Noch immer peitschte der zornige Wind Schnee an den Fenstern vorüber und rüttelte wütend an den Glasscheiben, als Christine und Marie schon längst das Anwesen der deChagny erreicht hatten und nun gemeinsam in Madame deChagnys Studierstube sassen. Marie war mit einer zierlichen Blumenstickerei beschäftigt. Ihre Herrin sass in einem hohen Stuhl am Feuer und las in ihrem Buch. In dem Kamin knisterte leise ein wärmendes Feuer. Ansonsten rührte das einzige Licht von einer kleinen Lampe, die neben Marie stand und ihre Stickarbeit erhellte. Das leise Ticken der Uhr auf dem Kaminsims vermischte sich mit den Geräuschen des Feuers und der standhaften Fenster, die beständig den eisigen Sturm draussen hielten.

Als sich draussen Schritte der Tür näherten, sah Marie auf. Ihr Blick glitt von der Tür zu ihrer Herrin und wieder zur Tür zurück. Der Türgriff senkte sich und der reich geschnitzte Türflügel wurde lautlos nach aussen aufgezogen. Auch Madame deChagny unterbrach interessiert, wenn auch ein wenig ungehalten, ihre Lektüre. Ein Diener trat ein.

"Madame, ein Bote gab diesen Brief für euch ab." Er trat mit gemessenen Schritten an ihren Stuhl heran und hielt ihr mit einer Verbeugung ein kleines, silbernes Tablett entgegen. Darauf lag ein Briefumschlag, auf dem eine elegant geschwungene Schrift zu erkennen war. Er lag ein wenig auf der Seite, als würde auf der Rückseite ein schweres Siegel den Brief verschliessen.

Christine starrte darauf. Erinnerungen rasten durch ihren Kopf und ihr Herz klopfte wild. Kostbares Pergament, eine kühn geschwungene Schrift und der Inhalt so schneidend und todbringend wie ein Schwert. So erinnerte sie sich an die Briefe, die einmal vor langer Zeit geschrieben worden waren. Zögernd nahm sie den Umschlag von dem silbernen Tablett und nickte dem Diener zu, der sich wortlos aufrichtete und den Raum verliess. Mit fliegenden Fingern nahm Christine den Umschlag genauer in Augenschein, dem ein schwacher Rosenduft entströmte. Die Vorderseite gab nur wenig Auskunft über die Herkunft des Schreibens, aber als Christine das Siegel auf der Rückseite sah, atmete sie erleichtert auf und verspürte doch zugleich eine seltsame, ungekannte Enttäuschung. Der Brief war von ihrer Freundin Meg Giry. Madame Giry nutzte noch immer das wuchtige Siegel der Oper Populaire, welches Christine nun brach. In dem Umschlag befand sich ein Blatt, eng mit Megs schöner Handschrift beschrieben.

Liebe Christine,

wie ist es dir in den letzten Wochen ergangen? Ich hoffe, dass dir das Schicksal wohlgesonnen ist und dein Gatte dich noch immer auf Händen durchs Leben trägt!

Ich bin soeben von meiner Reise nach London zurückgekehrt, und musste dich gleich von meiner Ankunft unterrichten. Schon zu lange habe ich unsere gemeinsamen, nachmittäglichen Mußestunden entbehrt. Ich würde mich freuen, schicktest du mir gleich Antwort, wann wir wieder gemeinsam in unserem kleinen Park spazieren gehen können. Ich habe dir soviel von meiner Reise zu berichten und du hast sicherlich auch viel zu erzählen, was hier in der Heimat zwischenzeitlich geschehen ist.

So hoffe ich auf ein baldiges Wiedersehen, in inniger Freundschaft,

Meg Giry

Christine seufzte und liess die Hand, die den Brief hielt, sinken. Sechs lange Wochen war Meg nun fort gewesen.

"Gute Nachrichten, Madame?" erkundigte sich Marie, die versuchte, einen Blick auf den Brief zu werfen.

"Madame Giry ist von ihrer Reise zurückgekehrt und bittet mich zu ihr zu kommen, sobald es mir möglich ist", erwiderte Christine lächelnd. Eines ihrer fröhlichsten der letzten Zeit. Sonst war ihr Gemütszustand eher melancholisch und entrückt zu beschreiben.

