Scheinbar hatte der Rollmechanismus unter dem Feuer und den Jahren gelitten, denn die Spiegelscheibe liess sich nur sehr schwer bewegen. Christine musste beide Hände nehmen und dann blieb die Schiebetür auch noch auf halben Wege unbeweglich verklemmt stecken. Christine hörte auf, sich abzumühen und starrte die Spiegeltür an, als wolle sie sie im nächsten Augenblick einschlagen. Dann seufzte sie ergeben und drückte sich durch den schmalen Spalt, der gerade gross genug dafür war. Dennoch blieb ihr Rock an einem Vorsprung des Goldrahmens hängen und ein grosses Stück Stoff riss heraus. Christine pflückte es verärgert herunter und steckte es zu dem Schlüssel. Nun folgte das weitaus schwerere Unterfangen, sie musste die Tür wieder schliessen, falls doch jemand auf den Gedanken kam sich mit dem Generalschlüssel Zugang zu dem Raum zu verschaffen. Christine nahm die Lampe vom Tisch und stellte sie zu sich auf den Boden.

Ihr Blick fiel dabei auf einen merkwürdig dunklen Fleck am Boden. Es schien, als hätte hier vor kurzem noch etwas Kleines gelegen, denn der Staub lag an dieser Stelle nicht so dicht. Furcht kletterte auf sanften Füsschen ihren Rücken hinauf. Sie spähte den Gang hinab. Spinnweben hingen von der Decke und versanken wenige Schritt weiter hinten im undurchdringlichen Dunkel. Wenn hier etwas gelegen hatte, das jemand weggenommen hatte, der von diesem Gang wusste, dann musste das wohl doch schon länger her sein, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Christine beruhigte sich wieder ein wenig, konnte jedoch nicht verhindern, dass ihr Herz jetzt wie verrückt in ihrer Brust hämmerte. Was geschehen würde, würde man sie entdecken, daran wollte sie lieber vorerst nicht denken.

Nach einigen vergeblichen Versuchen gab sie es auf an der Schiebetür zu zerren. Die sass unwiderruflich fest und würde sich vermutlich nicht wieder so einfach bewegen lassen. Christine seufzte und nahm die Lampe auf.

Irgendwo musste einer der vielen Zugänge verschüttet worden sein. Früher war hier ein frischer Lufthauch zu spüren gewesen. Jetzt aber stand die Luft unerträglich still. Christine öffnete ihren warmen Mantel, was ihr aber in der stickigen Luft nur wenig Linderung brachte. Da Christine schon als Kind in der Oper gelebt hatte, machten ihr die vielen Spinnweben und Spinnen nichts aus, die eilig davon huschten, sobald das Licht sie fassen wollte. Christine bahnte sich ungerührt einen Weg durch ihre jahrealten, grazil gewebten Fangnetze.

Minutenlang ging sie leicht nach vorn gebeugt, um zu verhindern, dass sich allzuviele Weben in ihrem Haar verfingen, den Gang entlang. Auf bedrückende Weise schlich sich das Bild einer unterirdisch gelegenen, ägyptischen Grabkammer vor ihr geistiges Auge. Sosehr sie sich auch bemühte, es zu verdrängen, so wenig wollte es ihr gelingen. Mit jedem Meter, den sie in der Dunkelheit zurücklegte, schien es an Klarheit zuzunehmen.

Sie folgte dem Weg, der nur ihr bekannt sein konnte. Nur einmal hatte er sie hier herunter geführt, dennoch schien es ihr in ihrer Erinnerung, als wäre es unzählige Male gewesen. Jetzt ohne seinen starken Schutz an ihrer Seite fühlte sie sich merkwürdig verletzlich und deplatziert. Damals hatte sie seine geborgene Umarmung umfangen, als sie gemeinsam hier entlang gingen. Seine zärtlich, feste Hand hatte sie gestützt, wenn sie strauchelte. Christine spürte wieder, wie die Erregung ihr in die Wangen schoss. Sie fragte sich, wie es wohl wäre, diese Berührung jetzt in diesem Augenblick zu spüren! Fast erschien es ihr, als bräuchte sie sich nur umzudrehen und er würde wie damals einen halben Schritt hinter ihr stehen und ihr sein warmes Lächeln schenken. Sie konnte nicht anders, sie musste es einfach tun! Mit einem erwartungsvollen Lächeln wandte sie sich um und fand eine spinnwebenverhangene Mauer hinter sich. Das Lächeln erstarb und sie liess entmutigt eine Hand an der Wand entlanggleiten, wobei sie die Weben herunterriss.

