Meine geliebte Christine,

wieviel mag es Dich gekostet haben, auf Deinen Erinnerungen hier hinab zu steigen. Ich wage nicht, zu erraten, wie lang der Weg Dir erschienen sein mag. Und doch bist Du nach all der Zeit endlich freiwillig zu mir gekommen und alle Worte dieser Welt vermögen nicht zu beschreiben, wie glücklich mich das macht. Vielleicht ist es das einzige Glück, dass ich mit Dir auf dieser Welt teilen darf.

Bitte vergiesse nicht Deine Tränen um meinetwillen, denn ich habe Dir entsetzliches Leid angetan. Für diesen Fehltritt muss ich mit einem einsamen Leben bezahlen, was mich schlimmer als tausend Tode quält. Doch ertrage ich es in der Gewissheit, dass Du Dein Glück in den Armen eines anderen gefunden hast, der Dir mehr auf dieser Welt zu bieten vermag, als einsame Schatten und die Musik der Nacht.

Vielleicht hörst auch Du in den stillen Stunden der Nacht noch leise unsere Melodie in Deinen Erinnerungen. Ich trage sie in meinem Herzen an jenem Ort, der Dich niemals vergessen kann. Ich weiss Du hast das Glück gefunden und suchst nicht mehr danach, so erbitte ich nur dies von Dir.

Vergiss! Vergiss alles was war. Vergeude nicht Dein Leben in den Gedanken an die Vergangenheit. Lassen wir gemeinsam die Geister ruhen, die Dich heute hier herunter führten. Lass den Vorhang fallen über die Maske, damit die Welt sie vergessen kann. Scheine ich Dir nah, so sollst Du wissen, dass Du träumst und dass ich nicht ferner Dir sein könnte. Du hast nichts von mir zu befürchten, das verspreche ich Dir!

Lebe das Leben, welches ich Dir nicht geben durfte! Ich beneide den Mann, der Dich an seiner Seite weiss, er ist ein wahrlich gesegneter Mann. Mögen die Engel des Himmels über seine Zuneigung wachen und Dich an meiner Statt in den Schlaf wiegen. Verzeih mir meine Fehlbarkeit, ich war gefangen in einem silbernen Käfig aus Liebe und dem Wissen, dass diese Liebe niemals Erfüllung finden darf.

Erik

Christine hob den Kopf, das Papier in ihren Händen zitterte. Tränen tropften auf die zierliche Rose, die unter den Namen gezeichnet war. Eine gradstilige Rose, von deren Blüte fünf Blätter heruntergefallen waren. Erik. Nichts weiter. Kein Abschiedsgruss. Nur sein Name. Christine presste den Brief an sich, wie eine Ertrinkende das rettende Holz. Die Zeit schien still zu stehen, während sie ihren Schmerz verzweifelt in die trostlose Dunkelheit hinausschrie.

"Erik?" Meg erreichte den obersten Absatz der hölzernen Stiege. Wie immer klangen die Worte hier oben im Dachgebälk merkwürdig gedämpft, als würde der jahrzentealte Staub sie in sich aufnehmen. Sie zog den zweiten Fuss nach und blieb stehen, während sie sich umschaute. Das Licht der Lampe in ihrer Hand zitterte ein wenig. "Erik?" fragte sie noch einmal in das Schweigen hinein. Irgendwo störte das hastige Trippeln einer Ratte die Stille. Meg verzog das Gesicht und löste sich nur zögernd von dem scheinbar sicheren Schutz des groben Treppengeländers. Plötzlich schnarrte ein seltsamer, beängstigender Laut neben Meg durch die Luft. Sie erschrak und fuhr herum, wobei ihr fast die Lampe herunter gefallen wäre. Eine Taube blickte sie aufmerksam und scheu an. Sie blinkerte ein wenig mit den Augen, aber als die junge Frau näher herantrat breitete das Tier behäbig seine plumpen Flügel aus und liess Meg allein zurück. Diese seufzte, wandte sich wieder um und folgte dem langgestreckten Dachboden, darauf bedacht nicht mit dem Kopf an dem niedrigen Gebälk anzustossen. Die Luft war so trocken, dass Meg bald die Augen tränten und der Staub sie husten liess.

