5. Kapitel
Der Zug

„Guuuten Morgen! Na los, wacht auf, wenn Ihr nicht den Zug verpassen wollt!" Damit riss Brindorn die Vorhänge auf und ich musste die Augen zukneifen, als das helle Sonnenlicht mich blendete. Müde blinzelte ich. Ich lag in meinen Klamotten im Bett, das Silmarillion, in dem ich gestern Nacht noch geblättert hatte, war auf den Boden gefallen.

„W... was für ein Zug?", fragte ich den fröhlichen Wirt leicht verwundert. „Habe ich Euch das nicht erzählt? Na, muss ich wohl in der Aufregung vergessen haben. Herr Faramir zieht heute mit seinen Leuten in ein Lager in Ithilien um Gondor rechtzeitig warnen zu können, sollte der Feind die Haradrim zu Hilfe rufen oder sonst irgendetwas planen. Die ganze Stadt ist auf den Beinen." Ich hielt es für ziemlich unklug zu fragen, was das wohl für ein „Feind" war.

„Was ist der Herr Faramir denn für ein Mensch?", fragte ich stattdessen interessiert. Vielleicht bestand durch ihn ja eine Möglichkeit auszuziehen und Hermione zu suchen. Alleine hatte ich da nämlich sicher so gut wie keine Chance. Und im Moment war mir nichts wichtiger, als endlich die Suche nach ihr zu beginnen. Selbst wenn ich dafür Soldat werden musste.

„Herr Faramir? Oh, er ist der Sohn unseres Statthalters, des Herrn Denethor. Ein großer Hauptmann. Er ist ein guter Kämpfer und zugleich gelehrt. Außerdem ist er nicht so ungestüm wie sein Bruder Boromir und ein edler und gerechter Mensch. Jeder in der Stadt spricht nur gute Worte über ihn - wenn man von seinem Vater absieht." Ich beschloss, nicht auf diesen letzten Satz einzugehen, obwohl er mich neugierig machte. „Glaubt Ihr, es besteht eine Möglichkeit, sich diesem Mann anzuschließen? Ich weiß sonst nicht wohin." „Hm, ich finde es töricht, doch es besteht eine gewisse Chance, wenn Ihr Euch beeilt. Sie sind froh für jeden Mann, der sich gegen Mordor stellt." „Was muss ich tun?" „Kommt. Ich bringe Euch zum Palast, wo Ihr Herrn Denethor Eure Treue schwören müsst. Dann dürft Ihr vielleicht mit nach Ithilien ziehen." Damit rannte er los und ich folgte ihm.

Nur etwa eine Stunde später war ich Soldat im Dienste Gondors. Brindorn hatte am Eingang zurückbleiben müssen und ein Wachmann hatte mich zum Statthalter geführt, bei dem auch sein Sohn Faramir gewesen war. Faramir gefiel mir sofort. Er war um die dreißig Jahre alt und ich vertraute ihm sofort. Die beiden schienen leicht erstaunt über meinen Wunsch, mich der Armee anzuschließen und nach Ithilien zu ziehen, doch er wurde freudig angenommen. „Was bringt einen Elben wohl dazu, sich der Armee Gondors anzuschließen?", sinnierte Denethor. Ich muss ehrlich zugeben, dass mir seine Gegenwart unangenehm war. Er ähnelte Faramir von der Ausstrahlung her kaum. „Ich... ich bin von zuhause weggegangen weil... weil meine Familie von Orks getötet wurde!", erwiderte ich und war ziemlich stolz auf meinen Geistesblitz.

„Das tut mir sehr leid für Euch", sagte Herr Faramir freundlich und mir war es sofort irgendwie unangenehm, ihn angelogen zu haben. „Elben haben scharfe Sinne und sind ausdauernd. Ihr scheint noch sehr jung, doch ich nehme an, dass Ihr wohl viel älter seid als ich. Ihr scheint genau richtig für unseren Zug nach Ithilien. Wenn es Euch nichts ausmacht, lange Zeit unter Soldaten zu leben und öfter unter freiem Himmel zu schlafen, wäre ich froh, wenn Ihr Euch uns anschließen würdet, Iltaithir. Das heißt, wenn mein Vater Euch in der Stadt entbehren kann.", fügte er mit einem schnellen Seitenblick auf Herrn Denethor hinzu.

