Kapitel 2 : Die Neue

Das Wochenende vor ihrem ersten Schultag verbrachte Juri mit sehr viel Langeweile. Sie hatte zwar mit Genzo spielen können; das war ein kurzer Lichtblick in diesen trostlosen Tagen, aber es war nur kurz. Sie hatte gerade noch Zeit gehabt, herauszufinden, dass ihr Bruder sehr viel besser geworden war und dass sein Training voll angeschlagen hatte. Juri hatte immer eine besondere Taktik, um einen Torwart auszutricksen: Sie machte ein paar Schüsse von allen Seiten Richtung Tor, um die Schwäche des Torhüters herauszufinden und auch gegen welche Schüsse er machtlos war. Und diese Schüsse genügten meist, um diese Schwäche des Torwarts zu enthüllen und ihn dann fortan verzweifelt und unsicher zu machen, weil Juri ihn dann nur noch mit den Schüssen, gegen die er nichts ausrichten konnte, bearbeitete und dieser keinen Mittel fand, um dagegenzuhalten. Aber bei Genzo war es anders: Juri brauchte fast eine halbe Stunde, um herauszufinden, dass Genzo mit Schüssen, die vom Weiten kamen- am besten noch mit einem Richtungswechsel- Schwierigkeiten hatte. Und dann hatte er selber nach ein paar Minuten eine Taktik gefunden, wie er sie am besten halten konnte. Juri strahlte: Endlich hatte sie ihren Gegenspieler gefunden, mit dem es Spaß machte zu spielen und wo sie auch gleichzeitig ihr Können ausbauen konnte. Aber kurz darauf war Genzos Mannschaft, die Jungen von der Shutetsu - Schule erschienen, um ihn zum Training abzuholen. Sie hatten vor, so sagten sie, zum zweiten Mal hintereinander Landesmeister zu werden und mussten dafür jede freie Minute trainieren. Juris Augen glänzten: Vor ihr standen die Landesmeister und wenn sie jetzt auch noch mit ihnen trainieren würde, dann wäre es mit Sicherheit sehr spaßig und sie könnte sehr viel lernen. Aber Genzo ging weg, ohne ihre Schwester zu fragen, ob sie mitspielen wollte und sie selber wollte sich nicht aufdrängen. Sie verstand, dass ihr Bruder alleine mit seiner Mannschaft trainieren wollte, trotzdem war sie enttäuscht, dass er sie nicht mitgenommen hatte, vor allem weil er ja selber wusste, dass Juri sonst niemanden mehr in dieser Stadt finden würde, mit denen sie spielen konnte.

So verbrachte Juri ihr Wochenende meistens lustlos auf ihrem Bett, aus dem Fenster oder auf ihre Zimmerdecke starrend. Aber mehr als Langeweile hatte sie Angst. Angst vor ihrer neuen Schule. Schon allein aus dem Grund, weil sie neu sein würde und alle sie anstarren würden, wie ein Weltwunder. Dazu kam noch, dass hier in der Stadt keiner Fußball spielte, und da würde es erst recht keiner in einer Mädchenschule tun. Sie hatten bestimmt andere Interessen. Wo gab es schon Mädchen, die gerne Fußball spielten? Auf ihrer Schule hatten viele Mädchen gerne über Juri gelästert, weil sie in allen Pausen mit Jungs kickte; selbst ihre beste Freundin hatte sich stets darauf beschränkt, sie anzufeuern und sich geweigert, mitzuspielen. Wie sollte es dann auf einer Schule mit ausschließlich nur Mädchen sein? Juri wusste, dass sie Vorurteile hegte; vielleicht gab es sogar auf dieser Mädchenschule in einer Stadt, wo - wie sagte der Baseballjunge doch gleich ?- Fußballspieler so häufig anzutreffen waren, "wie grüne Elfen", ein Mädchen neben ihr, dass für ihr Leben gern kickte.

Vielleicht...