Nach mehreren ähnlichen Treppen und Stiegen erreichte sie endlich die luftige Plattform von der aus sich einem Betrachter die ganze Stadt zu Füssen ausbreitete. Meg sog scharf Luft ein. Wie lange war sie schon nicht mehr hier gewesen? Woher sollte sie die Gewissheit nehmen, dass er diesen Ort noch immer aufsuchte? Nicht, dass Meg nicht gewusst hätte, wo sein Domizil lag. Doch ging sie lieber hoch hinauf, als tief hinunter.

Sie trat an den Rand der Brüstung heran und spähte ein wenig runter. Von hier oben wirkten die Leute auf dem Vorplatz klein und unbedeutend. Schneidender Wind fuhr ihr unangenehm zerrend durch die Haare, sodass Meg sich rasch wieder abwandte. Er musste einfach hier irgendwo sein. Früher, schon wenige Wochen nach der Nacht des Don Juan, pflegte er hier des Tags die Stille und die Einsamkeit zu suchen. Meg seufzte. Anfangs war sie nur selten und nur gemeinsam mit ihrer Mutter hierher gekommen, die sich regelmässig mit ihm traf. Meg schauderte. Sie erinnerte sich, dass wenige Tage nach der Nacht, in der ein Feuer die Oper fast zerstört hatte, ihre Mutter sie mit sich zu einem langen Spaziergang nahm. Sie erzählte ihrer Tochter von Erik. Von seinem Schicksal bei den Zigeunern und der Flucht, welche in den Kellergewölben der Oper geendet hatte. Meg erfuhr, dass er das Leben nur kannte, wie es sich innerhalb der Mauern der Oper abspielte. Madame Giry erklärte ihrer Tochter, was es mit der Maske auf sich hatte, die sie in der Grotte unterhalb der Oper an sich genommen hatte.

Meg glaubte sich zu erinnern, einmal so etwas wie Mitleid empfunden zu haben. Als ihre Mutter am Fieber erkrankte, bat sie Meg, ihn an ihrer Statt zu besuchen und ihm Gesellschaft zu sein. Ihre Tochter fügte sich dem mütterlichen Wunsch zunächst widerstrebend. Doch schon bald entdeckte sie, dass er durchaus ein warmes, herzliches Wesen besass. Man sah ihm jeden Tag an, wie sehr er unter der Verbannung litt, die ihm die Nacht des Don Juan aufnötigte. Dennoch sprach er niemals darüber und Meg fand keine Notwendigkeit, zu fragen.

Es war ein sehr stürmischer Tag gewesen. Meg erinnerte sich, wie tief die dunklen Wolken eines Unwetters über der still daliegenden Stadt gehangen hatten. Er stand von ihr abgewandt an einen der steinernen Wasserspeier gelehnt und starrte in die Weite des dräuenden Himmels, während der Wind in seinem schwarzen Mantel spielte. Meg hatte sich ein Herz gefasst und war zu ihm getreten. Er hatte sich nicht gerührt, nicht einmal, als sie ihre kleine Hand auf die seine legte.

Plötzlich hatte er die Hand weggezogen und ihr das halb von der Maske bedeckte Gesicht zugewendet. "Was willst du?" hatte er sie so schroff gefragt, dass Meg erschrocken zurückwich. Seine Augen hatten drohend gefunkelt und Meg hatte nichts weiter getan, als mehrmals zu einer Erklärung anzusetzen, die dann doch niemals über ihre Lippen gekommen war.

"Ich habe dich niemals gebeten herzukommen", hatte er gesagt, den Blick immer noch auf ihr verständnisloses Gesicht geheftet.

"Ich bin nicht Christine, nicht wahr?" hatte sie gefragt, nachdem sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. "Wieso verschliesst du dich so vor der Welt?"

"Erwähne diesen Namen niemals wieder", hatte er leise erwiderte und ihr dabei in die Augen gesehen.

"Erik, was sinnst du über Vergangenem? Sie ist gegangen und wird niemals wieder zu dir zurückkehren. Sie ist nicht dein Spielzeug. Wir alle sind es nicht, begreifst du das denn nicht?" Meg hatte ihn nicht verletzten wollen, aber seine feindselige Ablehnung, obwohl sie ihm nur ein Freund hatte sein wollen, traf sie mit einer ungewohnten, eisigen Kälte, die sein Wesen nun überschattete.

