Christines Kopf sackte wieder zur Seite. Dennoch war es für Meg ein leichtes, an den bebenden Schultern zu erkennen, dass ihre Freundin bitterlich weinte. Die Worte benötigten keinerlei Erklärung. Sie presste die Lippen fest aufeinander und sog scharf Luft durch die Nase ein. Sie hätte nicht erwartet, dass er sich soweit würde gehen lassen. Zugleich sorgte sie sich um Christine.

Seit den tragischen Ereignissen jener schicksalhaften Nacht vor annähernd fünf Jahren, war sie nicht mehr dieselbe gewesen. Sie hatte sich nahezu von allen zurückgezogen. Auf Raouls Wunsch hin hatte sie sogar nach der Hochzeit die Oper und das Ballett verlassen. Meg Giry war die Einzige von damals, zu der Christine regelmässig, wenn gar überhaupt noch, Kontakt pflegte. Und Meg war die Einzige, die wusste, wie sehr Christine darunter litt.

Doch selbst vor ihr bewahrte Christine die dunklen Geheimnisse der Schicksalsnacht des Don Juan. Sie waren nach den schweren Verwüstungen, die das Feuer in der Oper angerichtet hatte, in den finsteren, einsamen Hallen der Katakomben unter der Oper begraben worden. Viele der verworrenen, labyrinthartigen Gänge waren kurzerhand zugemauert worden. Andere waren von selbst eingestürzt und in Vergessenheit geraten. Tatsächlich traute sich noch immer niemand dort hinunter. Es gingen Gerüchte, dass das Phantom unter den Trümmern der Zerstörung mit all seiner finsteren Macht begraben worden war. Keiner wollte die verlorenen Schätze bergen, die dort unten im kalten Wasser darauf warteten, gefunden und ans Tageslicht gebracht zu werden. Verloren waren sie in der Tiefe und bald würde das Vergessen ihren letzten Glanz erblinden lassen. Sie waren dem dunklen Wasser der gesichtslosen Tiefe für die Ewigkeit überlassen worden.

Meg fröstelte. Sie zog sich eine Decke heran, die neben ihrem Stuhl lag und breitete sie über ihre Knie aus. Der Wind heulte entsetzlich um die verwinkelten Mauern des Gemäuers und suchte noch immer die Fenster heim. Sie verspürte sogar einen Luftzug, der plötzlich schauerlich wimmernd unter der Tür hindurchzog. Christine war offensichtlich eingeschlafen. Ihre Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Atemzügen. Meg zupfte die Schlafdecke sorgsam über ihre Schulter. Das arme Kind hatte soviel durchstehen müssen. Sie liebte Raoul. Darüber bestand kein Zweifel. Doch Meg erriet aus dem, was Christine ihr nicht erzählte mehr, als aus den vagen Andeutungen, die die Freundin bisher auf ihr Nachfragen hin, gemacht hatte. Meg vermutete, dass Christine durchaus tiefere Gefühle für ihren Engel der Musik, wie sie ihn selbst nannte, hegte. Doch war Madame deChagny nicht in der Lage, diese zu verarbeiten. Auch konnte sie sie genausowenig verdrängen. Das musste sie in den Wahnsinn treiben, dachte Meg traurig. Sie strich Christine liebevoll über die Wange. Ihre Haut war heiss und trocken. Ein Zeichen, wie sehr sie geweint hatte.

Da es sonst nichts zu tun gab, nahm Meg einen Schluck Tee. Ihr Blick fiel auf ein Buch, das auf Christines Nachttisch lag. Es war in schwarzes Leder gebunden. Sie kannte den Autor nicht. Hatte aber dennoch sehr wohl schon von ihm gehört. Sie nahm das Büchlein zur Hand und begann zunächst gelangweilt, dann immer mehr gefesselt, darin zu lesen. Es dauerte Stunden, bis sie wieder aufsah. Sie hatte das Buch bis zur Hälfte gelesen. Hastig schlug sie es zu und legte es wieder an seinen Platz. Doch konnte sie kaum ihre Neugierde im Zaum halten. Der Autor hatte eine wunderbar bildliche Art seine Geschichte zu erzählen. Eine furchtbar traurige Geschichte. So ergreifend, dass Meg bereits Tränen vergossen hatte. Sie konnte nicht anders. Als sie die Mitte erneut aufschlug, stach ihr das Bildnis einer Rose ins Auge. Es war ein wunderschöner Kapiteltrenner. Eine geradlinige, schwarze Rose, von deren zarter Blüte fünf Blätter herabgefallen waren.