"Wieso hast du mich verlassen, mein Engel der Musik?" flüsterte sie leise. Das Flüstern wurde dumpf von der langgestreckten Flucht an Gängen zurückgeworfen und schien sie völlig zu umgeben. "Du hast es selbst so gewollt!", flüsterte das Echo leise und unbarmherzig. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie stehen geblieben war. Völlig verblüfft spürte sie Tränen in den Augen. Sie schluckte ein paar mal und wehrte diese furchtbar quälenden Gedanken ab. Nicht hier... das hier war nicht der richtige Ort. Sie wischte sich über die Augen und atmete einmal tief durch. Sie durfte jetzt nicht versagen. Sie musste stark bleiben und weitergehen!

Plötzlich endete abrupt der enge Gang. Eine grosse Halle öffnete sich und sie betrat einen weiten Gang. An dieser Stelle hatte ein schwarzer Hengst auf sie gewartet. Wieder traten Christine die Tränen in die Augen. Jeder Schritt, den sie hier unten tat, war, wie ein Schritt weiter zurück in die Vergangenheit und tiefer hinab in die Erinnerungen. Die Erinnerungen, die sie auf den Grund ihrer schmerzerfüllten Seele verbannt hatte. Jetzt tauchte der Name des Hengstes aus dem Meer der bitteren Wahrheit und schwamm an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Cäsar, hatte er ihn genannt. Wie er zu ihm gekommen war, hatte Christine niemals erfahren. Auch nicht, was aus ihm geworden war.

Cäsar war ein herrliches Tier gewesen. Schwarz wie die Nacht und eine weiche Mähne bis auf die Kniegelenke hinab, wie einen Schleier aus feiner Seidenspitze. Eine Träne rollte Christine übers Gesicht, als sie daran dachte, mit wieviel Liebe ihr Engel der Musik Silberfäden in das weiche Haar des Pferdes geflochten hatte, sodass es im goldenen Licht der Kerzen schien, als bestünde es aus reinem, fliessenden Silber. Nichts kündete davon, dass es einmal gelebt hatte. Niemand, ausser Christine vermochte Zeugnis davon ablegen, dass es dieses herrliche Tier jemals gegeben hatte.

Diese zwang sich standhaft, weiterzugehen, auch wenn sich ihr Inneres schmerzhaft verkrampfte. Sie wollte sich nicht erinnern und doch sehnte sie sich zugleich danach. Ja, sie wollte sich erinnern, wollte im Glühen seiner leidenschaftlichen Augen baden, wollte sich seinen brennenden, zärtlichen Fingern hingeben. Niemals hatte Raoul mit einer seiner zaghaften Berührungen ihr solche Wonneschauer bereiten können, wie sie jetzt allein bei der Erinnerung an die Leidenschaftlichkeit der Hände ihres Engels empfand. Zugleich verspürte sie einen süssen Schmerz bei dem Gedanken daran, wie unschuldig diese geblieben waren.