"Geh!" hatte er plötzlich so zornig geschrien, dass Meg entsetzt von ihm weggestolpert war. Er hatte einfach nur dagestanden und sie kalt gemustert. Als der Regen einsetzte, war Sie geflohen. Vor diesem entsetzlich stechenden Blick, vor der kalten Wut, die deutlich in den sonst so weichen Augen gestanden hatte.

Kurz darauf war ihre Mutter dem Fieber erlegen und hatte Meg eine schwere Bürde hinterlassen. Man hatte Meg gebeten, die Stelle ihrer Mutter an der Oper als Ballett-Leiterin zu übernehmen. Lange Zeit hatte sie sich dagegen gesträubt, denn sie glaubte, dass die Oper ohne ihre Mutter nicht mehr dasselbe sein würde. Ausserdem hatte Christine ihr im Vertrauen mitgeteilt, dass sie auf Raouls Drängen hin ebenfalls der Oper den Rücken kehren würde. So war Meg schließlich ganz allein dort zurück geblieben. Was hätte sie auch sonst anfangen sollen.

Über die Zeit des Umbaus hinweg, hatte sie Erik seltener gesehen und wenn, war deutlich zu spüren gewesen, dass er sich von ihr zurück gezogen hatte. Sein warmes Lachen erklang überhaupt nicht mehr. Mit ihren Geschichten von den unmöglichen Einfällen der Ballettmädchen, die ja noch gar nicht soviel jünger waren, wie sie selbst, hatte sie ihm nur manchmal ein leichtes Schmunzeln entlocken können. Ansonsten hatte es eher den Anschein gehabt, dass er sie kaum wahr nahm.

Eines Tages hatte er dann plötzlich verkündet, er würde eine Reise unternehmen und sie bräuchte sich keine Sorgen zu machen, er würde Christine nie wieder behelligen.

"Du willst Paris verlassen?" hatte sie erstaunt gefragt.

"Ich hatte immer gehofft... nein ich wage nicht, dies auszusprechen! Das Schicksal hat es mir anders bestimmt, wie schon so oft. Und diese ehrwürdigen Steine", er wies auf die Wasserspeier, die stumm und mit starrem Blick auf dem Sims jenseits der Brüstung thronten, "sie sind meine Zeugen, dass ich es nicht ertragen kann, sie an der Seite dieses Mannes zu sehen!"

Meg hatte damals nichts zu erwidern gewusst, genauso wenig, wie sie jetzt, drei Jahre später wusste, was sie überhaupt sagen sollte. Sie ging die ganze Plattform ab, ohne ein Zeichen von ihm zu entdecken. Im grunde war sie sich nicht sicher, ob sie darüber erleichtert oder besorgt sein sollte. Gerade wollte sie dieses scheinbar sinnlose Unterfangen aufgeben, als seine leise, ruhige Stimme neben ihr erklang. Meg musste sich beherrschen, nicht einen Satz zur Seite zu machen, so sehr hatte sie sich erschreckt.

"Was willst du hier?" fragte er teilnahmslos. Er stand so, dass Meg nur seine Maske sehen konnte. Dadurch war es unmöglich für sie zu erraten, in welcher Gemütsverfassung er sich befand.

"Ich bin gekommen, um...", Meg versagte die Stimme und sie begann nervös auf und ab zu laufen, während sie fieberhaft überlegte, was sie ihm sagen wollte.

"...um was?" hakte er nach. Ein schwacher Schimmer von Interesse glomm in seinen Augen auf, von dem die junge Frau nicht wusste, was sie halten sollte.

"Es geht um Christine", brachte Meg schließlich gerade heraus. Es war verblüffend, wie schnell sich der Ausdruck in seinem Gesicht veränderte. Für den Bruchteil einer Sekunde stand deutlicher Schmerz in seinen Augen, dann verengten sich diese zu Schlitzen und ein bedrohliches Glitzern liess sie dunkel funkeln.

"Habe ich nicht gesagt, du sollst diesen Namen nicht mehr erwähnen?" fragte er leise, fast drohend.

Meg Giry spürte, wie ihre Knie weich wurden. Dennoch hielt sie sich standhaft an der Brüstung aufrecht und zwang sich, mit fester Stimme weiter zu reden. "Du hast auch gesagt, du würdest sie aus deinem Bann entlassen!"