Montagmorgen ging Juri zusammen mit ihrer Mutter zur neuen Schule, die ihre Tochter zur Feier des Tages dorthin begleitete. Sie mussten 20 Minuten mit dem Bus fahren und ein wenig zu Fuß gehen- und schon waren sie da.

"Ich denke, du könntest auch mit dem Fahrrad zur Schule fahren; so weit ist es nicht! Und besonders, wenn das Wetter so schön ist, wie heute". Frau Wakabayashi war glänzender Laune.

Anders Juri. Missmutig war sie neben ihrer Mutter gegangen und auch jetzt zog sie eine Schnute. Fahrrad fahren war zwar schön, zur Schule laufen aber noch viel schöner. Sie war jeden Morgen mit ihrem Fußball zu ihrer alten Schule gelaufen. Das hielt fit und verbesserte die Kondition, dachte sie. Aber ihre Mutter war dagegen, dass ein Mädchen zur Schule laufen wollte und das noch Morgen für Morgen. "Du bist schon schließlich 10 Jahre alt, und da solltest du dich so langsam mal ein wenig weiblicher betragen. Wenn du verschwitzt und mit nassen Haaren zur Schule kommst, dann siehst du bestimmt nicht aus, wie ein Mädchen", meinte sie.

Aber Juri sah nichts Falsches darin, zu laufen. "Was mache ich denn nicht richtig, wenn ich versuche, mich fit zu halten?" fragte sie. Die Mutter entgegnete daraufhin: "Nichts, Schatz; du kannst meinetwegen am Wochenende oder an den Nachmittagen laufen soviel du willst, aber doch nicht zur Schule!" -

-"Wieso denn nicht auch zur Schule?", wunderte sich Juri, "so bleibe ich immer fit und sportlich und lebe auch bestimmt länger!"

Die Mutter wusste daraufhin nicht mehr, was sie sagen wollte und somit war dieses Thema erledigt. Und doch hatte sie immer mit einem langen Gesicht aus dem Fenster gesehen, wenn Juri aus der Haustür stürmte und zur Schule lief. Und daher wusste Juri auch, warum ihre Mutter das mit dem Fahrradfahren sagte; sie dachte sicherlich, dass ihre Tochter endlich anfangen würde, sich wie ein richtiges Mädchen zu benehmen und anstelle dem Fußball andere Interessen haben würde. Die Mutter hatte es noch nie gemocht, dass ihre Tochter diesen "Jungensport", so wie sie ihn nannte, betrieb. Und weil ihre Mutter auch zweifellos glaubte und hoffte, ihre neue Umgebung würde Juri dazu "verhelfen", weiblicher zu sein, hatte sie sich die Mädchenschule ausgesucht.

"Wir sind da!" Die Stimme ihrer Mutter drang in ihre Gedanken. "Was sagst du, Schatz? Sieht doch alles sehr schön und freundlich aus, meinst du nicht?"

Juri schaute mürrisch hoch. Sie sah zwei Gebäude vor sich; beide waren sehr groß, weiß wie Marmor und enthielten ein graues Dach und viele, silbergrau gestrichene Fenster mit Spiegelglas. Zwischen den zwei Gebäuden stand eine große weiße Säule, auf der ganz oben eine Uhr angebracht war. Die Uhr zeigte halb acht an. Die Säule und die Gebäude wurden von Bäumen und Gärten mit sehr vielen Blumen sowie einem riesigen Schulhof eingezäunt.

"Ich fand die alte Schule besser!" murmelte Juri. Es war nur ein kleines Häuschen aus Speckstein mit Wellblechdach gewesen und der Schulhof war nicht weiter als eine Wiese, aber doch war es ihrer Meinung nach viel hübscher gewesen. Viel weniger Prunk.