„Natürlich. Beregond? Statte ihn mit allem aus, was er braucht." „Ja Herr", sagte die Wache, die mich hergebracht hatte gehorsam. Beregond führte mich weg und fragte, ob ich Waffen hätte. „Ähm...ja. Ich hab einen Bogen. Ich hab ihn mitgebracht...", meinte ich und fummelte das Teil umständlich von meinem Rücken herunter. „Allerdings besitze ich... ähm... nicht gerade viel Übung", sagte ich verlegen und grinste schwach. Beregond lachte. „Ja. Das sieht man. Ich gebe dir ein Schwert. Es ist von elbischer Art und stammt aus dem alten Gondolin. Es ist sehr wertvoll, doch ich denke, Herr Faramir würde sich freuen, wenn du es trägst."

Er gab mir ein langes und doch seltsam leichtes Schwert, das in ein altes Ledertuch gewickelt war. Beregond reichte mir eine passende Scheide dazu, dann wickelte ich das Schwert aus. Wir beide mussten schnell die Augen zukneifen, als ein Lichtstrahl die Schneide traf und es hell aufleuchten ließ. Es war wirklich ein sehr schönes Schwert. Von diesem Moment an trug ich es immer bei mir. Oberhalb des Griffes waren einige Worte in Tengwar, der alten Schrift der Elben eingraviert. „Was steht dort?", fragte Beregond mich neugierig. „Das Schwert hat einen Namen! Dort steht silmanárê, was soviel wie ‚Silberne Flamme' heißt." „Silberne Flamme. Ein guter Name. Hier hast du noch einen kleine Dolch, außerdem eine Wasserflasche. Fülle sie an einem Brunnen und lass dir in der Küche etwas Proviant geben. Ich weiß nicht, ob wir uns wieder sehen werden, doch ich wünsche dir viel Glück. Mögen die Valar mit dir sein, Iltaithir, auf allen deinen Wegen." „Und mit dir Beregond. Lebe wohl."

Ich hatte natürlich keine Ahnung wer oder was die Valar waren, aber das war im Moment egal. Beregond war echt ein netter Kerl und ich fragte mich unwillkürlich, ob ich ihn wohl je wieder sehen würde. Dann gurtete ich noch die Wasserflasche und den kleinen Dolch um, wandte mich um und ging in die großzügige Küche, die ich ohne Probleme fand.

Wenig später lief ich im Gleichschritt mit dem Hauptmann Faramir die Straßen Minas Tiriths hinunter. Die Menschen, die die Straße säumten musterten mich neugierig. Ein junger Elb inmitten von Faramirs Leuten? Wir erreichten schließlich den Stall im ersten Mauerring. Ein großzügiger Stall, obwohl nicht viele Pferde hier standen. Doch da wir nur etwa zwanzig Soldaten waren, wurden alle mit Pferden ausgestattet. Ein neues Problem: Ich kann gar nicht reiten. Na ja, vielleicht konnte es ja der Elb, der ich jetzt war. Faramir schien meine Unsicherheit bemerkt zu haben. Er lächelte verschmitzt und teilte mir eine kleine Stute mit klugen, dunklen Augen und einem Fell, das die Farbe von hellem Kaffe hatte und in der Sonne glänzte wie Honig, zu. Sie hieß Lithil und ich mochte sie sofort.

Erst als wir aus dem letzten Tor, das von jubelnden Menschen gesäumt war heraus ritten, wurde mir klar, wie verzweifelt ich eigentlich war. Ich hatte mich Soldaten angeschlossen. Ich zog in ein Lager, das so nahe am Feind lag, wie kein anderes. Alles wegen Hermione. Würde ich sie so finden? Es war wohl die einzige Möglichkeit...

Wir galoppierten im strahlenden Sonnenschein über die Ebene vor der Stadt und ich konnte einfach nicht weiter zweifeln. Der Wind blies mir die Haare aus dem Gesicht und ich spürte wie Lithil sich unter mir freudig streckte. Ich passte mich ihren Bewegungen an und hielt sie nicht zurück. Freiheit! Keine Verpflichtungen mehr, keine Sorgen, nur noch reiten, bis wir beide zusammenbrachen. Bis ans Ende der Welt. Wieso hatte ich je zurück gewollt? Hier waren der Wind und die Freiheit, dort dunkle Kerker, Unmengen von Pflichten und Hausaufgaben, in den Ferien Petunia, Vernon und Dudley. Warum sollte ich zurück? Und Hermione würde ich finden. Irgendwann würden auch wir uns wieder sehen, wo immer sie auch gelandet sein sollte.

So ritten wir über die weite Ebene. Ich hatte Faramir überholt und bereits einige Pferdelängen Vorsprung, als mir einfiel, dass sich das eigentlich für einen einfachen Soldaten nicht gehört. Ich zügelte Lithil und sie schüttelte unwillig den Kopf, wurde dann jedoch tatsächlich langsamer. Die anderen grinsten mir zu, als ich mich wieder einreihte.