Christines Züge wurden von einem Moment auf den anderen hart. Mit versteinertem Gesicht setzte sie ihren Weg fort. Er hatte sie bis zu jener schicksalhaften Nacht niemals bedrängt. Wie sollte sie ihm verzeihen, dass er so grausam gegen sie gewesen war? Wie sollte sie ihm verzeihen, dass er sie noch immer nicht ruhen liess? Nicht einmal der Tod hatte ihn von seiner Besessenheit heilen können. Er narrte sie mit Trugbildern und spielte mit der schmerzhaften Erinnerung, die in ihr schlummerte, bereit, sie in ihren Träumen zu quälen. Christine ballte die Hand, die nicht die Lampe trug, so fest zur Faust, dass ihre Knöchel weiss hervortraten und die Nägel sich tief in ihr Fleisch gruben. Ein wenig Blut sickerte daraus hervor. Sie bemerkte es nicht einmal.

Sein Gesicht zog vor ihrem inneren Auge vorbei, wie die tristen, trostlosen Mauersteine des Ganges. Mal lachend, mal schmerz- oder wutverzerrt. Plötzlich musste sie an Raoul denken. Sein liebes, weiches Gesicht, in welches sie sich schon als Kind verliebt hatte. Seine grossen, knabenhaften Augen. Christine musste erneut die Tränen niederkämpfen. Den enttäuschten, schmerzerfüllten Ausdruck darin, wenn er erführe, was sie gerade tat, würde sie nicht ertragen können, dachte sie verzweifelt. Hatte sie vorhin gedacht, Raoul wäre nicht leidenschaftlich gewesen? Sie hasste sich beinahe für diesen Gedanken. Raoul war immer zärtlich zu ihr gewesen. Er hatte stets gegeben, niemals gefordert. Christine stiess ein Schluchzen aus, dann reckte sie in einer verzweifelten, schmerzerfüllten Bewegung den Kopf.

"Ist es das, was du wolltest?" schrie sie aus Leibeskräften in die schweigende Dunkelheit jenseits des Lampenlichts. Obwohl ihr nichts anderes, als das verzerrte Echo ihrer eigenen Stimme in der stickigen Luft antwortete, schrie sie weiter ihre entsetzliche Verzweiflung hinaus. "Wie konntest du mir das antun? Was habe ich dir je getan, dass du mich so bestrafen wolltest?" Sie hielt heftig atmend inne und musste schlucken, um nicht laut aufzuschluchzen. Plötzlich rannte sie den Gang entlang.

Es war, als könnte sie sich dadurch von ihren qualvollen Gedanken befreien, als blieben die bitteren Erinnerungen hinter ihr zurück. In ihren Gedanken sass sie wieder auf dem ruhigen Rücken von Cäsar. Das Klappern seiner Hufe dröhnte gleichmässig von den massiv gemauerten Wänden wider und frischer Wind liess die weiche Mähne flattern, die Christine wie ein zarter Schleier einhüllte und geborgen hielt. Christine warf die Arme hoch in die Luft und ihr Mantel flatterte in die Dunkelheit davon. Befreit von der schweren Last, rannte sie noch schneller. Seitengänge flogen vorbei, während sie versuchte ihren unbarmherzigen Gedanken davon zu rennen.

Um ein Haar wäre sie in das dunkle Wasser der Katakomben von Paris gestürzt, in denen der Gang der Oper endete. Sie konnte sich gerade noch abbremsen und kam schlitternd zum stehen. Christines Brust hob und senkte sich unter schweren Atemzügen, ein Zeichen der Anstrengung. Ihre Haare klebten ihr an der Stirn und ihr war unglaublich heiss. Ihre Hand meldete sich jetzt mit einem leicht pochenden Schmerz. Sie musste sie beim Rennen noch fester zusammengedrückt haben. Dunkelrotes Blut quoll aus den aufgeplatzten Wunden hervor, wo ihre Fingernägel ihr ins Fleisch geschnitten hatten. Christine starrte fassungslos darauf und verspürte doch keinen wirklichen Schmerz. Fasziniert beobachtete sie, wie das Blut langsam in das Wasser hinabtropfte und sich dort in schwarzen, kleinen Wirbeln zerstreute.