Die Mutter schien es aber nicht zu hören. "Die Furora - Grundschule und die Furora - Mittelschule", erklärte sie strahlend, "man hat sie beide direkt nebeneinander gebaut." Sie wies mit einer Handbewegung auf das große weiße Gebäude rechts und sagte: "Wir müssen zur Grundschule."

Sie gingen weiter, durch den großen Schulhof, wo sich schon sehr viele Mädchen tummelten. Sie standen alle oder saßen und redeten und kicherten leise, so als herrschte hier ein Verbot für zu laute Handlungen. Juri fand es sehr still. Beängstigend still. Niemand machte Blödsinn, niemand lachte und redete laut, niemand raufte miteinander und vor allem: niemand lief herum oder spielte irgendwas, bevor die Schule begann.

Aber die Mutter schaute auch hier sehr zufrieden auf die Mädchen, die sich brav wie Lämmer verhielten und sagte: "Hier herrscht strenge Disziplin. Einer der Gründe, warum die Schule so berühmt und beliebt ist."

Hier soll ich hingehen, dachte sich Juri, ach du meine Güte, das war ja schlimm, viel schlimmer als ich gedacht hab.

Sie wollte auf keinen Fall eine von diesen Langweilern werden, von diesen "disziplinierten" Mädchen. Wie anders war es dagegen auf ihrer alten Schule! Es war immer was los und immer lustig gewesen...Juri schluckte tapfer die aufsteigenden Tränen hinunter und ging mit ihrer Mutter in die Schule hinein.

Innen drin war die Schule sogar noch luxuriöser, d.h. prunkvoller eingerichtet- so als käme man gerade in einen Hotel: Die Treppen waren alle mit blauen Teppichen belegt, die Steinböden waren frisch poliert, überall standen schöne Pflanzen und die gelb gestrichenen Wände waren alle sehr sauber und mit vielen Kunstbildern behangen.

Wie im Wartezimmer eines Zahnarztes, dachte Juri mürrisch...und hielt plötzlich inne.

Einen Moment mal! Die prachtvollen Kunstbilder waren alle mit Schildern versehen. Sie trat näher und sah, dass alle Schilder Namen von Mädchen der Furora - Mittelschule und sogar der Grundschule trugen! Das gab es doch nicht! Waren hier alle etwa so kunstbegabt, so dass alle Bilder, die hier hangen, so aussahen als gehörten sie in ein Museum und nicht als wären sie von Teenagermädchen gemalt worden? Oder waren es nur einige "Künstlerinnen" gewesen, die mit ihren schönen Bildern die Wände verziert hatten? Aber nein, die Namen auf den Schildern waren immer anders; es schien als hätte die Hälfte der Furora - Schülerinnen an diesen Bildern gearbeitet. War etwa diese Disziplin dafür verantwortlich? Juri schluckte erneut. Sie war nie besonders gut in Kunst gewesen, auch in ihrer alten Schule nicht. Wie sollte es dann hier auf der Schule sein, wo es so viele gute Malerinnen gab? Und wie würde sie sich in den anderen Fächern behaupten können? Bestimmt waren die Mädchen hier nicht nur in Kunst spitze. Juris Gefühl der Angst kehrte zurück, diesmal doppelt und dreifach.

Sie gingen zwei dieser teppichbehangenen Treppen hoch, vorbei an vielen Mädchen, die sich so "diszipliniert" wie geisterhafte Phantome ohne Leben verhielten und kamen in einen Gang mit sehr vielen Türen.

"Hier ist der sogenannte Lehrergang", erklärte die Mutter, "hier" - sie wies auf einen Raum mit einer breiten Tür- "das Lehrerzimmer, daneben das Direktorat, das Verwaltungsbüro und hier- "sie machte vor einer Tür am Ende des Ganges halt- "ist das Sekretariat. Hier sollten wir uns melden."

Sie klopften an der Tür und traten ein. Die Sekretärin saß in einem kleinen, freundlich eingerichteten Raum. Sie hatte einen braunen Haarknoten und einen strengen Blick. Juri spürte, wie sie sich verkrampfte.