Meg lächelte traurig. Roseraie, dachte sie wehmütig. In einem Rosengarten hätte er bestimmt gerne gelebt. Ihr Blick wanderte zu Christines schlafendem Gesicht und sie fragte sich, ob es nur Zufall war, dass Christine gerade dieses Buch las.

Oh Christine, du armes Wesen,

wolltest doch nur leben,

fern von all den dunklen Mauern,

wie sehr musst du trauern.

Sind soviel Jahre vergangen

soviele Dinge geschehn,

seit dunkle Lieder erklangen,

wie soll ich 's verstehn?

Kenne nur, was du mir gesagt,

habe so oft gefragt,

du trägst dein Geheimnis allein,

wie soll ich dir Freund sein?

Aus den Worten rat' ich soviel,

dass es mein Herz schon beschwert,

Christine, du versinkst in Gefühl,

dass Glück dir verwehrt!

Meg schloss das Buch. Ihre Gedanken wanderten wieder zu jener furchtbaren Nacht, hin zu dem Mann, der Christine hatte besitzen wollen und der sie gehen liess, als sie sich schon ergeben hatte. Wie sehr musste er sie geliebt haben, dass er sie aus freien Stücken wieder seiner Hand entliess? Dass er heute Abend hier erschienen war, konnte nur eines bedeuten. Er liebte Christine noch immer. Er war nach all der Zeit nicht mehr bereit, sie gehen zu lassen. Irgendetwas an diesem Gedanken störte Meg. Aber sie konnte nicht herausfinden was. Sie empfand Zorn darüber, dass er sie offensichtlich belogen hatte. Sorgsam hatte sie selbst ein Geheimnis vor Christine verborgen. Ein Geheimnis, das niemals das Licht des sensationsgierigen Tages erblicken durfte. Ihr schien es, als wäre es unlängst wenige Tage her, dass sie die weisse Maske in dem düsteren Gewölbe neben einer Spieluhr fand. Sie konnte jetzt noch das Licht sehen, das hunderte Kerzen flackernd darauf warfen.

Sie hatte sich nach dem Mann umgesehen, dem die Maske das bisschen Leben zurück gegeben hatte, welches er in dem unterirdischen Gefängnis selbst gewählt hatte. Doch nichts hatte darauf hingedeutet, dass er noch dort war. Eine Hand hatte sie plötzlich am Arm gepackt. Meg war furchtbar erschrocken und hatte einen kleinen Schrei ausgestossen. Die Maske war ihrer Hand entglitten und mit einem klappernden Geräusch über steinerne Stufen davon gerollt und schliesslich mit einem leisen Platschen ins Wasser gefallen. Ihre Mutter hatte sie mit funkelnden Augen angeschaut. Dann hatte sie ihre Tochter losgelassen und war die Treppen hinunter geeilt, um die Maske aus dem Wasser zu fischen.

Meg schreckte hoch, sich im ersten Moment nicht darüber im Klaren, wo sie sich befand. Nur langsam dämmerte ihr, dass sie in Christines Schlafgemach war. Sie musste eingeschlafen sein. Das Buch war heruntergefallen und unter das Bett gerutscht. Meg rieb sich über die Augen und gähnte herzhaft. Dann angelte sie das Buch unter dem schweren Bettgestell aus reich verziertem Mahagonyholz hervor. Christine hatte sich zwischenzeitlich etwas gedreht, sodass Meg von ihrem Platz aus das Gesicht nicht mehr sehen konnte. Sie gähnte erneut und öffnete das Buch ungefähr an der Stelle, an der sie aufgehört hatte zu lesen. Nach einem weiteren, prüfenden Blick auf ihre Freundin widmete sie sich der fesselnden Lektüre, die sie seit dem ersten Wort in ihren Bann geschlagen hatte. Als der Morgen zwielichtig und trüb graute, las sie eben die letzte Seite.

Es klopfte leise und Marie streckte den Kopf herein. Sie lächelte Meg an und schob sich durch die geöffnete Tür. In ihren Händen trug sie ein sehr grosses Tablett. Darauf war ein Frühstück für zwei Personen angerichtet. Meg lächelte. Die gute Marie. In der Tat verspürte sie jetzt tatsächlich ein wenig Hunger. Sie erhob sich aus ihrem Sessel und stellte überrascht fest, wie kalt es im Zimmer war.