Ein merkwürdig verzerrtes Lachen drang durch das Rauschen ihres eigenen Blutes, an ihr Ohr. Die junge Frau hob lauschen den Kopf und stellte höchst erstaunt fest, dass sie selbst die Quelle dieses irren Lachens war. Es war, als hätte sie einen Schritt zur Seite gemacht und beobachtete sich selbst ruhig von der Seite. Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen und lachte. Ja es schüttelte sie direkt vor Lachen. Sie streckte die Hand nach der Wand aus, um sich daran abzustützen, denn ihr wurde nun schwarz vor Augen. Das enge Mieder und die Atemlosigkeit nach dem anstrengenden Laufen forderten ihren Preis. Christine benötigte einige Minuten, um sich wieder in den Griff zu kriegen. Nachdem sie aufgehört hatte zu lachen, schien die entmutigenden Dunkelheit noch dichter an sie heran zu rücken. Das einzige Geräusch neben ihren noch immer hektischen Atemzügen war das stete Tropfen, wo etwas Wasser durch eine schmale Ritze im Gemäuer der Decke hereindrang. Christine fuhr sich mit dem Ärmel ihres Kleides über die Stirn. Mit spitzen Fingern klaubte sie die Haarsträhnen aus dem Gesicht, die im kalten Schweiss daran festklebten. Dann holte sie noch einmal tief Luft und zupfte das Oberteil ihres Kleides wieder zurecht, dass durch die ungewohnte Bewegung des Rennens deutlich verrutscht war.

Schließlich fühlte sie sich bereit, weiterzugehen. Tiefer hinab. Weiter in die Dunkelheit ihrer Erinnerung hinein. Früher einmal hatte es hier eine kleine, wunderschön und prunkvoll verzierte Barke aus schwarzem Holz gegeben. Christine erwartete nicht, dass sie noch da sein würde. Sie zog umsichtig die Schuhe aus und entledigte sich ihrer Strümpfe. Dann streckte sie den linken Fuss ins Wasser. Es war eisigkalt. Wo es die nackte Haut berührte begann diese sofort wie unter tausenden Nadelstichen zu prickeln. Christine verzog das Gesicht und setzte tapfer den zweiten Fuss hinterher. Drei Stufen watete sie in das Wasser hinein, bevor der Schmerz in ihren Füssen unerträglich wurde. Sie biss sich auf die Lippe und wollte sich gerade zwingen, ihren Rock, welchen sie umsichtig hochgehoben hatte, endgültig durch den nächsten Schritt zu durchnässen, als sie einen kantigen Schatten hinter einem Felsvorsprung bemerkte. Erleichtert seufzend sprang sie aus dem Wasser heraus und zog sich hastig die wärmenden Strümpfe wieder an. Kein Wunder, dass die kleine Barke noch da war. Sie war von oben nicht zu sehen und gerade so versteckt, dass man sie sehen konnte, bevor man komplett ins Wasser stieg.

In Christine tauchte der leise Zweifel darüber auf, ob das Boot zufällig dahin geraten war. Ein anderer Gedanke schwamm nebelverschleiert durch die Wirren ihrer Empfindungen, aber sie weigerte sich, ihn anzunehmen.

Nach längerem Suchen fand sich sogar die Gondolieren-Stange, mit der ihr Engel das kleine Boot geführt hatte. Christine lief ein eisiger Schauer den Rücken hinab, als sie das schwarze Holz ergriff. Hatten nicht seine Hände einst dies berührt? War nicht noch etwas von seinem Geist hier? Hier unten in der Dunkelheit? Christine sah sich nervös um. Doch sie war allein. Allein mit ihren Gedanken und Erinnerungen, wie sie es gewollt hatte. Entschlossen packte sie die Führungsstange fester und lenkte die Barke zu sich. Das Gold war verstaubt und schimmerte nur noch wenig. Aber das war es nicht, was Christines ganze Aufmerksamkeit bannte.