Aber als ihre Mutter der Sekretärin erklärt hatte, wer sie waren, da lächelte diese sehr freundlich und meinte: "Das ist also Juri. Grüß dich, ich bin Frau Nagayato." -

- "Sehr erfreut". Juri schüttelte ihr etwas steif die Hand.

"Wie gefällt dir die Schule?", fragte Frau Nagayato.

Juri fand es ein bisschen unhöflich, die Meinung zu sagen und antwortete: "Gut."

"Das ist schön", sagte die Sekretärin lächelnd. "Ich sage deiner Klassenlehrerin sofort Bescheid, dass du da bist. Sie wird dich jeden Moment abholen."

Sie drückte auf einen Knopf an ihrem Tisch und sprach in eine kleine in den Tisch eingebaute Anlage hinein: "Frau Miyokawa!... Ja, Ihre neue Schülerin ist da!"

Während sie auf die Lehrerin warteten, unterhielt sich Frau Wakabayashi mit Frau Nagayato und Juri saß still und nervös auf ihrem Platz. Da wurde die Tür aufgerissen und Juri schreckte hoch.
Eine Frau so um die vierzig, mit kurzen roten Haaren trat ein und sagte: "Ich wollte die Unterlagen abholen, Frau Nagayato. Sind sie fertig?"

"Aah, hallo, Frau Uzume!", sagte die Sekretärin, "kommen Sie doch rein und begrüßen Sie eine neue Schülerin, Juri Wakabayashi. Juri, das ist Frau Uzume, die Direktorin der Grundschule."

Juri schaute baff auf die sehr jung wirkende Frau und schüttelte ihr die Hand. Frau Uzume fragte sofort eine Menge, woher sie kam, wo sie jetzt wohnte, und wie es ihr in der neuen Stadt bzw. Schule gefiel. Juri mochte die Direktorin auf Anhieb. Man merkte sofort, dass sie - ausgerechnet die Direktorin dieser strengen Schule - sich nicht von der "Disziplinmasche" hatte anstecken lassen; sie war einfach fröhlich und natürlich. Das merkte auch Juris Mutter, aber sie schien darüber weniger begeistert zu sein, auch wenn sie Frau Uzume dennoch höflich begrüßte. Juri war froh zu erfahren, dass die Direktorin so anders war und weniger streng; vielleicht dürfte es nicht ganz so schwierig sein, wie sie gedacht hatte. Sie fasste ein wenig Mut.

Kurz nachdem Frau Uzume gegangen war und Juri alles Gute für ihren ersten Schultag gewünscht hatte, klopfte es an der Tür und es trat erneut eine junge Frau ein. Sie war kaum älter als Juris Mutter und sie hatte schwarze, hochgesteckte Haare. Aber das Auffälligste an ihr waren ihre riesigen, grünen Augen.

"Und das ist Frau Miyokawa, deine neue Klassenlehrerin", verkündete die Sekretärin.

Auch die Lehrerin begrüßte Juri und ihre Mutter und sagte dann: "Ich möchte dich nun gerne in deine neue Klasse bringen, Juri. Würdest du bitte mitkommen?"

Frau Wakabayashi verabschiedete sich von ihrer Tochter und fragte: "Soll ich dich nachher abholen?"

"Nein, ich komme schon zurecht", antwortete Juri, " ich kenne ja jetzt den Weg." Sie sagte noch mal "Tschüss" zur Sekretärin und ging der Klassenlehrerin hinterher in den Flur hinaus und eine Treppe runter in einen großen Gang voll von Klassenzimmern. Frau Miyokawa unterhielt sich nebenbei mit ihr und fragte auch, was Frau Uzume vorhin schon gefragt hatte- wo sie früher gewohnt hatte, warum sie umgezogen waren und wie ihr die neue Stadt gefiel. Juri aber war froh darüber; so konnte sie ihre Nervosität wenigstens für einen Augenblick vergessen. Aber als sie vor einem Klassenzimmer mit einem Schild mit der Aufschrift "5 B" davor stehen blieben, konnte Juri nicht umhin, laut und schwer zu seufzen. Jetzt wurde es ernst.