Der Sturm hatte zwar aufgehört und es schneite auch nicht mehr, aber eine unangenehm klamme Kälte hatte sich in das Zimmer geschlichen. Marie stellte das Tablett auf dem kleinen Tischchen ab. Dann nahm sie die halb leere Wasserschüssel auf und verliess das Zimmer wieder.

Meg setzte sich auf die Bettkante. Einen Moment noch betrachtete sie die schlafende, junge Frau darin. Dann strich sie ihrer Freundin liebevoll über das Gesicht. Dabei fiel ihr auf, dass etwas anders war, als den Abend zuvor.

Eisige Kälte griff nach ihrem Herzen und liess ihr das Blut in den Adern gefrieren. Etwas schnürte ihr die Kehle zu und sie griff sich an den Hals, darum bemüht nicht einfach loszuschreien. Sie musste ein paarmal schlucken, bevor sie im stande war, ein lautloses Keuchen auszustossen. Auf dem unbenutzten Kissen, dort wo normalerweise Raoul schlief, lag eine gläserne Rose.

Megs Blick flog im Raum umher, als erwarte sie, dass er noch hier war. Sie brauchte mehrere Minuten, um sich wieder in den Griff zu kriegen. Durch Megs Berührung geweckt, schlug Christine die Augen auf. Zunächst konnte sie nicht glauben, das Meg an ihrem Bett sass. Aber dann erinnerte sie sich, dass sie bereits den Vorabend schon dagewesen war. Und sie selbst hatte Meg erzählt, welch furchtbares Antlitz sie im Fenster gesehen hatte. Meg hatte sie nicht ausgelacht und war bei ihr geblieben, bis sie eingeschlafen war.

Christine sah Meg an, das Lächeln auf ihren Lippen erstarb, als sie sah, dass ihre Freundin bleich war, als wäre sie dem Leibhaftigen begegnet. Megs Blick irrte zwischen Christines Gesicht und irgendeinem Punkt hinter Christine hin und her. Ein schmerzhafter Stich fuhr ihr ins Herz. Christine stockte der Atem, während sie ahnungsvoll den Kopf umwandte.

"Oh Christine", flüsterte Meg, als Christines Bewegung gefror.

"Er war hier", flüsterte Christine tonlos. Sie spürte, wie ihr die Kraft, die der Schlaf in ihrem Körper geweckt hatte, wieder entwich wie der letzte Hauch eines Sterbenden. "Meg, sag mir, dass du sie auch siehst!" Sie klammerte sich plötzlich an ihre Freundin und weinte wie ein kleines Kind in ihren Armen. "Meg, du musst mir sagen, dass du sie auch siehst! Ich bilde mir das nicht ein!"

Meg schloss behutsam die Arme um die bebenden Schultern Christines. Ihr Herz klopfte ihr noch immer vor Schreck bis zum Hals und eine unangenehme Taubheit hatte sich ihrer Glieder bemächtigt, sodass jede Bewegung quälend langsam wirkte. Sie konnte den Blick nicht von der Rose abwenden. Sie hatte noch nie etwas so Wunderschönes und zugleich entsetzlich Abstossendes gesehen. Die Rose funkelte im Licht der Lampe wie ein Diamant. Das schwarze Seidenband schimmerte wie Silber.

Plötzlich entwand sich Christine ihrer Umarmung und packte laut schreiend die Rose. Mit einer Bewegung, zu der sie alle Kraft heraufbeschwor, derer sie fähig war, schleuderte sie sie an die gegenüber liegende Wand. Die Rose zersprang in tausende Scherben. Christine schrie noch immer, wie eine Besessene und stiess fürchterliche Flüche aus. Dann sackte sie wieder zusammen und schluchzte haltlos.

"Christine, so beruhige dich doch! Christine!" Meg schüttelte sie hilflos. Dann versetzte sie in ihrer Angst der jungen Frau eine schallende Ohrfeige. "Christine, hör mir zu!" Meg beugte sich vor, um ihr in die Augen zu sehen. "Hör mir zu!" verlangte sie mit eindringlicher Stimme.

Christines Hand fuhr an ihre Wange. Wo Megs Ohrfeige sie getroffen hatte, brannte sie wie Feuer. Sie schluchzte noch einmal erstickt auf, verschluckte sich und hustete. Aber sie schien ruhiger zu werden, ob das jetzt von der unerwarteten Ohrfeige herrührte oder von ihrer Überraschung darüber, vermochte Meg nicht zu erraten.