Als das Boot langsam, stückweise aus dem Dunkel auf sie zuglitt, enthüllten die weichenden Schatten eine Botschaft für sie. Christine konnte nicht fassen was sie sah. Sie musste rasch zugreifen, bevor die Barke von der seichten, aber doch spürbaren Bewegung des Wassers aus ihrer Reichweite getrieben wurde. Die junge Frau beugte sich weit über die Stufen, die auf den Boden des unterirdischen Kanals hinabführten, und zog sie zu sich heran. Dann erst bemerkte sie die Kette, welche das Boot hielt und schimpfte sich in Gedanken einen Narren. Wie hätte es wohl auch sonst dort auf sie warten können?

Denn dass es sich noch aus genau diesem Grund dort befand, darüber bestand kein Zweifel mehr, man hatte eine Botschaft für sie hinterlassen. Christine lenkte ihren Blick darauf zurück und fühlte einen eisigen, aber angenehmen Schauer den Rücken hinunterrinnen. Auf dem Platz, an dem sie gesessen hatte, als das Boot, scheinbar wie von selbst durch ihre finstere Märchenwelt, die ihr Engel für sie gewebt hatte, glitt, lag eine gläserne Rose. Sie war ganz mit Staub bedeckt, der ihren Glanz trübte und bleich aussehen liess. Auch die schwarze Seidenschleife war mit Staub bedeckt und kaum noch als solche zu erkennen. Sie wirkte matt und müde im nun unsteten Licht der Lampe. Christine nahm sie auf und blies fast liebevoll den Staub davon herunter. Dann führte sie die kühle, gläserne Blüte an die Lippen und küsste sie. Ein warmer Schauer durchströmte ihren Körper, denn ihr war, als wären es seine Lippen gewesen. Sie hielt die Augen geschlossenen und versuchte diesem verwirrenden Strom an Empfindungen nachzuspüren. Irgendwo fand sie bei ihrer Suche Zorn und das schwache Echo halb vergessenen Hasses, aber beides wurde von einem übermächtigen Gefühl verdrängt, dass sie nun fast gänzlich erfüllte. "Ich komme!" flüsterte sie mit ersterbender Stimme.

Noch immer mit geschlossenen Augen machte sie einen Schritt in das Boot hinein und wusste, dass sie nicht fallen würde. Nicht heute, nicht hier! Christine öffnete die Augen und stiess sich mit aller Macht ab. Die Barke glitt in die Mitte des Wasserkanals und begann rasch zu treiben. Die nächsten Minuten war Christine damit beschäftigt, das Boot unter ihrer Kontrolle zu halten. Eine innere Unruhe hatte sie erfasst und ihren Bauch mit hunderten, aufgeregt flatternden Schmetterlingen gefüllt. Je weiter das kleine Gefährt sie brachte, desto grösser wurde ihre Unruhe. Plötzlich fragte sie sich, was sie sagen sollte, was sie tun sollte.

Eine dunkle Hand schnürte ihr die Kehle zu, als eine Frage in ihr aufkam. Sollte er das tosende Inferno, das der niederbrechende Kerzenlüster in der Oper entfacht hatte, wirklich unbeschadet überstanden haben? Waren die verzehrenden, zerstörerischen Flammen niemals bis hierher vorgedrungen? Ein greller Funke vager Hoffnung glomm jäh in ihrem Herzen auf. Er wischte Raoul fort und alles, was jemals gewesen war. Christine hörte nur noch die Stimme ihres Engels, seinen flehenden Nachtgesang, mit dem er sie rief und dem sie freiwillig gefolgt war. Ja, auf dessen schwarzen Schwingen sie nun endlich hierher zurückkehrte. Zurückkehrte an den Ort der Gezeiten.

Unwillkürlich öffnete sie den Mund und begann ihr gemeinsames Lied zu singen. Als das Echo den schönen, verzauberten Klang ihrer Stimme, den sie allein ihm verdankte, der sie gelehrt hatte, von den Wänden widergeworfen wurde, war es, als hätte es die vergangenen Jahre in Bitterkeit niemals gegeben. Sie wusste, schlösse sie jetzt die Augen, würde sie seinen Duft wahrnehmen, könnte sie seinen heissen Atem in ihrem Nacken spüren, seine Hände auf ihrem Haar. Sie stockte. Das Boot brachte sie mit dem letzten Ton ihres Liedes in eine kalte, verlassene Höhle, irgendwo tief in den Katakomben unter der Oper. Dünn und einsam verstummte das letzte Echo ihrer Stimme in den ungekannten Höhen der Höhle.