Erik zuckte zusammen, wie unter einem Peitschenhieb. "Das habe ich auch getan", erwiderte er schmerzerfüllt. Er hatte annähernd zwei Jahre gebraucht, um über den Verlust hinweg zu kommen. Unzählige Länder hatte er in dieser Zeit, stets im Schutz der Dunkelheit bereist und doch war keines entfernt genug, um vor dem Schmerz davon laufen zu können. Er hatte eingesehen, dass er die Vergangenheit nur in Paris hinter sich bringen konnte, deshalb war er entgegen seinen ursprünglichen Plänen überhaupt zurück gekehrt. "Bist du gekommen, mich mit den Erinnerungen zu quälen? Meinen Glückwunsch, es ist dir gelungen!"

Meg hielt verwirrt in ihrem Laufen inne, dann wurde sie zornig. "Versuche nicht, mich zu belügen, Erik!" schleuderte sie ihm wütend entgegen. Sie riss den Arm hoch und deutete grob in die Richtung, in der das Anwesen des Grafen deChagny liegen musste. "Bist du dir eigentlich im Klaren darüber, was du ihr antust?"

"Was?" Im ersten Augenblick schien er aufrichtig verwirrt über Megs Worte. Dann wechselte die Verwirrung zu beginnender Erkenntnis. "Ich musste doch etwas tun. Sie darf keine Tränen für mich vergiessen, Meg. Ich glaubte, ich würde das richtige tun."

"Das Richtige?" Ihre Stimme überschlug sich beinahe. "Erik, du hast sie an den Rand des Wahnsinns gebracht! Nennst du das vielleicht das Richtige?" Sie hatte ihr Laufen wieder aufgenommen, aber als sie ihn jetzt von der Seite her sah, schnitt es ihr ins Herz. In seinen Augen stand Fassungslosigkeit und er wirkte jetzt ganz und gar nicht mehr bedrohlich. Im Gegenteil. Er sah aus, wie ein Mann, dessen Herz gebrochen war.

Es dauerte lange, bis er seine Stimme wiederfand. Seine Lippen zitterten und seine Hand fuhr ihm unbewusst durchs Haar. "Es tut mir so leid", murmelte er betroffen. "Bitte sage ihr, dass ich ihr nichts Böses wollte. Ich...", er zögerte, "sag ihr, dass ich mich an die Worte des Briefes gebunden fühle und dass", er schluckte, "sage ihr, dass ich nie wieder in ihr Leben treten werde!" Dann drehte er sich mit einer hastig wirkenden Bewegung um und eilte davon.

Meg war so verblüfft, dass sie eine Weile brauchte, bis sie begriff, was er eben gesagt hatte. Brief? Was für ein Brief denn? Hatte sie ihn übersehen, als sie Christine vor einigen Stunden im Haus deChagny zurückliess? Ohne viel Hoffnung, lief sie durch den Schnee dorthin, wo er hinter einer Ecke verschwunden war. Dort aber war nichts ausser eisigem Wind, der ihr beissend ins Gesicht blies und einem alten Wasserspeier, von dessen Maul ein Eiszapfen herunter hing. Von Erik war keine Spur mehr zu sehen!

Christines Stimme brach und das Schreien ging in einem erstickten Krächzen unter. Ihre Augen brannten und ihre Wangen glühten von den ungezählten Tränen dieses Tages. Aber ihr war es egal. Die Welt war nun leer und einsam. Kein Platz für sie, kein Platz für ihre Liebe. Sie fühlte sich ausgestossen. Sie hatte ihn ein zweites Mal verloren und das Glück hatte seine Pforten endgültig vor ihr verschlossen.

Eine leise Stimme in ihrem Inneren begann eine zarte Melodie anzustimmen. Christine hielt inne und lauschte dem sanften Lied.

Vielleicht hörst auch Du in den stillen Stunden der Nacht noch leise unsere Melodie in Deinen Erinnerungen. Ich trage sie in meinem Herzen an jenem Ort, der Dich niemals vergessen kann.

"Oh Erik", flüsterte sie gequält. "Wie kannst du von mir verlangen, was du nicht für dich selbst verlangen kannst?" Sie fuhr sich über die Nase und spürte, wie sie sich allmählich beruhigte, während das Lied lauter und lauter in ihr erklang, bis es endlich den Weg über ihre Lippen fand.

Engel der Muse, führ und leit mich

dann wird mein Weg klar sein!