"Oh, das ist wirklich eine schöne Nachricht, Madame", sagte Marie und senkte den Kopf wieder, um sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie freute sich, denn die Rückkehr von Madame Giry würde Madame Christine mit Sicherheit auf andere Gedanken bringen.

"Ja, das ist es", bestätigte Christine. "Ich freue mich darauf mit ihr spazieren zu gehen. Wenn sie in meiner Nähe ist, scheint mir die Welt weniger klein und trist." Christines Blick heftete sich auf die züngelnden Flammen des Kaminfeuers.

Kalter, grauer Wintertag,

hast mich hier eingeschlossen,

hinter schweren Türen,

meine Augen sehen die Flammen

mein Herz erreichten sie nie.

Nun ist sie zurückgekehrt,

mein einz'ger Freund,

in dieser grauen, tristen Welt,

wie lang hab ich es mir gesehnt,

sie wieder in Paris zu sehen?

Schon so lang vermisst,

dein fröhlich Lächeln,

wie ein warmer Sonnenschein,

vertrieb es dunkle Gedanken,

die tief in meiner Seele lagen.

Oh Meg, wie konntest du gehen,

du liesst mich hier allein,

in einer bangen, grauen Welt,

voller dunkler Ahnungen,

und bitterer Erinnerung!

"Madame", unterbrach Marie sie zaghaft und legte ihr eine Hand auf den Arm. Die Berührung riss ihre Herrin scheinbar aus den Gedanken. Ihr Kopf ruckte herum und ihr Blick suchte den ihren.

"Du hast recht, Marie. Ich sollte soetwas nicht sagen. Bin ich doch in deinen guten Händen", sie brachte ein halbwegs normales Lächeln zustande.

"Ich würde mir niemals anmassen, soetwas behaupten zu wollen, Madame. Ich fürchtete, ihr könntet am Kamin eingeschlafen sein."

"Ach Marie, wie könnte ich bei dem feurigen Spiel der Flammen einschlafen? Ich habe an alte Zeiten gedacht. Was hältst du von einer Tasse Tee und etwas Gebäck?"

"Wie Ihr wünscht, Madame. Ich werde Francois rufen..."

Christine winkte ab. "Ich denke, für ein paar Minuten wirst du mich aus den Augen lassen können", sagte sie mit einem bitteren Unterton in der Stimme, der Marie aufhorchen liess.

"Verzeihung, natürlich Madame!" Sie liess den Glockenzug wieder los, den sie bereits schon fast gezogen hatte und verliess eilig den Raum. Christine sah ihr eine Weile hinterher. Dann lehnte sie sich seufzend wieder zurück und schaute ins Feuer. Das Spiel der flackernden Flammen schlug sie auch sofort wieder in ihren Bann. Der Brief ihrer Freundin Meg entglitt ihrer Hand und fiel zu Boden.

Eigentlich hätte sie reine Freude empfinden müssen, dass Meg wieder in der Stadt war. Aber dennoch enttäuschte sie die Tatsache, dass ihre anfänglichen Befürchtungen, als sie den Brief sah, nicht zutrafen. Warum? Konnte sie nicht einfach dankbar sein? Raoul trug sie in der Tat auf Händen. Und da er selbst sehr häufig nicht im Hause war, hatte er Marie angestellt, damit sie Christine eine Gesellschaft war, konnte er es selbst nicht sein. Sie beobachtete den wilden Feuertanz im Kamin.

Plötzlich schien es ihr, als würden sich die Flammen teilen und sechs junge, feurige Mädchen einen anmutigen Tanz darbieten auf einer Bühne, die aus dunkelroter Glut gewoben war. Christines Augen weiteten sich und sie beugte sich ein wenig vor. Doch schon ein Blinzeln liess das Bild verschwinden. Ein Knacken an der Tür rief sie endgültig in die Realität zurück. Wie lange hatte sie so gesessen und das Spiel des Kaminfeuers verfolgt? Sie warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass über eine halbe Stunde verstrichen war, seit Marie das Zimmer verlassen hatte. War es ihr doch nur wie wenige Minuten erschienen. Ihr fröstelte und sie zog ihr Schultertuch enger um sich.