Der Glanz, den Christine aus ihrer Erinnerung in sich trug, hatte diesen Ort schon vor langer Zeit verlassen. Der goldene Schimmer war vergangen und hatte nur trostloses Schweigen zurückgelassen. Christine stakte ihr Gefährt zu den Stufen, an denen es auch früher schon angelegt und sie wieder auf festen Boden entlassen hatte.

Jähes Entsetzen presste schmerzhaft ihr Herz zusammen, als sie sah, dass hier alles verbrannt war. Die Orgel stand in ihren Trümmern da und würde niemals wieder ein Lied für ihren Herren spielen. Mit Tränen in den Augen liess Christine ihren Blick über die zu Asche verbrannten Werke ihres Engels gleiten. "Vergib mir!" flüsterte sie tonlos, als sie das Ausmaß der Zerstörung erfasste. Hier hatten sich einst hunderte Schriften getürmt. Unzählige Lieder und Melodien waren mit ihnen einen erbarmungslosen Feuertod gestorben. Hier und da schauten kleine Überreste mit vergessenen Worten aus der Asche hervor. Christine konnte den Schmerz nicht mehr aushalten. Fassungslos liess sie die Lampe auf einen steinernen Vorsprung sinken und stieg die wenigen Steinstufen zu der Orgel empor, während ihr unablässig Tränen aus den Augen brachen. Hier war nichts geblieben, ausser blinde, tonlose Vernichtung.

Der Geist, der diesen, für sie heiligen Ort einmal beseelt hatte, war für immer erloschen. Verstört nahm sie eine Fackel auf, die mitten auf den einst wunderschön gefertigten und nun verkohlten Tasten der Orgel lag. Entsetzen durchflutete sie und schwemmte jede andere Empfindung einfach fort. Laut schluchzend liess Christine das Zeugnis menschlicher Gewalt und Grausamkeit fallen und brach vor der Orgel wimmernd zusammen.

"Vergib mir! Oh bitte vergib mir, mein Engel der Musik. Vergib mir, was ich dir angetan habe!" Mehr konnte sie nicht mehr sagen. Immer wieder. Nur diese Worte. Und endlich spürte sie, wie etwas in ihr brach, das eigentlich schon immer gebrochen war. Unaufhaltsam rannen Tränen ihr Gesicht hinab, Tränen, die sie schon immer geweint hatte, seit jener Nacht, in der sie die Hand verriet, die sie am meisten geliebt hatte. Das wusste sie nun. Sie hatte ihn geliebt. Und er hatte sie auch geliebt. Das wurde ihr hier inmitten der Zerstörung mit niederschmetternder Macht bewusst. Er hatte sie mehr geliebt, als seine Musik. Eine tiefe Liebe, deren Schmerz und Verzweiflung in Mord und Grausamkeit ihre Erfüllung und seiner Musik ihre Stimme fand. Christine weinte noch lauter. Der Schmerz des Verlustes schien ihr das Herz zu zerreissen. "Vergib mir", schluchzte sie haltlos. "Ich bitte dich um Vergebung!"

Wie lange sie da auf dem eisigen Steinboden gelegen und Tränen vergossen hatte, wusste sie nicht. Ihre Stimme versagte und ihre Augen brannten. Sie wusste nicht wohin sie sich wenden sollte. Für sie schien es nun keinen Platz mehr auf dieser Welt zu geben. "Oh Erik", sagte sie tonlos. "Du warst bereit mir einen Platz in deinem Leben zu gewähren und ich habe ihn in blinder Selbstsucht verschmäht. Wie soll ich dich jemals dafür um Verzeihung bitten?" Sie blickte sich hoffnungslos in der trostlosen Höhle um. In ihrer Hand fand sie die gläserne Rose, die in dem Schiff gelegen hatte. Sie war in zwei Teile zerbrochen und etwas Blut ihrer verletzten Hand war auf die Blüte gefallen. Wieder brannten Christine heisse Tränen in den Augen. Sie presste das zarte Gebilde an sich, als könne es ihr den Trost bringen, den sie nur aus seinen Armen empfangen konnte.