"Ich verspreche dir, dass ich das klären werde, hörst du?" Sie schüttelte Christine noch einmal an den Schultern. "Ich will nicht, dass dir ein Leid geschieht, verstehst du?" Sie wartete, bis Christine zaghaft nickte. "Also warte hier auf mich. Ich werde gegen Abend wieder hier sein. Verlasse das Haus nicht und bleibe in Gesellschaft von Marie!" Meg wandte sich zur Tür. Als sie ihre Hand auf die kühle Messingklinke legte fiel ihr noch etwas ein. Sie drehte sich zu Christine und sah ihr fest in die Augen.

"Und denke daran: Die Hand muss auf Augenhöhe sein!" Dann verliess sie das Zimmer eilig. Draussen stand Marie mit ensetztem Ausdruck in den Augen und schaute ängstlich fragend. Meg schenkte ihr keine Beachtung. Sie hatte etwas zu tun. Und sie musste es schnell hinter sich bringen. Wenn sie den Wahnsinn nicht stoppte, würde Christine den Verstand verlieren, das hatte sie ganz deutlich in den Augen ihrer Freundin gesehen. Christine stand an einem Abgrund und es hing davon ab, was Meg in den nächsten Stunden erreichen würde, ob sie den letzten Schritt über die Kante hinweg machen und in die Tiefen des Wahnsinns entgleiten würde.

In der Halle begegnete sie Francois. Sie wies ihn an, die Kutsche bereit zu machen. Es dauerte wenige Minuten und Gustave erschien mit der Kutsche. Meg sagte ihm, wohin sie wollte und die Kutsche setzte sich ruckelnd in Bewegung.

Christine sass noch eine Weile allein, heftig atmend im Bett. Sie vermied es, dorthin zu schauen, wo das schwarze Schleifenband der Rose auf den Boden gefallen war. Dann wischte sie sich mit einer fahrigen Bewegung die Tränen aus dem Gesicht.

"Wieso tust du das", flüsterte sie leise. "Wieso tust du mir das an? Du hast einmal behauptet, du liebst mich...

Ist Liebe nur ein leeres Wort

nur eine Note in deiner Melodie?

Stand denn dein Herz in Flammen,

wie du es so oft besungen hast?

Oder war alles nur ein Spiel,

ein Zeitvertreib in deiner dunklen Welt?

Ja, ich habe deine Welt verlassen,

habe das Licht in mein Herz gelassen.

Doch du lässt mich nicht los

hältst meine Gedanken in deinem Bann.

Haben Gefühle Jahre überdauert,

um nun so zugrunde zu gehen?

Doch was rede ich mir hier ein,

du lebst nicht mehr,

du hast das Licht niemals gekannt,

so gern hätte ich es dir gezeigt.

Muss nun zahlen den bitteren Preis,

den Verrat muss ich sühnen,

den ich an dir, meinem Lehrer beging,

beging ich ihn nicht auch an mir?

Christine sah auf. Der Gedanke war ihr neu. Es dauerte ein wenig, bis sie merkte, dass er keineswegs neu war. Schon immer hatte sie es gewusst, in ihrem Herzen, verdrängt, vor ihrem Leben verschlossen.

Sie sprang aus dem Bett. Schwäche und Müdigkeit fielen von ihr ab, wie Morgentau von einem Blütenblatt. Sie wusste nun, was sie zu tun hatte! Sie musste die Vergangenheit dort begraben, wo er begraben lag, um die Zukunft leben zu können. Sie musste zurückkehren an jenen finsteren Ort, den er sein Eigen nannte. Dorthin, wo er sie vor eine grausame Wahl gestellt hatte, die ihr das Herz zerreissen wollte. Und sie war sich nun bewusst, dass nicht allein ihr Herz gespalten war. Auch in der Seele fühlte sie nun jenen dumpfen Schmerz, den der Splitter seines Andenkens hinein biss.