Marie rückte einen kleinen Tisch heran und stellte ein Tablett darauf ab. Dann schenkte sie Tee aus einer kleinen, silbernen Kanne ein und liess ein Stück Zitrone jeweils in die Tasse hineingleiten. Auf einem Teller daneben lagen einige Kekse. Das Mädchen reichte ihrer Herrin eine der Tassen.

Christine nahm die Tasse und blies ein wenig die Hitze davon. Der erste Schluck brannte heiss und angenehm wohlig in ihrem Hals. Sie schloss die Augen und atmete tief das würzige Aroma ein. Sie hörte, wie Marie einen Keks nahm und bediente sich ebenfalls. Sie wollte gerade einen Bissen machen, als eine Bewegung am Fenster ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

Christine liess Tasse und Gebäck fallen, als sie begriff, was sie da sah. Marie sprang erschrocken auf, als der heisse Tee ihren Rock durchnässte. Ihr Stuhl kippte mit einem lauten Klappern um und sie verschüttete ihren eigenen Tee auf den kostbaren Teppich.

"Es tut mir so unendlich leid", jammerte sie, während sie sich mühte, das Geschirr zusammen zu räumen. Sie stellte alles auf dem Tischchen ab und stürzte dann zu Christine, als sie gewahrte, dass diese wie hypnotisiert auf ihren Stuhl sass und sich nicht mehr rührte.

"Madame?"

Die Tür öffnete sich und Francois kam hereingestürzt. Er sah verwirrt von Marie zu seiner Herrin und dann zu dem grossen Fleck am Boden.

"Rasch, Francois", rief Marie bestürzt. "Wir wollen sie in ihr Bett bringen!"

Francois nickte und nahm Christine auf, die mit weit aufgerissenen Augen starr dasass und es teilnahmslos geschehen liess. Marie blieb bei ihr, während Francois hastig etwas Wasser holen ging. Noch immer war Madame deChagny kreidebleich und sprach kein Wort. Auch gab sie kein Zeichen, ob sie Marie überhaupt bemerkte. Die, nachdem das Wasser kam, mit einem weichen Tuch ihre Stirn abtupfte, auf der kalter Schweiss perlte. Dann brach Christine plötzlich ohne ersichtlichen Grund in Tränen aus. Sie stiess Marie von sich und krümmte sich, wie unter Schmerzen.

Marie sprang auf und schaute entsetzt auf sie herunter. Das verzweifelte Schluchzen ging ihr durch Mark und Bein. Sie bemühte sich mehrere Stunden um ihre Herrin, bevor sich diese auch nur halbwegs beruhigte. Sie wollte nach einem Arzt schicken, aber Christine hatte es nicht gewollt, und verboten, dass ein Arzt ins Haus käme.

Dann endlich war sie erschöpft eingeschlafen. Ihr weisses, bleiches Gesicht sah so furchtbar verletzlich aus, im Schlaf, als wäre es aus Porzellan. Marie erhob sich vorsichtig und legte das wassergetränkte Tuch auf den Rand der Wasserschüssel, die Francois zwischenzeitlich neu gefüllt hatte. Sie vergewisserte sich noch einmal, dass ihre Herrin schlief und verliess das Schlafzimmer mit leisen Schritten, um sie nicht wieder zu wecken. Marie hatte der unvermutete Zusammenbruch Madame deChagnys furchtbar erschüttert. Sie überlegte, was sie jetzt tun sollte. Monsieur deChagny war nicht in der Stadt, sondern besuchte entfernte Verwandte auf dem Land und einen Arzt durfte sie nicht zu Rate ziehen, denn das hätte Madame Christine ihr niemals verziehen.

Sie begab sich ins Studierzimmer und machte sich daran, den Teefleck aus dem Teppich zu reiben. Während sie sich daran zu schaffen machte, fiel ihr Blick zufällig auf den Brief, der vergessen am Boden lag. Sie nahm ihn auf und las sich die kurzen Zeilen durch. Ihr kam eine Idee. Sie nahm Stift und Papier vom Schreibpult und setzte sich an den Schreibtisch der Herrin. Das Mädchen setzte einen kurzen Brief auf, in dem sie zu erklären versuchte, was vorgefallen war und Madame Giry darum bat, auf dem Anwesen deChagny zu erscheinen. Sie las ihn sich dreimal durch, immerhin wollte sie bei Madame Giry keinen falschen Eindruck erwecken. Dann rief sie Francois und beauftragte ihn, den Brief sofort ohne Umschweife zu überbringen. Francois schien zwar nicht gerade begeistert, tat jedoch, was ihm geheissen wurde. Wenige Minuten später verliess er das Anwesen mit dem Brief, während Marie das Studierzimmer weiter aufräumte und dann wieder am Bett ihrer Herrin über deren Schlaf wachte.