Erneut verstrichen unsagbar schreckliche Minuten, in denen Christine leise vor sich hinflüsterte und weinte. Sie nahm die zerbrochene Rose und legte sie auf die Orgel. Der Ort, an dem Erik sein Lied für sie erschaffen hatte. Das Seidenband hatte sie verloren. Sie griff sich in die Haare und löste das Seidenband, das sie fünf Jahre bewahrt hatte, wie einen Schatz und legte es neben die Rose. Eine Träne von ihr fiel dabei auf die Rose und glitt wie ein Tautropfen daran herab. Christine betrachtete den kleinen Schrein, den sie für ihren geliebten Engel errichtet hatte und war nicht fähig sich davon abzuwenden.

Wie sollte sie mit dieser Schuld weiterleben? Selbstsüchtig und selbstgerecht hatte sie sein Leben zerstört, welches er so selbstlos ihr gewidmet hatte. Wieder griff die Verzweiflung nach ihrem Herzen und presste es gewaltsam zusammen. Sie hatte die Liebe durch ihn kennen gelernt und war zu blind gewesen, um dies zu erkennen. Sie hatte ihn mit beiden Händen von sich gestossen. Keine Strafe der Welt konnte sie diesen Verrat erschöpfend sühnen lassen. Und die schlimmste war, dass sie nun leben musste, einsam, ohne ihn, dessen Liebe ihrer Stimme Flügel verliehen hatte.

Bevor sie der Schmerz nochmals übermannen konnte, wandte sich Christine nun doch ab. Ihr war schwindlig und bunte Flecken tanzten vor ihrem Augen. Kaum hatte sie sich umgedreht, flog der Kopf abermals herum. Ihr Blick saugte sich an dem schwarzen Seidenband fest, das sie aus ihren Haaren gezogen hatte.

Wie von selbst tastete ihre Hand in ihren Handbeutel und fand darin ein anderes Seidenband. Schwarz wie die Nacht. Es glich dem ersten, wie ein Zwilling. Hoffnung erwachte mit ungestümer Macht in ihr. Wer, wenn nicht Erik, sollte ihr dies überbracht haben? Wer hatte die Rose ins Boot gelegt und es so geschickt versteckt, dass nur sie es finden konnte? Er hatte gewollt, dass sie hierher zurückkehrt. Er hatte gewollt, dass sie diesen Ort fand. Warum? Christine schluckte und wischte sich mit dem Ärmel über die verquollene Nase. Die Antwort musste sich hier irgendwo finden lassen. Irgendwo hier unten, in seinem Reich!

Mit weit aufgerissenen und noch immer brennenden Augen ergriff die junge Frau die Lampe und schwenkte sie umher, während sie versuchte ihre Augen überall gleichzeitig zu haben, ein kleiner Lichtschimmer in der undurchdringlichen Dunkelheit.

Hier war nichts heil geblieben, das eine Botschaft an sie hätte enthalten können. Christines Enthusiasmus sank rasch, als sie erkannte, wie sehr die Leute der Oper hier gewütet hatten. Sie hatten alles niedergebrannt. Teppiche, Vorhänge, Noten und Manuskripte, einfach alles. Plötzlich entdeckte sie in einer geräumigen Nische das wundervolle, wie ein Schwan geformte Silberbett. Den roten Samt und die Daunenkissen hatte das Feuer nicht verschont und der einstmals so prächtige Silberschwan war russgeschwärzt und dunkel angelaufen von der feuchten Luft, die hier unten herrschte, seit man die anderen Zugänge alle zugemauert hatte. Aber er war noch deutlich zu erkennen.

