Leise sanken weisse Schneeflocken am Fenster der kleinen, ruckelnden Kutsche vorbei. Marie hatte die Vorhänge geöffnet, damit wenigstens ein wenig des trüben Tageslichtes ins Innere gelangen konnte. Sie sah ihre Herrin an, die ihr gegenüber sass und mit verschleiertem Blick die tristen Häuserreihen von Paris musterte.

Marie war noch nicht lange im Hause deChagny beschäftigt, aber sie hatte bereits seltsame Geschichten über die Herrin gehört. Dunkle Geschichten. Geschichten, die einem einfachen Mädchen, wie ihr das Blut in den Adern gefrieren liessen. Ihr fröstelte und sie zwang sich, ihren Blick von der Herrin abzuwenden, deren weisses Gesicht sich scharf von dem blutroten Samt des Rückenpolsters abhob.

Es war ein sanftes Gesicht, umrahmt von schweren, dunkelbraunen Locken, die die Herrin offen zu tragen pflegte. Manchmal hielt eine schwarze Schleife die langen Flechten im Nacken gebunden. Was Marie aber stets in seinen Bann zog, waren die Augen der Herrin. Grosse, dunkle Augen, deren unergründliche Tiefe Geheimnisse verbarg. Geheimnisse, die mit der Vergangenheit verknüpft waren und von denen Marie lieber nichts wissen wollte. Ein eisigkalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie bemerkte, dass sie ihre Herrin noch immer anstarrte.

Hastig senkte sie den Blick, der an den zarten, feingliedrigen Fingern der Herrin hängen blieb. Sie hielten ein kleines Buch umklammert.

Jean Gerard deRossingol

Roseraie

"Der Rosengarten" war das dritte Buch des Schriftstellers. Ihre Herrin pflegte die Bücher des Schriftstellers stets mit sich zu führen, bis sie fertig gelesen waren. Marie hatte einmal in eines hineingelesen und war erstaunt, mit wieviel Gefühl der Mann seine Geschichten erzählte. Es hatte sie sofort in seinen Bann gezogen und ein unbestimmtes Gefühl der Sehnsucht in ihr geweckt. Er war einer dieser Schriftsteller, deren Geschichte man lebte, wenn man sie las. Dessen Werk Bilder heraufbeschwor, die einen tief in der Nacht aus Träumen weckten, deren leiser Nachhall pure Melancholie war.

Plötzlich hob ihre Herrin den Kopf. Ihre Augen blickten klar und gespannt aus dem Fenster, als suchten sie etwas. Christine war die ganze Zeit über tief in Gedanken versunken gewesen. Doch als draussen das wuchtige Gebäude der Oper vorbeiglitt war sie jäh aus ihren Tagträumen erwacht.

Dunkel dräute ihr das alte, prächtige Gemäuer. Bald würden die dunklen, drohend wirkenden Fenster hell erleuchtet sein. Früher einmal hatte sie dort ihre Heimat gehabt. Dort hatte sie... Christine seufzte und verscheuchte den Gedanken. Sie sollte nicht mehr an die Vergangenheit denken. Vor zwei Jahren hatte sie Raoul geehelicht und war eine deChagny geworden. Sie war danach niemals in die Oper zurückgekehrt. Raoul sah es auch nicht gerne, wenn sie die Oper überhaupt nur erwähnte.

Ihre Hand streifte das Rosenbouquet an ihrer Seite. Für einen Moment schien eine kalte Hand mit klammen Fingern nach ihrem Herzen zu greifen. Die zarten Blüten der Rosen waren blutrot und ein schwarzes Seidenband zierte sie. Christine schloss die Augen und schluckte. Als sie sie wieder öffnete, hatten sie die Oper bereits hinter sich gelassen und die Rosen waren unverändert rosafarben. Christine nestelte nervös an ihrem Buch und wischte sich mit einer fahrigen Bewegung eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

"Alles in Ordnung, Madame?" fragte Marie besorgt. Ihre Herrin schien ihr jetzt fast schon kränklich blass. "Seid Ihr unpässlich?"

"Nein Marie", sagte Christine und war überrascht, wie sehr ihre Stimme dabei zitterte. "Ich erfreue mich bester Gesundheit, danke!" Sie wollte eigentlich gar nicht so schroff sein. Die Reflektion in der Scheibe des Kutschenfensters zeigte ihr, dass sie zum Fürchten bleich war. Marie machte sich wahrscheinlich einfach nur Sorgen. Dennoch wollte sie sich im Augenblick nicht unterhalten.

Es dauerte noch eine Weile, bis der schwere Wagen in die Strasse zum alten Friedhof einbog. Nebel umspielte die Fesseln der Pferde und liess den Boden schon fast nicht mehr erkennen. Durch das Wirbeln der Schneeflocken hindurch konnte man die dunklen Stämme kahler Bäume ausmachen, deren Zweige sich ein wenig im Wind bewegten. Ein Baum war abgeknickt und lehnte an einem anderen. Wenn der Wind in die dürre Krone fuhr ächzte und knarzte er steinerweichend. Irgendwo bellte ein Hund.

Die Kutsche hielt plötzlich an. Christine streckte den Kopf zur Tür hinaus und erkundigte sich beim Kutscher für den Grund der Unterbrechung.

"Da sitzt eine Katze, Madame", erwiderte der Kutscher. Seine Stimme drang nur dumpf hinter dem dicken Wollschal hervor, den er sich zum Schutz gegen die Kälte um den Kopf geschlungen hatte. Trotzdem hatte Christine ihn verstanden.

"Verscheuch sie doch, Gustave", ordnete Christine an. Doch auch das lauteste Rufen und Zischen des Kutschers schien keinen Eindruck auf die Katze zu machen. Sie sass einfach da, mitten auf dem Weg, der Kutsche zugewandt und musterte diese mit starrem Blick ohne zu blinzeln.

"Das gefällt mir nicht", bemerkte Marie unbehaglich. Christine bedachte sie mit einem abwesenden Blick und nickte langsam. Sie öffnete die Kutschentür vollends und liess sich in den Schnee hinab. Ihre Füsse sanken bis weit über die Knöchel ein. Mühsam stapfte sie um die Pferde herum.

Die Katze sass einfach da und schaute Christine ruhig an. Das schwarze Fell hob sich dunkel von dem weissen Schnee ab. Irgendetwas an der Katze kam Christine seltsam vertraut vor. Sie machte ein paar weitere, unbeholfene Schritte im Schnee – und erstarrte. Das Fell der Katze war rabenschwarz. Bis auf einen einzigen weissen Fleck. Er umrahmte das rechte Auge und zog sich von der Lefze bis zum Ohr hinauf...