Meg las den Brief unter den Augen des Dieners ihrer Freundin. Sie fühlte sich selbst etwas müde und ausgelaugt, war sie doch selbst eben gerade erst von einer anstrengenden Reise zurückgekehrt. Sie hatte noch nicht einmal alle Koffer auspacken können. Diese standen kreuz und quer in ihrem Gemach und versperrten teilweise sogar den Weg. Meg seufzte. Sie glaubte Marie gut genug zu kennen, um zu wissen, dass sie es niemals gewagt hätte, ihr einen solchen Brief zu schreiben, wäre es nicht wirklich dringlich gewesen. Auch war Meg davon unterrichtet, dass Raoul mal wieder nicht zugegen war. Sie las den Brief noch einmal und nickte dann. Die Zeilen beunruhigten sie zutiefst und schwere Sorgen um Christine lasteten nun auf ihren Schultern.

"Also gut", sagte sie zu dem Diener. "Wartet einen Augenblick, ich will mich nur rasch etwas zurecht machen!" Francois verneigte sich und verliess die Wohnung, um draussen auf sie zu warten.

Draussen war die Sonne bereits untergegangen. Christines Diener führte Meg zu der Kutsche, die bereitstand und nahm mit ihr im Innenraum platz. Während der ganzen Fahrt überlegte Meg, was Christine wohl so derartig aus der Fassung hätte bringen können. Ein flaues Gefühl in der Magengegend schürte ihre Nervosität, hatte sie doch so eine dumpfe Ahnung, worum es ging. Doch wie sollte das sein? Er hatte versprochen, ihr nicht mehr zu nahe zu kommen. Meg schüttelte die Gedanken ab. Sie verursachten ihr eine Gänsehaut.

Als sie die grossen Strassen der Innenstadt hinter sich liessen und sich weiter dem Anwesen der deChagnys näherten, mussten sie an einer kleineren Kreuzung anhalten und auf einen alten Mann mit einem Karren warten, der die Strasse langsam überquerte. Meg fiel eine schwarze Katze auf, die ein wenig abseits auf dem Sockel eines Brunnens sass. Meg hätte sie vermutlich überhaupt nicht bemerkt, hätte die Katze nicht so herrlich bernsteinfarbene Augen gehabt. Das Tier rührte sich nicht. Meg war sich sicher, dass sie nicht einmal blinzelte. Irgendwie beunruhigte das Tier sie. Dann setzte sich die Droschke ruckelnd wieder in Bewegung und der Brunnen entschwand dem Ausschnitt des Fensters und mit ihr der Sockel und die Katze. Meg zog die Stirn kraus und grübelte weiter über Maries Botschaft.

Endlich bogen sie auf den Hauptweg zu dem Haus deChangy ein und Meg machte sich bereit. Draussen zogen die im Winter kahlen Bäume der kleinen Weidenallee vorbei, in der Dunkelheit mehr zu erahnen, als wirklich zu sehen. Die langen, schlanken Äste peitschten wild im stürmischen Wind. Francois war ihr beim Aussteigen behilflich. Da es immer noch schneite und niemand sonst das Haus verlassen hatte, war der Vorplatz wieder mit einer jungfräulich weissen Schneedecke überzogen. Meg setzte vorsichtig einen Fuss vor den anderen, um nicht auszurutschen oder zu stolpern.