Aus dem Klassenzimmer drang Gemurmel. Aber als Frau Miyokawa mit Juri eintrat, verstummten alle Gespräche. Dies war der Augenblick, von dem sich Juri am meisten gefürchtet hatte: elf Augenpaare starrten sie an. Sie hatte nur ein paar Sekunden lang aufgesehen, um zu bemerken, dass das Klassenzimmer aus zwölf Tischen in zwei Reihen hintereinander gestellt und einem Lehrerpult, alle aus dunklem Holz, sowie aus gelbgestrichenen Wänden, auf denen Zeittafeln, eine Weltkarte, Tafeln mit Japanischen Schriftzeichen und zahlreiche Bilder und Kollagen hingen, bestand. Dann konnte sie den brennenden Blicken nicht mehr standhalten und konzentrierte sich stattdessen auf ihre Fußspitzen.

"Ich möchte euch eure neue Klassenkameradin vorstellen, von der ich euch letzte Woche erzählt habe," sagte Frau Miyokawa, "sie heißt Juri Wakabayashi und ist aus Fukuoka hierhin gezogen. Ihr Vater hat hier eine neue gute Arbeitsstellung gefunden und sie hat auch außerdem noch ein Familienmitglied hier; also haben sie sich entschlossen, fortan hier zu wohnen. Bitte seid freundlich zu ihr und nehmt sie in die Klassengemeinschaft auf." Sie wandte sich an Juri, legte einen Arm um sie und fragte: "Möchtest du noch was hinzufügen?"

Auch das noch, dachte sich Juri und schaute mit hochrotem Gesicht auf. Aber die Blicke waren nicht mehr brennend und stechend, sondern freundlich und lächelnd. Da wurde Juri lockerer. Sie sprach in die Klasse: " Na ja, mein Name ist Juri - wie ihr gehört habt - und ich spiele leidenschaftlich gerne Fußball."

In diesem Moment lachten die elf Mädchen lauthals los. Juri schaute verwirrt von einer zur anderen und fragte sich, was sie so Witziges gesagt hatte.

Frau Miyokawa klopfte auf den Tisch und rief streng: "Ruhe, meine Damen! Könnt ihr mir bitte verraten, was denn so lustig sein soll? Das ist kein besonders schöner Empfang für Juri!"

Ein Mädchen aus der hinteren Reihe erhob sich. Sie war klein, hatte kurze schwarze Locken und große, eigenartig hellblaue Augen. Sie sagte: "Es tut uns wirklich sehr leid, Frau Miyokawa, aber wissen Sie, Fußball ist einfach zu komisch. Ich meine, das spielt doch keiner hier. Das ist genauso als wenn ein Neandertaler jetzt eine Zeitreise macht, vor uns landet und zu uns sagt, er sei von Beruf Brontosaurier-Jäger." Sie lächte blöd und die anderen Mädchen stimmten mit ein.

"Also ihr benehmt euch wirklich wie Kindergartenkinder, aber echt!", rief Frau Miyokawa verärgert und sagte zu Juri: " Nimm es bitte nicht so schwer, Juri. Setz dich bitte an den freien Tisch in der hinteren Reihe neben Katsura."

Sie zeigte ausgerechnet auf den Platz neben dem schwarzgelockten und blauäugigen Mädchen, das immer noch vor Lachen japste. Sie schaute erstaunt auf Juri als diese nach hinten ging und sich missmutig auf ihren neuen Platz setzte. Das war's dann wohl mit dem Traum, das jemand in der neuen Schule mit dir kicken wird, sagte sie für sich. Schlimmer noch, sie war ausgelacht worden. Du liebe Zeit!