Christine ging mit hastigen Schritten zu ihm hinüber. Die schwarzen Vorhänge, die das Bett sonst vor den Blicken bewahrten waren verbrannt. Aber ein Spiegel ganz hinten an der Wand, hinter dem Schwan hatte das Feuer scheinbar unbeschadete überstanden. Christine wischte den Staub von der erblindeten Oberfläche und betrachtete dann ihr bleiches Gesicht, von dem sich die rotgeweinten Augen scharf abhoben. Der Spiegel hing nicht richtig an der Wand, wie sie zunächst angenommen hatte. Er stand leicht schräg nach hinten angelehnt. Warum wusste sie nicht genau, aber sie neigte ihn, einer plötzlichen Regung folgend weiter nach hinten und erstarrte. Im Spiegelbild sah sie, dass eine gläserne Rose direkt über ihr hing. Sie blickte nach oben. Auch diese Rose war von jahrealtem Staub bedeckt. Zwischen dem Seidenband, an dem sie aufgehängt war und der Decke hatte eine eifrige Spinne zwischenzeitlich ein Netz gewoben und wieder verlassen. Nun wusste Christine, dass sie hier richtig war. Sie wusste nur nicht genau, wo sie jetzt noch suchen sollte. Sie blickte zurück in den Spiegel und liess ihre Augen über das schweifen, was sie noch darin sah. "Gib mir dein Geheimnis preis!" flüsterte sie, als könne der Spiegel ihr antworten.

Es war schwierig, denn in ihrem Kopf wirbelten alle Gedanken in heillosem Durcheinander wirr herum, ohne, dass sie in der Lage gewesen wäre diese auch nur annähernd zu ordnen. Dann stutzte sie. Sie schaute sich nochmals genau das Bild an und wandte sich mehrmals dabei um. Etwas war anders an der Wand hinter ihr, sie konnte nur nicht gleich erkennen, was das war.

Dann sah sie es und fragte sich, wie sie es hatte übersehen können. In die vom Feuer geschwärzte Wand waren Worte geschrieben worden. So direkt waren sie kaum zu erkennen und auch nur im Spiegel klar zu lesen.

Das Gesicht, das du siehst,

ist nichts, als eine Maske!

Christine blinzelte verwirrt. Was meinte er damit? Sie starrte in den Spiegel, ohne ihn wirklich zu sehen. Sollte das eine Anspielung auf sein abstossendes Gesicht sein? Aber sie hatte doch schon hinter die Maske gesehen, sonst wäre sie wohl kaum hier. Christin liess verzweifelt den Spiegel los und kam sich furchtbar klein und verlassen vor. Er klirrte ein wenig, als er an die Wand stiess und zog damit ihren Blick wieder auf sich.

Und plötzlich war ihr klar, was die Botschaft zu bedeuten hatte. Sie sah sich um, konnte aber kein geeignetes Werkzeug entdecken. Also ging sie zurück zu der Orgel und suchte da. Schliesslich fand sie die Fackel, die sie so achtlos zur Seite geworfen hatte. Sie wog sie abschätzend und begab sich dann zum Spiegel zurück.

"Das Gesicht, das du siehst", sagte sie laut, während sie sich in die gespiegelten Augen schaute und die Fackel hob. "Ist nichts", sie holte weit aus, "als eine Maske!" Mit dem letzten Wort liess sie die Fackel auf die glatte Oberfläche des Spiegels niedersausen. Mit einem hellen, lauten Klirren zersplitterte er. Christine hob den Arm, um ihr Gesicht vor den umherfliegenden Splitterchen zu schützen. Sie warf die Fackel mit einer schwungvollen Bewegung fort und senkte den Arm wieder.

Inmitten der tausendfach funkelnden Spiegelscherben lag ein Briefumschlag. Ein grosses Siegel in Form eines Totenkopfs zierte die Rückseite und vorne stand in kühn geschwungenen Lettern ihr Mädchenname: Christine Daaé.