Christine zog sich an und wählte die Farbe schwarz für ihr Kleid. Als sie fertig war, betrachtete sie sich im Spiegel. Das bleiche Gesicht einer vom Schicksal gezeichneten Frau blickte von dort zurück. Dunkle Ringe lagen unter den weit aufgerissenen Augen und die Wangen wirkten eingefallen und hager. Schatten lagen über den Gesichtszügen und liessen sie älter erscheinen, als sie waren. Christine öffnete bedächtig eine kleine Schublade des kleinen Kästchens, welches neben dem Spiegel auf einer Kommode stand. Raoul hatte es ihr zur Hochzeit vermacht. Es trug die Initialen C.dC. Darin hatten sich die schönste Diamanthalskette und ein ebenso gefertigtes Paar Ohrringe befunden, die sie jemals gesehen hatte. Sie waren passend zu jenem Ring gewesen, den er ihr einst zur Verlobung gegeben hatte. Als sie jetzt daran dachte, versetzte ihr die Erinnerung einen schmerzhaften Stich. Raoul glaubte, sie habe den Ring in den Wassern der tiefen Katakomben unter der Oper verloren. Christine hatte ihn in dem Glauben belassen. Wie sollte sie ihm auch erklären, warum sie den Ring hergab, wenn sie es nicht einmal selber verstand?

Inzwischen war das ganze Kästchen mit dem herrlichsten und wunderschönsten Geschmeide gefüllt, das in ganz Paris zu haben war. Aber eine kleine Schublade blieb stets leer, bis auf etwas, das ebenso eng mit der Vergangenheit verknüpft war, wie ihre Erinnerungen und ihr ebenso teuer war. Es war ein schimmerndes, schwarzes Seidenband. Sie strich liebevoll mit den Fingern darüber und nahm es schliesslich heraus. Mit geschickten Händen flocht sie ihre Haare ein wenig, damit sie richtig lagen, und band die Haare mit der schwarzen Seidenschleife im Nacken zu einem Zopf. Dann schob sie die Schublade wieder zu und betrachtete sich nochmals kritisch im Spiegel. Sie war erwachsen geworden in den vergangenen fünf Jahren. Die kindlichen Züge hatten ihr Gesicht und ihre Haltung völlig verlassen.

Christine wandte sich ab und ging zur Tür. Plötzlich hielt sie für einen Augenblick inne und änderte ihre Meinung. Einer Regung folgend, ging sie zu der Wand, an der die Rose zerschellt war und hob das Seidenband auf. Sie liess es in eine Tasche ihres Handbeutels gleiten und beeilte sich, das Schlafzimmer zu verlassen.

Francois war in der Halle damit beschäftigt den Boden zu fegen. Er sah auf, als sie die Treppe heruntergeeilt kam.

"Wollen Madame das Haus verlassen?" fragte er leicht verwundert, sie wohl auf und so tatendurstig zu sehen.

"Ich gedenke in die Stadt zu fahren, Francois. Sei bitte so gut und unterrichte Gustave davon!"

"Aber Madame, Gustave ist mit Madame Giry vor wenigen Minuten bereits aufgebrochen!"

Christine zog eine Augenbraue hoch und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Sie ging die letzten paar Treppenstufen hinab und schaute sich um, als könnte ihr irgendetwas in der grossen Halle Antwort darauf geben.

"Wenn ich vorschlagen dürfte, Madame, dass Madame wartet, bis Madame Giry wieder zurückkehrt..."

"Nein. Meine Angelegenheit duldet keinen Aufschub. Sag Francois, kannst du eine Kutsche lenken?" Sie sah ihn fragend und fast schon flehend an.

Francois schien in einer Zwickmühle. Zwar verstand er sich sehr wohl auf Droschken. Aber die einzige, weitere Kutsche, über die das Haus deChagny verfügte, war eine leichte Sommerkutsche ohne Dach. Im Winter wäre eine Fahrt nach Paris in diesem Gefährt mehr als töricht. Er musste nun sehr schnell alle Für und Wider abwägen, denn seine Herrin wurde schon ungeduldig ob seiner fehlenden Antwort. "Ja, Madame", antwortete er schliesslich ergeben. "Ich werde sofort anspannen, Madame!" Damit deutete er beflissen eine leichte Verbeugung an, drückte seinen Besen einem mit einem Staubwedel wartenden Pagen in die Hand und verschwand durch eine der Türen.

Christine ging unterdessen noch einmal in ihr Ankleidezimmer hinauf und suchte sich einen dicken, schwarzen Wintermantel und einen Muff aus schwarzem Hermelin heraus. Als sie wenige Minuten später unten vor die Tür trat, sah sie, dass der Sturm des Vortags das Land mit einer schweren Decke Schnee bedeckt hatte. Die Bäume bogen sich unter der Last des Neuschnees und nicht wenige von ihnen drohten zusammenzubrechen. Christine war überrascht davon und fürchtete, dass die Fahrt in der Sommerkutsche durchaus beschwerlicher werden würde, als sie so schon erwartet hatte.