Christine sah auf den Brief in ihren Händen hinab. Der Blick fand die gezeichnete Rose unter dem Namenszug. Etwas daran kam ihr bekannt vor, doch entschlüpfte ihr der Gedanke, bevor sie ihn richtig fassen konnte. Neben ihr funkelten die Glassplitter im flackernden Licht der Lampe. Es dauerte eine Weile, bis die Tatsache, dass ihr plötzlich ein frischer Luftzug um die Nase wehte, bis in ihre Gedanken vordrang. Rasch faltete sie den Brief zusammen und lauschte mit angehaltenem Atem, was ihr im Augenblick reichlich schwer fiel. Nein. Stimmen waren keine zu hören.

Plötzlich drängte sich ihr die quälende Frage auf, wieviel Zeit vergangen sein mochte, seit sie hier herunter gekommen war. Christine stand auf, darum bemüht, sich nicht an einem der hunderten Splitterscherben zu schneiden. Im ersten Augenblick konnte sie das Gleichgewicht nicht ganz halten und bunte Flecken narrten sie in der Dunkelheit. Aber der frische Lufthauch schien ihre Sinne zu beflügeln. Da war er. Der Gedanke, der ihre Trauer fortwischte, wie ein sommerlicher Regenschauer die Spur des gejagten Wildes auszulöschen vermochte. Erik lebte. Sie musste ihn nur finden, um die Vergangenheit Lügen zu strafen! Leben durchströmte ihre Glieder und sie fühlte neuen Mut in ihrem Herzen erwachen.

Eilig nahm sie die Laterne auf. Als sie an der Orgel vorbei kam, fiel ihr Blick auf die zerbrochene Rose. Sie nahm das Seidenband auf und flocht es sich wieder in die Haare. Niemals würde sie dies wieder hergeben. Es war ihr kostbarer, wie jeder Diamant, der für Geld zu erstehen war.

"Raoul, war ich nicht mehr für dich? Eine Puppe, die man mit Zierrat schmückt und ausstellt zur Freude anderer?" dachte sie unerwartet ärgerlich, überrascht, welch bitteren Nachhall diese Worte in ihrem Geiste hinterliessen.

Sie bestieg das Boot und hatte es eilig, die bedrückende Halle zu verlassen, die ihr in den dunkelsten Stunden ihres Lebens hatte zur Seite stehen müssen. Christine erschauerte, als sie daran dachte, wieviele Jahre, Erik hier zugebracht hatte, bevor jemand anderes, als die schweigende Finsternis in sein Leben getreten war. Diesmal musste sie die kleine Barke gegen die Strömung steuern, was sich als unendlich schwieriger herausstellte, wie beim Hinweg.

Mein Engel, bitte gib mich nicht auf,

die Tränen liegen fern, nun fahre ich hinauf,

ich eile auf den Schwingen der Nacht heran,

komme von dort, wo unser Lied einst begann,

ich muss nur deine Stimme finden,

sie wird mir den rechten Weg ergründen.

Folge ich deinem Lied der Nacht,

das dein Geist nur für mich gemacht,

kann mich kein Schritt mehr fehl leiten,

so will ich diesen Weg beschreiten

ich weiss, kein Leid kann mir geschehen,

habe ich erst dein Herz gesehen,

schreckt die Maske das meine nicht mehr

mein Engel, ich liebe dich so sehr!

Sie erreichte den grossen Gang. Als sie gerade das Boot wieder vertäut hatte, hörte sie laute Stimmen. Es kam jemand von oben den Gang herab! Christine sah sich gehetzt nach einem Versteck um. Aber es war zu spät. Die schmalen Gänge waren viel zu weit, als dass sie noch einen von ihnen hätte erreichen können, bevor die Leute, die da kamen, sie zwangsläufig würden sehen müssen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als Schutz in der Dunkelheit jenseitig des Wassers zu suchen.

Wie zuvor biss ihr die Kälte des Wassers in die Beine, als sie eilig hineinwatete, ängstlich nach einem Versteck Ausschau haltend. Endlich fand sie eine Nische, die sie vor den Augen der Leute schützen konnte, die nun den Ablegeplatz erreicht hatten. Den Stimmen nach zu urteilen, waren es drei Leute und eine davon kam ihr unangenehm bekannt vor.

"Was'eh soll das bedeuten, dass'eh sie nicht wissen, von 'eh wem der Mantel ist?" Christine wurde es abwechselnd heiss und kalt. Sie hatte den Mantel völlig vergessen, den sie im Gang zurück gelassen hatte!

