutete er.

„Ja genau", bestätigte Tru schnell, „Ich dachte, ich könnte den Großteil des Tages mit dir verbringen und…" …dich aus Schwierigkeiten raushalten. Jensen wirkte nachdenklich. „Hmh, verstehe", begann er langsam, „und ich weiß auch schon, was wir machen. Wir machen einen gemütlichen Silvesterspaziergang!"

Wenn er mich nur nicht so anstrahlen würde. „Weißt du, ich habe eigentlich eher gehofft und gedacht, dass wir den Tag drinnen verbringen, wo es sicher ist, verstehst du", meinte sie.

Jensen war offensichtlich verwirrt. „Sicher, Tru? Wieso hältst du einen Spaziergang für gefährlich? Ich meine, nachdem was mir fast passiert wäre, als ich im Caféhaus gesessen bin, kann ich ja verstehen, dass man mitunter ein wenig paranoid werden kann, aber genauso gut könntest du in der Dusche auf einer Seife ausrutschen und dir das Genick, oder ein Kasten könnte dich erschlagen, oder der Kühlschrank auf dich fallen, oder was auch immer, verstehst du, was ich meine?"

„Natürlich, aber wir müssen das Unglück doch nicht unbedingt herausfordern, oder?", entgegnete Tru, „Und wir könnten…kuscheln." Sie schenkte ihm ein hoffnungsvolles Lächeln. Er fiel allerdings nicht darauf herein.

„Warum willst du mich unbedingt daran hindern, die Wohnung zu verlassen?", wunderte er sich. Tru suchte schnell nach einer Ausrede. „Weil, weil in deinem Horoskop steht, dass dir heute ein großes Unglück widerfahren wird", erklärte sie dann. Jensen blinzelte verwundert. „Horoskop? Ich wusste gar nicht, dass du an so etwas glaubst. Du bist doch sonst nicht so mystisch unterwegs."

Tru seufzte. „Oh, ich habe mehr mit Mystik zu tun als man meinen möchte, Jensen. Auf jeden Fall wäre es mir lieber, wenn du heute drinnen bleibst." Sie sah ihren Freund bittend an. Dessen Miene erweichte sich. Er lächelte beruhigend und drückte ihr die Schulter. „Tru, du musst dir keine Sorgen machen", versicherte er ihr, „Du solltest wissen, dass das täglich Horoskop meistens vom Verfasser frei erfunden wird. Und außerdem: Wenn du bei mir bist, was kann mir dann schon passieren?" Tru lachte gezwungen. „Ja, ich bin ein wahrer Schutzengel", meinte sie. Nur leider geht es diesmal nicht darum dich zu retten.

9:10

„Hi, Tru, ich bin's. Die Mission ist gescheitert. Aber ich bin mitgefahren und hab ihre Fahrtzeit verzögert", erklärte Harrison seiner Schwester durchs Handy. „Was willst du damit sagen? Du sitzt bei Meredith im Auto!"

„Im Augenblick bin ich auf der Herrentoilette einer Autoraststätte. Aber ich fahre mit ihr, ja."

„Das trifft sich gut. Harri, hör zu, du musst dafür sorgen, dass ihr rechtzeitig wieder von dort wegfahrt, und du musst Meredith dazu bringen, dass du fahren kannst", schärfte ihm Tru ein.

„Das alles würde mir viel leichter fallen, wenn ich wüsste, worum es eigentlich geht", warf Harrison ein.

„Wenn du tust, was ich dir sage, dann hilfst du dabei Merys Leben zu retten."

„Wow, wow. Warte mal, von Merediths Leben war nie die Rede", unterbrach sie Harrison, „Was ist eigentlich…"

„Harrison! Wenn du nicht auf der Stelle raus kommst, dann komm ich rein! Oder ich fahre ohne dich!", drohte ihm Merediths Stimme von draußen. „Ich komme sofort!", brüllte Harrison zurück. „Ich werde mein Bestes geben, Tru. Du kannst dich auf mich verlassen", wisperte er in sein Handy und legte auf. Er hatte eine Mission zu erfüllen.

9:20

Jensen hielt Trus Hand in seiner und führte sie hinter sich her. „Jensen, wohin gehen wir?", erkundigte sie sich. „Das wirst du gleich sehen", meinte er, „Komm mit."

Er führte sie in eine kleine Garage. „Und was sagst du? Ich wollte sie dir schon lange zeigen."

Tru musterte die kleine Maschine. „Du hast dir ein Motorrad zugelegt?"

„Das ist nicht einfach nur ein Motorrad, Tru", tadelte sie Jensen und begann damit ihr zu erklären, worum genau es sich bei seiner Errungenschaft eigentlich handelte. Tru hörte nur mit einem Ohr zu.

„Ich wusste gar nicht, dass du auf so etwas stehst", meinte sie schließlich schwach. „Du magst Mystik und ich Motorräder. Wir haben beide unsere Geheimnisse", entgegnete Jensen. „Offenbar." Wieso beunruhigt mich das so?

Jensen warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Und? Willst du eine Runde drehen?"

Die Beunruhigung wurde stärker.

9:30

„Ich kann nicht glauben, dass du mich so konfus gemacht hast, dass ich doch tatsächlich meine Unterlagen zu Hause vergessen habe!", schimpfte Meredith, „Ich sollte dich bei der nächsten Gelegenheit einfach aus meinem Wagen werfen!" Harrison machte ein „Es tut mir wirklich Leid"-Gesicht und murmelte etwas zerknirscht eine Entschuldigung.

„Das sollte dir auch Leid tun", meinte seine Schwester, „Ich werde mit Sicherheit zu spät kommen, und das habe ich alles dir zu verdanken!"

„Du solltest dich beruhigen. Wenn du dich weiterhin so aufregst, wirst du noch einen Unfall bauen", wandte Harrison ein. Meredith beschränkte sich darauf ihm einen tödlichen Blick zu zuwerfen.

9:35

Tru hatte sich an Jensen festgeklammert und hoffte, das alles gut werden würde. „Jensen, du solltest langsamer fahren!", rief sie warnend. „Ach, Unsinn, Tru! Ich hab alles im Griff!", rief Jensen über seine Schulter zurück, „Wo bleibt dein Sinn für's Risiko." Den hab ich langsam aber sicher vollkommen verloren. Ich hasse das alles hier. Wenigstens ist Meredith in Sicherheit. Es sei denn natürlich Jack lässt sich etwas einfallen um mir das Leben schwer zu machen.

Sie hatte nur wenige Augenblicke nicht aufgepasst, aber das reichte. Sie bekam nur noch mit, wie Jensen lauthals fluchte und die Spur wechselte. Die Maschine begann zu schlittern und dann wurde alles schwarz.

Als sie wieder zu sich kam, tat ihr alles weh. Was ist passiert? Sie sah sich nach Jensen um. Er lag wenige Schritte von ihr entfernt leblos am Boden. Sie überprüfte den Puls und stellte zu ihrer großen Erleichterung fest, dass er nur bewusstlos war. Sie sah sich um und erblickte zwei Autofracks, von denen ihr eines sehr bekannt vorkam. Oh, nein.

„Harrison! Meredith!" Sie stolperte zu dem Frack. Darin lagen zwei Körper.

Tru riss die Türe auf und beugte sich über ihre Schwester, die bewusstlos am Fahrersitz lag. Sie hatte eine Kopfverletzung, atmete aber noch. Gott sei Dank.

„Nicht so, Tru", erklärte Harrisons Stimme plötzlich. Und der Tag begann von neuem. Schon wieder.

Weiter geht's im großen Finale.

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