Die leichten Räder der Kutsche knirschten ungewohnt im Schnee, als Francois vorfuhr. Er wollte abspringen und ihr beim Einstieg behilflich sein, aber Christine winkte ab. Flink kletterte sie über den Tritt in die Kutsche und liess sich auf einem der Sitze nieder. Francois liess die Peitsche knallen und das Pferd zog die Kutsche mit einem heftigen Ruck an. Christine fand eine Felldecke neben sich und mümmelte sich tief darin ein. Eisiger Wind biss ihr in die Wangen und liess ihre Nase schon nach wenigen Sekunden taub werden. Die junge Frau vergrub ihre Hände noch tiefer in dem Muff, während ihr Blick über die traumhafte, wie verzaubert wirkende Schneelandschaft schweifte. Sanfte Hügel bargen sich in frischem Weiss. Noch keines Menschen Fuss hatte ihre Ruhe gestört, gleichwohl das eine oder andere Wildtier seine Handschrift durch seine Fährte hinterlassen hatte. So waren des nachts Rehe vorübergezogen und hatten sich Amseln um einen Leckerbissen gestritten. Jetzt, hier draussen in der klaren Luft, allein mit ihren Gedanken und der weiten, weissen Welt um sich herum, bedauerte Christine, dass sie die Rose zerschmettert hatte.

Es dauerte etwas länger als sonst, die ersten zaghaften Ausläufer der grossen Stadt zu erreichen. Francois war nicht selten im Schnee stecken geblieben, da das Gefährt schlicht zu leicht war, um den Schnee nieder zu drücken und zu überwinden können. Francois hatte absteigen müssen, um den Schnee beiseite schaffen zu können. Christine hatte hören können, wie er dabei verhalten fluchte, war aber dezent darüber hinweg gegangen, denn sie wusste, was sie von ihm verlangte.

Die grauen, schweren Wände der städtischen Bauten ermüdeten rasch ihr Auge. Dennoch blieb ihr nichts anderes übrig, als sie anzuschauen. Denn löste sie den Blick, stürzten sofort beklemmende Erinnerungen auf sie ein. Schliesslich stellte sie erleichtert fest, dass sie in die Strasse bogen, an deren Ende die Oper wie ein grosser, finsterer Koloss auf sie wartete. In ihrer Fantasie schien das Gebäude grösser zu werden und mit glutlosen, leeren Augen nach ihr Ausschau zu halten. Wie eine Spinne im Netz, schien es sie zu erwarten, die sich ihrem Opfer gewiss war. Christine hielt unwillkürlich den Atem an, als zuerst das Dach, dann das gewaltige Eingangsportal hinter einer der Häuserecken zu sehen war. Als Francois vor dem gleichwohl wuchtigen, wie prächtigen Gebäude anhielt, schien es ihr, als entschwinde die Welt unter ihr. Sie konnte die Beine nicht bewegen und rang plötzlich nach Luft, als sie bemerkte, dass sie vor beginnender Panik beinahe vergessen hätte, einzuatmen. Dann sprang ihr Diener vom Kutschbock und streckte ihr eine Hand entgegen, die Christine dankbar erfasste. Ohne seinen festen Griff, wäre sie vermutlich gestolpert und unsanft gefallen, sosehr zitterten ihre Beine, als sie ausstieg.

Sie drückte Francois ein paar Münzen in die Hand. "Fahre zuerst zu Madame Giry und schau, ob sie zu Hause ist. Wenn ich bis dahin nicht hier bin, erwarte mich in dem Café dort. Ich weiss nicht, wie lange ich fort sein werde!"

"Madame", sagte Francois, während er sich verbeugte.

Christine schenkte ihm keine weitere Beachtung mehr. Sie hob den Kopf, um die Figuren über dem gewaltigen Eingangsportal zu betrachten. Sie schienen sie aus ihren blinden Augen anklagend anzustarren. Christine unterdrückte ein Schaudern und ging raschen Schrittes auf die schweren, geschlossenen Türen zu. Enttäuscht stellte sie schnell fest, dass sie auch abgeschlossen waren. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als durch den hinteren Eingang Einlass zu suchen. Sie verliess den Vorplatz und wandte sich nach links. Hier wurde die Oper beliefert und das Tor stand erwartungsgemäss offen. Ein Warenhändler wickelte gerade eine Lieferung ab, an der schwere, fast mannshohe Kisten beteiligt waren.

