10. Kapitel

Ich lief durch den Wald. Ein dichter, dunkler Wald. Voll von knorrigen Bäumen, jeder alt und mit seiner eigenen Stimme. Auf der Erde sprechen Bäume nicht. Dort sind Bäume nur stumme geistlose Wesen. Und wer hätte ihnen schon zugehört? Ich damals bestimmt nicht.

Ich rannte. Nicht dass einer dieser widerlichen... wie hatte Fangorn sie genannt? - Orks mich verfolgt hätte. Nein. Deren hatte ich mich zu erwehren gelernt. Ich hatte auch keine Eile. Seit ich hier war, hatte ich keine Eile mehr. Ich lief, weil es gut tat. Ich spürte die frische Waldluft auf meinem Gesicht. Ich wich den Zweigen aus. Mit beinahe ganz geschlossenen Augen.

Ich errichte einen kleinen See, eigentlich mehr ein Tümpel. Dort war mein Freund, Fangorn, der Ent. „Ahhh... Suilion!" Suilion. Fangorn hatte mir diesen Namen gegeben, als er mich das erste Mal sah. Auf der Erde hätte ich jeden, der mich so genannt hätte, bekifft genannt und er hätte wohl damit rechnen können, dass er in den nächsten Tagen seinen Namen entweder auf den gammeligen Schulklos oder gleich als Graffiti auf den Wänden hätte lesen können. Aber bei Fangorn war es gut. Jetzt war so etwas in Ordnung. Nie mehr wieder würde mir so etwas in den Sinn kommen. Denn ich hatte mich geändert.

Ich setzte mich neben den Ent auf einen dicken Ast, der wohl bei einem Sturm von einem Baum gerissen worden war.

Ich hatte den alten Fangorn schon seit einer Woche nicht mehr gesehen. Wir fragten uns nicht, wo wir gewesen waren. Wo wohl? Im Wald. Fangorn wusste, ich würde nie wirklich aus diesem Wald fortwollen. Er war meine Heimat geworden. Seit einigen Wochen war ein Wald meine feste Heimat, die ich mehr liebte, als ich dieses riesige, protzige Haus mit Hallenpool und allem drum und dran je gemocht hatte. Ich hatte mich dort nie wirklich hingezogen gefühlt. Das einzige was ich genossen hatte, war der Neid vieler. Meiner Freundin, die alle zwei Wochen wechselte, meiner Freunde, mit denen ich jeden Abend auf Sauftour ging und von denen praktisch jeder, mich eingeschlossen, den Bullen nicht wirklich unbekannt war, der Spießernachbarn, der Lehrer, der Kleinen an der Schule. Ja, das war schon irgendwie gut gewesen. Das einzige, was ich wirklich gemocht hatte, war aber meine E-Gitarre. Ich spielte seit zehn Jahren und es war eines der wenige Talente, die ich hatte, zusammen mit Graffiti sprühen, auf Ex saufen und Freundinnen verlassen, um neue zu angeln. Ich war mal in der Schulband gewesen, aber die Leute da waren so schlecht gewesen, dass ich gleich wieder ausgetreten war.

Fangorn wusste das alles. Ich hatte es ihm in mehreren Nächten, wenn er mich in eines seiner Häuser eingeladen hatte erzählt. Er hatte natürlich vieles nicht verstanden. Er wusste weder was Graffiti, noch was kiffen war, aber er verstand trotzdem, was ich erzählte. Ich werde nie vergessen, was er in jener dritten Nacht sagte, als ich geendet hatte: „Du hast dich geändert, Junge ohne Namen. Du hast dich geändert wie der Wind, der über diesen Wald streicht, sich ständig ändert. Deshalb nenne ich dich Suilion, ein Name in der Sprache der Elben, des Volkes, dem du nun angehörst. Ich hoffe, du bist einverstanden."Und ich nickte damals und war einverstanden.

Ich fragte nun nicht, wie es im ginge, weil ich die Antwort kannte. Es war dieselbe Antwort, die er von mir erwartete. Lange Zeit saß ich nur neben ihm, blickte in die Ferne und dachte nach. Ich wusste nicht, wo ich hier war, doch es war auch egal. Es war ein guter Ort und nun war es meine Heimat. Ich wollte nicht wieder zurück. Ich wollte dieser Elb bleiben und für immer bei Fangorn im Wald leben und den anderen Ents und den Bäumen, mit denen ich manchmal sprach. Ein besseres Leben. Wieso sollte ich zurückwollen? Zu Eltern, die sowieso nie da waren, worüber ich auch immer ganz froh gewesen war, zu meiner kleinen, immer fleißigen Schwester, die mir lieber aus dem Weg gegangen war und daran wohl auch gut getan hatte, zu meinen Freunden, die eigentlich nur noch ans Saufen dachten, zu den ganzen Leuten an der Schule? Sie kannten mich alle. Ich war Jake, neunte Klasse, einmal sitzen geblieben, der E-Gitarrist, der Kiffer, obwohl ich darauf geachtet hatte, nie vollständig abhängig zu werden, der Penner mit den zig Verweisen, der coole Typ, zu dem die Kids aus der Unterstufe irgendwie aufsahen und sich wünschten, sie wären auch mal so cool, der Sohn reicher Eltern usw.

Wieso sollte ich zurück?

Aber das war jetzt egal. Ich hatte Fangorn gesucht, weil mich seit einigen Tagen und Nächten eine Frage beschäftigte. „Fangorn, mein Freund, ich möchte dich etwas fragen." Er blinzelte, richtete seine tiefen grünbraunen Augen auf mich und brummte fragend. „Was bin ich eigentlich? Einst war ich ein Mensch, doch nun bin ich anders. Bei uns gibt es solche Wesen nicht. Sie sehen Menschen ähnlich, doch sind sie zarter und schneller und geschmeidiger und ihre Sinne sind besser ausgeprägt. Du sagtest, ich wäre ein Elb. Doch was ist ein Elb?" „Ein Elb? Hmmmmm.... hummm... ein Elb? Das ist eine schwere Frage..." Ich wusste, es würde ein langes Gespräch werden. Vielleicht würde es bis zum nächsten Morgen andauern, vielleicht auch länger. Doch wenn wir fertig waren, würde ich wissen, was ein Elb war.