Frau Miyokawa fing gerade mit dem Unterricht an. Die erste Stunde war Mathematik. Juri stellte fest, dass sie mit ihrem Wissen hinter den anderen herhinkte. Das Thema kannte sie nicht. Prozentrechnung? Nie gemacht! Als Frau Miyokawa sie einmal dran nahm, konnte sie die Frage nicht beantworten.

Die Lehrerin fragte sie: "Welches Thema hat denn deine alte Klasse zuletzt behandelt?" und Juri antwortete: "Wir haben gerade die Termenregeln besprochen."

Die anderen schauten sie entgeistert an und Frau Miyokawa sagte: "Hmm...dieses Thema haben wir schon vor einem Monat besprochen...aber ich bin sicher du bist schon bald auf den Stand der Klasse, wenn du fleißig mitarbeitest und den Stoff nachholst."

Juri dachte das aber nicht. Sie kämpfte erneut mit den Tränen. Doch dann schüttelte sie energisch mit dem Kopf und dachte: Nein, nein und nochmals nein! Sie würde nicht aufgeben! Sie würde kämpfen und sich durchsetzen! Und wenn sie hier keiner mochte; ihr könnte das doch egal sein! Solange sie ihren Ball hatte mit dem sie kicken konnte! Und sollte es noch so schwer sein, hier mitzukommen; sie würde auch dies schaffen! Sie hatte ja schließlich schon Schlimmeres durchgestanden.

Nach Mathe war Englisch dran- auch unterrichtet von Frau Miyokawa. Hier hatte Juri nicht ganz so große Probleme wie in Mathe und doch merkte sie, dass sie auch noch einiges für dieses Fach tun musste. Ebenso merkte sie auch, was sie vorhin in Mathe schon gemerkt hatte: viele in ihrer Klasse machten gut mit, einige waren sogar sehr gut und nur wenige hörten nicht zu oder machten Blödsinn. Katsura, das Mädchen am Tisch neben Juris, war eine davon. Juri war sich sicher, dass wenn Katsura sie nicht am Anfang mit einem "Neandertaler, der eine Zeitreise gemacht hat" verglichen hätte, sie versucht hätte, Katsuras Freundin zu werden. Denn auch diese hatte wohl nicht die von der Schule praktizierte Disziplin und Juri fühlte mittlerweile, dass sie am liebsten jeden, der so war, umarmen konnte. Weil es ihr nicht vollständig das Gefühl gab, sie sei in der Art Schule gelandet, die im Pink-Floyd-Song "Another brick in the wall" besungen wurde.

Danach war Pause und Juri überlegte sich gerade, was nun geschehen würde. Daraufhin sprach sie ein hübsches Mädchen an, das Frau Miyokawas Schwester sein könnte: Auch sie hatte hochgestecktes Haar und große Augen, nur waren ihre blau. "Hallo Juri! Ich bin Toki Hakitawa, die Klassensprecherin. Im Namen der Klasse heiße ich dich hier ganz herzlich willkommen."

"Danke", Juri schüttelte Toki verlegen die Hand. Die Klassensprecherin machte einen netten Eindruck.

Toki lächelte freundlich und sagte: "Wenn du nichts dagegen hast, würde ich dir jetzt gerne unsere Schule zeigen und deine Bücher holen. Kommst du mit?" -

- "Gerne", antwortete Juri und ging gemeinsam mit Toki aus dem Klassenzimmer, vorbei an Mädchen, die sie immer noch neugierig und erstaunt anglotzten. Einige hatten sogar die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten. Juri fühlte sich sehr unbehaglich. Wahrscheinlich würden sie alle, kaum würde sie mit Toki weg sein, über sie lästern und lachen. Sie versuchte sich zu sagen, es wäre ihr einerlei.