Christine kam es seltsam vor, wieder durch dieses Tor zu schreiten. Ihre Bewegungen waren langsam, als ginge sie durch Watte. Jedes kleine Detail fiel ihr sofort ins Auge. Die schadhafte Stelle in dem schweren Tor aus groben Holzbalken, das einmal einer der Winzer, die die Oper mit Wein belieferten, mit seinem Wagen hineingefahren hatte. Die gewaltigen Türangeln, die so standhaft wirkten, als könnten sie noch Jahrhunderte überstehen. Dann das geschäftige Treiben von Mägden und Dienern, die damit beschäftigt waren, die schweren Kisten abzuladen. Christine schritt durch all das hindurch, als nähme man sie gar nicht wahr. Als befände sie sich auf einem Flur, der Glasscheiben statt Wänden hatte, die von der anderen Seite verspiegelt waren, sodass man sie nicht sehen konnte. So einen Spiegel hatte es auch in der Garderobe gegeben. Durch diesen hatte er sie des Nachts besucht, wenn sie gemeinsam mit der Bühne in tiefen Schlaf versunken war. Christine erinnerte sich nur schleierhaft an jene Besuche, aber deutlich genug, um zu wissen, dass sie sich dennoch danach sehnte.

Ja, sie hatte es genossen! Die verzauberte Musik, die er in ihrem Schlaf um sie wob. Seine Berührungen, wenn er sie an der Hand nahm und sie mit sich zog. Seine zärtlichen Finger in ihrem Gesicht. Ein heisser Schauer durchströmte ihren Leib und Christine war sich vage bewusst, dass sie heftig errötete und senkte rasch den Blick, obgleich niemand auf sie achtete.

Sie erreichte die gegenüber liegende Wand und ging daran entlang, bis sie die kleine Tür erreichte, die ins Innere der Oper führte. Niemand begegnete ihr auf dem Weg zu den Garderoben, wo auch, wie sie wusste, die Treppenstiege hinunter in die Kellergewölbe war. Ihr fiel ein, dass Carlotta wieder die Stelle der ersten Sopranistin eingenommen hatte, nachdem sie selbst die Oper verlassen hatte. Soweit Christine wusste, hatte es nicht lange gewährt. Carlottas Stimme hatte doch sehr unter dem Anschlag gelitten, durch den Christine zur ersten Sängerin aufgestiegen war. Man hatte sie ein Jahr später höflich aber bestimmt abserviert. Seitdem war es ruhig um die alternde Giudicelli geworden.

Christine kam jetzt an den Umkleiden für die Ballettmädchen vorbei. Auch hier war es ruhig. Ein Umstand, der nicht verwunderte, denn das hektische Treiben, das Christine noch von ihrer Zeit an der Oper Populaire her kannte, würde erst um die Mittagszeit einsetzen. So früh am Morgen war hier eigentlich selten jemand gewesen. Madame Giry war des öfteren zu früher Stunde hier unterwegs gewesen. In welchen Angelegenheiten auch immer. Christine hatte sie niemals danach gefragt.

Unterdessen schlug ihr vor Aufregung das Herz bis zum Halse hinauf. Sie hörte es in der Stille, die sie in dem morgendlichen Theater umgab, laut klopfen und wunderte sich insgeheim, dass es sonst niemand anderes tat. Dort war die Tür zur Garderobe der ersten Sopranistin. Christine blieb vor der Tür stehen und atmete tief ein. Sie zitterte am ganzen Leib vor Aufregung und konnte sich doch nicht überwinden, die Türklinke auch nur zu berühren. Ihr kam es vor, als hätte sie bereits Stunden dort im Halbdunkel gestanden und auf die Türklinke gestarrt, als sie von rechts leise Schritte hörte. Warum hatte sie Madame Giry niemals nach dem Grund ihrer morgendlichen Anwesenheit in diesem Teil der Oper gefragt? Sie öffnete rasch die Tür und schlüpfte in das dunkle Zimmer dahinter. Kaum hatte sie die schweren Flügel hinter sich geschlossen, gingen zwei Personen aussen vorbei. Christine atmete erleichtert auf, als die Schritte sich gemächlich entfernten. Man hatte sie offensichtlich nicht bemerkt. In der Tat wäre es ihr auch schwergefallen, zu erklären, was sie hier wollte. Mit ein Grund, dass sie Raouls Bitte nachgegeben hatte, die Oper zu verlassen, waren die üblen Gerüchte gewesen, mit der man fortan ihre Person in Verbindung brachte.