"Signora, wir versichern Ihnen, dass wir dies Rätsel so schnell als auch möglich aufzuklären gedenken!" Christine war sich nicht sicher, aber das musste einer der beiden Direktoren sein. Die erste Stimme war zweifellos die von Carlotta Giudicelli. Christine fragte sich, wann sie zur Oper zurückgekehrt war, nachdem sie doch ihre Stimme verloren hatte.

"Ah, das ist nicht genug, Monsieur!" verliess sich jetzt eine zweite Frauenstimme vernehmen.

"'Ören Sie was Angelette sagt?" das war wieder Carlotta. "Wie konnt'eh überhaupt'eh jemand in den Garderobe eindringen?"

"Signora Giudicelli, Mademoiselle Muette, ich versichere..."

"Ah, ah, ah", unterbrach Carlotta den Direktor in ihrer unnachahmlich arroganten Art. "Keine Ausflüchte, Monsieur!"

"Selbstverständlich nicht, Signora", erwiderte der Direktor, in dessen Stimme jetzt eindeutig ein beleidigter Tonfall lag.

"A'a!" Carlotta schien aufgebracht, was wirklich keine Seltenheit bei ihr war. "Sie 'aben uns'eh versprochen, diese ganze Gänge mit Mauer zu 'eh verschliessen! Und nun? Nun se'eh sie, dass eine Gang nicht verschlossen und, dass 'eh jemand in Garderobe meiner Nichte geht ein und aus!"

Christine ging ein Licht auf. Diese Angelette war die Nichte der Giudicelli und sie war die neue erste Sopranistin der Oper. Das hatte Meg niemals erwähnt, wenn sie von der Oper sprach.

"Und vergessen Sie nicht Monsieur", warf Angelette ein, "welch tragisches Missgeschick Madame Avatar geschehen ist!" Sie hatte eine unangenehm hohe Fistelstimme. Christine konnte sich nicht vorstellen, dass sie auf der Bühne eine besonders gute Figur abgab.

So langsam wurde ihr die unangenehme Situation bewusst, in der sie sich befand. Ihre Zehen begannen bereits taub zu werden und ihr Unterrock war schon völlig durchnässt. Wenn die beiden Damen mit ihrem Direktor nicht bald abzogen, würde sich Christine hier den Tod holen. Ihr neugewonnener Mut sank in den Keller.

Scheinbar hatte die junge Mademoiselle Muette ein heikles Thema angesprochen, denn der Direktor holte zischend Luft. "Mademoiselle brauchen sich nicht zu ängstigen! Wir werden Ihnen sofort ein neues Zimmer suchen, welches Ihnen genehm erscheint, Mademoiselle!" Christine rollte mit den Augen. Der überschlug sich ja fast vor Galanterie. Gänsehaut raste über ihre Arme und sie spürte, wie die Taubheit bei den Beinen ankam.

Aber das Glück schien mit ihr zu sein, denn die Stimmen der drei schienen sich nun endlich zu entfernen. Dennoch wartete Christine noch einige Minuten, bis auf das entfernte Platschen des einsamen Wassertropfens nichts mehr zu hören war. Erst dann hastete sie steifbeinig zurück zu den Anlegestufen. Ihre Beine waren bläulich verfärbt und eiskalt. Sie konnte jetzt nicht mehr verhindern, dass ihre Zähne klappernd aufeinander schlugen. Hastig zog sie sich Schuhe und Strümpfe aus und begann damit, ihre Beine zu massieren. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder soviel Gefühl hatten, dass sie das Blut spürte, wie es schmerzhaft prickelnd durch die Adern schoss. Christine verzog das Gesicht und überlegte, wie sie jetzt das Beste aus dieser misslichen Situation machen konnte.

Francois würde bald unruhig werden, wenn sie nicht langsam zu ihm zurück kehrte. Sie konnte es aber nicht riskieren, dass man nach ihr suchte. Und schon gar nicht, dass man hier nach ihr suchte! Mit der Giudicelli hatte sich Christine nie besonders gut verstanden und das Weibsbild verstand es sehr wohl eins und eins zusammenzuzählen. Nein, Christine musste sehen, dass sie sobald, wie möglich von hier verschwand!