Wir befanden uns jetzt schon kurz vor der verbrannten Stadt, die ich schon bei meiner Ankunft bemerkt hatte. Den Rest des Weges ritten wir im flotten Schritt und hatten die Stadt bei Dämmerung erreicht. „Osgiliath", flüsterte der junge Soldat neben mir, der höchstens zwanzig war. „Es ist schon lange zerstört, musst du wissen." Anscheinend schienen alle kapiert zu haben, dass ich solche grundlegenden Dinge nicht wusste. Faramir hatte ihnen wohl allen erzählt, dass ich mich an nichts erinnern konnte.

Wir rasteten auf einem weiten Platz inmitten der Stadt. Die meisten meiner neuen Gefährten waren bald eingeschlafen, doch ich blieb noch lange wach und sah mir die Sterne an. Sie waren wunderschön und schienen in Mittelerde viel heller zu leuchten als daheim auf der Erde. Ich fragte mich, ob Hermione im Moment dieselben Sterne betrachtete. Ich vermisste sie. Sie war wie eine Schwester, die ich nie gehabt hatte. Wo sie jetzt wohl war? Hoffentlich ging es ihr gut.

Jemand setzte sich neben mich. Faramir. „Woran denkst du, Iltaithir?" „Woran ich denke? Fragen, tausende Fragen. Warum ich hier bin, wer ich bin, ob ich werde kämpfen müssen und vor allem ob ich SIE finden werde."Ich wandte den Blick nicht von den Sternen ab als ich das sagte. Ich verriet mich gerade an ihn und ich wusste es und am liebsten hätte ich alles zurückgenommen. Auch meine erste Frage war keine Lüge gewesen, um den Schein zu wahren. Wer war ich? Mir ging die Frage die ganze Zeit durch den Kopf. Noch vor einigen Tagen war ich Harry Potter gewesen und hatte ziemlich genau gewusst, wer ich war. Doch jetzt?

„Auf deine ersten beiden Fragen kannst wohl nur du selbst dir Antwort erteilen. Eines Tages wirst du es wissen, das verspreche ich dir. Du wirst kämpfen müssen, das kann ich dir ebenfalls versprechen. Du bist jetzt Soldat. Du wirst Menschen und Orks verletzten und töten, wann immer es nötig ist. Für Gondor, deine eigene Heimat oder für was immer es sich zu kämpfen lohnt. Doch wer ist sie?" „Sie ist ein Mädchen, eine gute Freundin. Wie eine Schwester. Ich weiß nicht, wo sie ist und sie ist der eigentliche Grund, warum ich mich Euch anschloss." „Eines Tages wirst du auch sie finden, wenn du die Suche nur nie aufgibst. Denn es gibt immer Hoffnung, sollte dir alles auch noch so aussichtslos erscheinen. Du wirst sie finden."

Etwas klickte in mir, als ob ein Schalter umgelegt worden wäre. Ich wusste, ich konnte ihm vertrauen. Wieso sollte ich ihn also anlügen? Ich schaute noch einen Moment hinauf zu den Sternen an, dann wandte ich mich ihm endgültig zu und blickte ihm in die Augen.

„Herr Faramir, ich möchte Euch eine Geschichte erzählen. Meine Geschichte. Dann werdet Ihr mich verstehen. Meine Eltern wurden getötet, als ich erst etwa ein Jahr alt war. Doch sie liebten mich mehr als alles andere und beschützten mich..."

Ich erzählte lange und Faramir hörte zu. Nicht einmal wandte er dabei den Blick von meinem Gesicht ab.

„So kam ich hierher. Ich stamme aus einer anderen Welt. Einer Welt in der die Menschen alles andere beherrschen wollen. Wir Zauberer zeigen uns den nichtmagischen Wesen nicht. Sie würden uns in ihrer Intoleranz zerstören wollen."

Lange war alles still, bis auf das Pfeifen des Windes und dem leisen Schnarchen der anderen. Jetzt war es raus.

„Vieles von deiner Geschichte ist mir unbegreiflich, doch ich glaube dir, Iltaithir. Ich denke, ich gehe jetzt schlafen, denn vieles wurde gesagt, über das sich nachzudenken lohnt. Mögen die Valar dich in deinen Träumen behüten." „Und dich, Faramir."

Damit wollten wir beide zu unseren Lagerplätzen zurückgehen, als er sich noch einmal umwandte und mich zurückhielt. „Du hast wahrlich vieles, für das es sich zu kämpfen lohnt. Ich wünsche dir Glück auf deinem Weg!"