Ausser Meg hatte Christine letztendlich niemandem mehr vertraut. Nicht einmal deren Mutter, die sie wie ein eigenes Kind grossgezogen hatte. Christine zog die Einsamkeit vor, was viele der anderen Mädchen nicht hatten verstehen können. Und da Christine in der Hektik der Oper das nicht finden konnte, was sie suchte, fiel es ihr um so leichter Raoul nachzugeben und sich zurück zu ziehen. Wieder kehrten ihre Gedanken zu der Frage nach Madame Girys Grund, allmorgendlich hier herumzuwandern zurück. Was hatte sie hier gewollt?

Christine sah sich zweifelnd in dem kleinen Zimmer um. Was wollte sie eigentlich hier? Irgend jemand hatte vergessen eine der Lampen zu löschen, sie flackerte nur noch und würde rasch erlöschen, drehte niemand den Docht höher. Christine tat es und betrachtete den seltsam vertraut und doch ungewohnt wirkenden Raum genauer im nun hellen Licht. An der Wand gegenüber der Tür befand sich noch immer der schwere, goldgerahmte Spiegel. Davor stand jetzt aber ein Schminktisch, auf dem allerlei Utensilien herum standen. Ein vager Hauch irgendeines unerträglich blumigen Parfums lag noch in der Luft und verursachte Christine leichte Kopfschmerzen. Neben dem Tisch standen mehrere geöffnete und halb geöffnete Schrankkoffer, aus denen mehr oder weniger prächtige Gewänder quollen. Rechts an der Wand stand eine Maßpuppe, an der ein halbfertiges Kleid hing. Christine vermochte nicht zu erraten für welche Aufführung dies wohl gedacht war. Auf der anderen Seite stand wie gewohnt der alte schwere Eichenholzschrank mit den herrlichen Schnitzereien. Er war am oberen Ende schwarz geworden, wo das Feuer gierig an seinem Holz gezehrt hatte. Offensichtlich war er neben dem Spiegel das einzige Möbelstück des Zimmers, das vor den Flammen gerettet werden konnte.

Christine fühlte hinter sich nach dem Schlüssel der Tür und fand ihn auch tatsächlich im Schloss steckend. Rasch drehte sie ihn zweimal um und zog ihn aus dem Schloss. Sie verstaute ihn in ihrem Handbeutel und schritt nun bedächtig, fast widerwillig auf den Spiegel zu. Als sie an dem alten Schrank vorüberkam, strich sie im Vorbeigehen über die Schnitzereien, wie sie es schon so oft getan hatte, als noch Carlotta hier residierte. Der neue Schminktisch war eine nur noch als hässlich zu bezeichnende Monstrosität. Christine legte ihren Muff beiseite und versuchte ihn seitlich wegzuschieben, aber er widerstand dem Versuch. Die junge Frau richtete sich auf und betrachtete den Tisch mit einem linkischen Blick. Ärgerlich blies sie sich zwei Haarsträhnen aus der Stirn. Das bedeutete wohl, dass sie ihn zunächst würde aufräumen müssen. Sie nahm die vielen Fläschchen und Tiegelchen und warf sie achtlos auf den Diwan, der in der Ecke stand. Sie klirrten ein wenig, als sie aneinander stiessen, aber Christine bezweifelte, dass es jemand ernsthaft hätte hören können. Nachdem sie damit fertig war, zog sie die Schubladen heraus und stellte sie beiseite. Endlich konnte sie das schwere Möbelstück unter grosser Anstrengung zur Seite schieben, gerade weit genug, dass sie sich daran vorbeiquetschen konnte. Sie legt ihre zitternde Hand auf die kühle Glasfläche und verharrte so, lauschend, ob jemand sie gehört hätte. Aber um sie herum herrschte absolutes Schweigen, das nur von ihrem eigenen Herzklopfen durchbrochen wurde, welches ihr in den Ohren unnatürlich laut schallte. Dann griff sie mit der anderen Hand an den oberen Rahmen und tastete nach dem kleinen Vorsprung, der den Mechanismus bediente. Sie drückte ihn und hörte hinter dem Spiegel ein leises Klicken. Noch einmal zögerte sie kurz, heftig atmend, bevor sie das schwere Glas des Spiegels beiseite schob.