"Ich möchte mich bei dir für unsere Klasse entschuldigen," sagte Toki, "sie haben es bestimmt nicht böse gemeint. Und Katsura ist so ein Mensch, das unverblümt ihre Meinung sagt, ohne nachzudenken. Ich hoffe, du bist uns nicht mehr böse." Sie lächelte entschuldigend und Juri war ein wenig versöhnt, ob sie nun wollte, oder nicht.

Dann zeigte ihr Toki die Schule mit den Computer-, Naturwissenschafts- und Kunsträumen, die Bibliothek, die Abstellkammern, das Zimmer des Hausmeisters, die Kantine und erklärte sich bereit, Juri in den ersten Tagen zu begleiten. Sie erklärte außerdem, worauf die Neue achten musste, wie beispielsweise immer einen Blick auf das schwarze Brett zu werfen, wo eventuelle Lehrerausfälle ausgestellt waren. Dann gingen die beiden Mädchen erneut in den "Lehrergang" und holten sich bei einem Lehrer die Bücher ab. Gerade in dem Moment, als die Mädchen vollbeladen mit den Büchern (Toki half netterweise Juri beim Tragen) zum Klassenzimmer zurückgingen, schellte es. Juri merkte, dass man mit Toki normal reden konnte, ohne die Gefahr, dass man ausgelacht wurde und beschloss, das Fußballthema erneut aufzugreifen.

"Sag mal, Toki, WARUM haben die Mädchen gelacht, als ich sagte, ich spiele Fußball?", fragte sie.

"Weißt du", antwortete Toki, " du hast sicher schon gemerkt, dass Fußball hier in der Stadt nicht sehr oft gespielt wird." Als Juri nickte, fuhr sie fort: "Und hier auf der Schule ist es noch ungewöhnlicher. Nicht weil wir unsportlich sind - im Gegenteil: wir machen sehr viel Sport; Volleyball, Turnen, Leichtathletik und vieles mehr - sondern weil es hier eine Mädchenschule ist. Mädchen spielen kein Fußball."

"Und warum nicht?", fragte Juri, "seit wann steht denn so was in den Regeln?"

"Nein, so meine ich das nicht", entgegnete Toki, " es ist nur dass Mädchen und Fußball einfach nicht zusammen gehören. Sie sollten einfach nicht Fußball spielen, ebenso wie Jungs nicht tanzen sollten. Und hier in der Stadt ist der Fußball sogar so gut wie ausgestorben."

"Mag ja sein, aber das kann sich noch ändern!", widersprach Juri, " Fußball ist schließlich der beliebteste Sport der Welt! Und warum sollten Mädchen nicht spielen, wenn sie es wollen? Warum sollten Jungs nicht tanzen, wenn sie es wollen? Gleiches Recht für alle, oder nicht?"

Toki zuckte die Achseln und sagte: "Du hast ja Recht, aber ich denke das passt trotzdem nicht zusammen. Und die anderen aus der Klasse wohl auch. Daher haben sie bestimmt gelacht." Sie ging weiter Richtung Klasse, Juri aber blieb stehen. Ihre Entschlossenheit und Hartnäckigkeit kehrte wieder zurück, diesmal in voller Stärke. Sie würde nicht aufgeben! Und wenn die ganze Welt dachte, Mädchen sollten nicht Fußball spielen, sie würde immer in den Pausen kicken, wie zuvor - sei es auch nur mit sich selbst.

Und sie würde noch etwas zeigen, nahm sie sich vor: Sie würde zeigen, dass Mädchen sehr wohl Fußball spielen könnten, wenn sie wollten. Sie würde jeden einzelnen davon überzeugen, dass der Sport der beste überhaupt war. Und sie versprach sich ganz fest, dass sie ihre neue Klasse zum Spielen überreden würde; auch wenn hier keiner Fußball spielte und erst recht keine Mädchen. Bald würden sie die Neue verstehen und ihre Meinung teilen! Und, dachte Juri, ich gebe nicht eher auf, bis das alles eingetroffen ist.