Sie hatte gerade die oberste Treppenstufe erreicht, als sie erschrocken zurückprallte und um ein Haar die Treppenstufen rücklings hinuntergefallen wäre. Vor der schweren Eichentür sass eine schwarze Katze und musterte sie regungslos. Eigentlich hätte sie schon sehr lange da sitzen müssen, denn in dem Schnee waren keine Katzenspuren zu sehen. Aber Meg war sich sicher, dass es dieselbe Katze war, die sie bereits in Paris gesehen hatte. Sie beugte sich über das Tier, das vertraut sein Köpfchen an ihrer Hand rieb und jetzt ein vernehmliches Schnurren von sich gab. Irgendetwas in Meg erstarrte, als sie die andere Seite des Kopfes sah. Das Fell der Katze war keineswegs völlig schwarz. Am Kopf trug sie einen weissen Fleck, der fast die gesamte rechte Hälfte des Kopfes bedeckte und das Auge umrahmte. Die Frau zog ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt und starrte das Tier wie einen Geist an, das jetzt um ihre Beine strich.

Plötzlich öffnete sich die Tür von innen und Marie erschien dahinter. Sie wirkte im ersten Moment etwas erschreckt, als habe sie niemanden so direkt hinter der Tür erwartet, fasste sich aber schnell wieder, als sie Meg erkannte.

"Du liebe Güte, Ihr habt mich aber ganz schön erschreckt, Madame! Aber kommt doch herein!" sagte sie beflissen und öffnete die Tür vollends, damit Meg eintreten konnte. "Ich bin so froh, Euch zu sehen und dass es Euch möglich war, so rasch herzukommen. Ich fürchte Madame Christine ist furchtbar krank. Schon heute Morgen, als wir zum Friedhof fuhren, ist sie in Ohnmacht gefallen und schliesslich heute abend..." Marie versagte die Stimme. Plötzlich merkte sie, wie sehr die ganze Angelegenheit sie selbst mitnahm.

Meg versuchte dem Wortschwall des Mädchens zu folgen, sah sich dennoch nach der merkwürdigen Katze um, damit sie nicht über das Tier stolperte. Die aber war spurlos verschwunden. Wieder jagte ihr ein eisiger Schauer Gänsehaut über die Arme. Sie beeilte sich, in die Halle zu kommen. Francois nahm ihr Hut und Mantel ab und eilte damit davon.

"Es tut mir so schrecklich leid, Euch damit behelligt zu haben, Madame. Aber ich wusste einfach nicht, an wen ich mich hätte wenden können, nachdem Madame Christine mir ausdrücklich verboten hat, einen Arzt zu Rate zu ziehen!"

"Liebes Kind", sagte Meg ruhig und wandte sich Marie zu, die Gedanken an die schwarze Katze mit aller Macht verdrängend. "Erzähl mir doch der Reihe nach, was geschehen ist, dann will ich sehen, was ich tun kann!" Das ungute Gefühl in ihren Eingeweiden hatte sich verstärkt, seit sie das Haus betreten hatte, war es, als irrten dort aufgeregte Schmetterlinge umher.

Marie begann damit zu schildern, was sich vor den Toren des Friedhofs ereignet hatte und endete mit Christines abendlichen Zusammenbruch. Meg liess das verstörte Mädchen reden, ohne sie zu unterbrechen. Wie oft hatte ihre Mutter ihr schon erklärt, wie man mit hysterischen Mädchen umzugehen hatte. Und nun war sie dankbar für diese Unterweisungen, denn ihre Sorge um Christine steigerte sich mit jedem Wort, das sie hörte. Irgendetwas in ihr hatte sich unerträglich gespannt, als Marie die Katze erwähnte und Meg fragte sich, ob es dieselbe Katze gewesen sein mochte. Im gleichen Augenblick war sie sich aber schon sicher, dass es genauso war.

Als das Mädchen seinen Bericht beendete zerrte eine besonders heftige Windbö mit einem furchtbaren, lauten Klappern und Klirren an den Fenstern. Das liess die beiden Frauen erschreckt auffahren. Meg erhob sich rasch und zog die Vorhänge zu, was das Geräusch des Sturmes nur wenig, aber immerhin etwas, abdämpfte.

"Ich gehe jetzt hinauf, Marie", sagte sie dann bestimmt zu dem Mädchen. "Bringe mir doch bitte einen Tee und eine frische Schale mit Wasser. Und dann wirst du dich ein wenig hinlegen und ruhen." Megs Worte duldeten keinerlei Widerspruch, sodass Marie nur nickte und nach ihr das Zimmer verliess, um das Gewünschte zu holen. Francois hatte geistesgegenwärtig bereits einen Stuhl neben das Bett gerückt, auf dem Meg nun platz nahm.