Sie musste wohl oder übel versuchen einen anderen Ausgang zu finden. Ihren Mantel würde sie wohl nicht wieder bekommen. Sie fragte sich, wie sie das erklären sollte. Siedend heiss fiel ihr auch ein, dass sie ihren Muff in der Kabine hatte liegen lassen. Wie konnte sie nur so ungeschickt und gedankenlos sein?

Die nächsten Stunde irrte sie in den unterirdischen Gängen und Katakomben umher. Verzweifelt musste sie sich bald eingestehen, dass die Arbeiter der Oper ihre Arbeit gründlich gemacht hatten. Nicht einer der anderen Ausgänge war mehr offen. Wo sie nicht eingestürzt waren, waren sie fein säuberlich mit Sandstein und Mörtel zugemauert worden. Christine kämpfte tapfer die Panik nieder, die leise durch ihren Körper rann. Irgendwo musste doch ein Ausgang sein? Sie fühlte sich auf beklemmende Art an ein Kaninchen in der Falle erinnert.

Sie rannte einen Gang hinab und prallte mit jemandem zusammen, der leisen Schrittes aus einem der Seitengänge heraustrat. Christines Herzschlag setzte vor Schreck aus und sie verlor das Bewusstsein. Wie lange sie ohnmächtig war, vermochte sie nicht zu sagen. Das erste, was sie wieder wahrnahm war ein herbes Parfum, das ihr bekannt und fremdartig zugleich in der Nase kitzelte. Sie musste niesen.

"Gesundheit!" sagte eine trockene Stimme, die ihr allerdings sehr vertraut vorkam. Christine war mit einem Schlag hell wach. Meg beugte sich über sie und sah sehr missgelaunt aus.

"Meg... ich...". Ja was eigentlich? Christine kam sich furchtbar dumm vor. Ihre Kleider klebten unangenehm nass an ihren Beinen. Sie trug keine Strümpfe mehr in den Schuhen und ihr Gesicht musste von dem stundenlangen Weinen noch immer ganz verquollen sein. Sie wollte gar nicht wissen, was die Freundin gerade von ihr dachte.

"Christine, warum hast du das getan?" Meg sah wirklich besorgt aus. Sie musterte Christine eingehend und natürlich blieben ihr die Spuren der letzten Stunden nicht verborgen. "Was um Himmels Willen hast du hier unten gesucht? Was hast du zu finden geglaubt?"

"Zum ersten Mal seit fünf Jahren sehe ich wirklich klar! Ich musste hierher kommen? Hier liegt die Antwort auf all die Fragen. Ich", Christine holte tief Luft, bevor sie weiter sprach, "ich bin schon immer hier gewesen, verstehst du?"

Meg sah ihre Freundin lange an, ohne zu antworten. Dann seufzte sie und richtete den Blick auf das Gangende, das sich in der Dunkelheit verlor. "Ich habe es geahnt und gefürchtet. Ich wusste, dass er dich eines Tages wieder in seinen Bann ziehen würde!"

Christine zögerte, etwas darauf zu erwidern. Ihr war nicht ganz klar, wen Meg mit "er" meinte, den Ort, oder den Geist, der ihn einst beseelte. Schliesslich schüttelte sie den Kopf. "Welcher Zauber auch immer einst hier herrschte, er ist vergangen. Unwiderruflich!"

"Er ist an jenem Tag zusammen mit der Musik der Nacht verklungen", bestätigte Meg abwesend. Sie fragte sich, was Christine hier getrieben haben mochte und ob sie gefunden hatte, wonach sie suchte.

Die horchte bei Megs halb gemurmelten Worten auf. "Was weißt du von der Musik der Nacht?" fragte sie mit einem schärferen Unterton, als sie eigentlich beabsichtigt hatte.

"Das ist jetzt nicht wichtig", erwiderte Meg ausweichend. "Wir sollten sehen, dass wir dich von den nassen Sachen da befreien, du holst dir ja noch den Tod!" Sie zerrte Christine an der Hand hinter sich her, während sie den Weg zu ihrem Zimmer einschlug. Sie hatte nicht lange gebraucht, um heraus zu finden, welche der Wege noch offen und welche verschlossen worden waren. Nun fand sie sich in dem Labyrinth an Gängen zurecht, wie kein anderer. Ausser vielleicht Erik selbst, dachte sie schaudernd und beeilte sich noch ein bisschen mehr, die Dunkelheit hier unten hinter sich zu lassen.