Sie erschrak furchtbar, als sie das blasse, fahle Gesicht ihrer Freundin sah, das sich kaum von den weissen Laken abhob. Zuerst hatte sie angenommen, Christine wäre guter Hoffnung. Seit die Katze ihr über den Weg gelaufen war, war sie sich nicht mehr sicher, woran sie mehr glauben wollte, an ihre dunkle Vorahnung oder an unwahrscheinlichen Nachwuchs im Hause deChagny. Raoul wäre zweifellos letzteres lieber, dachte sie unzusammenhängend.

Christine rührte sich. Ein schwaches Stöhnen drang über ihre trockenen Lippen. Marie betrat eben das Zimmer mit Tee, gefolgt von Francois, der eine Wasserschale und ein frisches Leinentuch trug. Meg nahm das Wasser und den Tee entgegen und stellte beides auf dem Nachttisch ab. Francois entfernte sich mit einer Verbeugung und Marie räumte noch die erste Wasserschüssel fort. Meg nickte ihr freundlich zu, als sie das Zimmer verliess, sichtbar erleichtert, dass jetzt jemand da war, der die Sache in die Hand zu nehmen verstand.

Kaum schloss sich die Tür, schlug Christine die Augen auf. Ihr Blick irrte sofort zum Fenster, vor dem die schweren, dunkelgrünen Samtvorhänge herabgelassen waren. Als sie Meg gewahrte, hellten sich ihre Gesichtszüge deutlich auf.

"Meg!" sagte sie glücklich. "Ich bin so froh, dich zu sehen, liebe Meg! Wie sehr habe ich dich vermisst!" Plötzlich liefen ihr, ohne ihr Zutun erneut Tränen über die Wangen und sie ergriff mit beiden Händen Megs Hand.

"Nicht doch, Liebes!" Meg tupfte ihr mit dem Tuch die Tränen von den heissen Wangen.

"Wie kommt es, dass du hier bist? Hier... jetzt? Woher wusstest du, wie sehr ich dich herbeiwünschte?"

"Marie hat mich gerufen. Du hast ihnen einen gewaltigen Schrecken eingejagt, meine Liebe", erwiderte Meg ruhig. "Sie hat mir auch erzählt, was vorgefallen ist. Nun möchte ich", sie sah Christine in die Augen, "dass du mir erzählst, was wirklich geschehen ist!"

Über Christines eingefallenes Gesicht glitt ein Schatten und ein Ausdruck trat in ihre Augen, den Meg eindeutig als panische Angst erkannte, daran blieb kein Zweifel. "Ich...ich kann es dir nicht sagen", antwortete sie ausweichend.

"Natürlich kannst du! Weißt du noch?" Meg drückte Christines Hand fester und war erschrocken, wie kalt sie sich anfühlte. "Als Kinder haben wir uns geschworen uns stets wie Schwestern alles zu erzählen!"

Christine musste ein wenig lächeln. Doch schien es ihr heute, als lägen jene glücklichen Tage der Kindheit so unendlich weit in der Vergangenheit, als wären sie schon gar nicht mehr wahr.

"Siehst du", bemerkte Meg bestimmt, "du erinnerst dich. Also sag mir nun, was geschehen ist."

Christine schluckte und wandte das Gesicht erneut zum Fenster. Panik wallte in ihr auf, als sie daran dachte, was sie im Fenster gesehen hatte. Sie schloss die Augen und öffnete sie langsam wieder. "Hast du etwas Wasser für mich?" fragte sie, noch immer bemüht, das Thema hinter sich zu lassen.

Meg nahm ihre Tasse auf und hielt sie Christine an die Lippen. "Vorsicht, er ist noch heiss!"

Christine trank einen Schluck und liess sich dann wieder in die Kissen zurück sinken. Es dauerte eine Weile, während der sie nur zum Fenster starrte. Meg sah, wie sie innerlich einen schweren Kampf austrug. Ihre dunkle Vorahnung steigerte sich ins Unerträgliche. Sie versuchte sich seelisch gegen das zu wappnen, das da kommen mochte. Trotzdem trafen sie Christines Worten wie ein Peitschenhieb.

"Ich habe ihn gesehen Meg!"