Kapitel 1
"Gabrielle, wo
sind die verdammten Demotapes?"Eine Tür knallt, Schritte
stürmen die Treppe hinauf, dann klopft es laut, und noch bevor
sie antworten kann, dröhnt die Stimme direkt hinter ihr "Ich
hatte dir doch gesagt, du sollst verdammtnochmal den Karton mit den
Bändern auf meinem Schreibtisch stehen lassen!"Ihr Stift kritzelt
rasend schnell über das leere Papier und unterstreicht den
letzten Satz doppelt.
Demotapes
- Hörsaal. Wie immer!
Ein entnervtes
Grollen, dann wird die Tür zugeknallt. Kopfschüttelnd setzt
sie ihre Kopfhörer wieder auf und stellt die Musik lauter.
Hoffentlich nimmt er diese Shea Gawaine. Die Stimme der Frau hat
Feuer und ihre Technik ist gar nicht mal so übel.
Mit geschlossenen
Augen sitzt er eine halbe Stunde später im vollständig
dunklen Hörsaal und lauscht den Stimmen aus den Lautsprechern.
Hin und wieder drückt er mit unzufriedenem Gesichtsausdruck auf
die Fernbedienung, um zum nächsten Track zu spulen oder aufs
nächste Band umzuschalten.
... Langweilig...
... talentfrei...
... uninspiriert...
... schrecklich...
... er erstarrt und
erhöht zögernd die Lautstärke. Diese Stimme hat nicht
viel Qualität, weder im Ausdruck noch in der Technik und doch...
klingt sie nicht schlecht - alles andere als das... Irritiert erhebt
er sich von seinem Platz und geht zum nächsten Lautsprecherturm
hinüber. Er beugt sich vor, bis er die Schallwellen als leichte
Luftstöße auf seinem Gesicht spüren kann. Seine
rechte Hand beginnt, sich um seinen Hals zu schließen, während
seine linke die Lautstärke erhöht, bis seine Ohren zu
schmerzen beginnen und er die gesamte Anlage mit einer rüden
Bewegung abschaltet.
"Lad die hier
ein." befiehlt er kurz und legt Gabrielle ein einzelnes Tape vor
die Nase.
Fragend hält
sie einen Finger hoch.
"Misch dich
nicht ein. Ich bekomme dieses Mädchen für die Aufnahme,
oder ich stoße den Auftrag wieder ab." Damit verlässt
er das Büro wieder und zieht sich in sein Kellerzimmer zurück,
um über dem Plan für ein Kurzfilmprojekt zu brüten.
Mit einem ergebenen
Seufzen nimmt Gabrielle das Tape und liest den Namen: Julie Deniaud.
Nie gehört.
Sie schaut kurz
zwischen Tonband und Tür hin und her. Das kann er nicht ernst
meinen.
"Genie und
Wahnsinn." grummelt sie sarkastisch. Eine einzige Einladung für
eine Audition. So etwas hat er sich noch nie geleistet.
Lucas' Gesicht wirkt
blass und angespannt, als er Julie vom Sofa aus mustert.
Sie kennt diesen
Blick ganz genau. Typischer Fall von 'Eigentlich solltest du ein
schlechtes Gewissen bekommen.'
Stirnrunzelnd wendet
sie sich wieder dem Honigglas zu und stochert mit ihrem Messer darin
herum, bis sie auch die letzten Reste herausgekratzt und auf ihr Brot
gestrichen hat.
"And all the
girlies say I'm pretty fly for a white guy", singt sie laut mit The
Offsping im Radio.
"Julie
bitte... du hast geradeschon drei Honigbrote gegessen. Wie kannst du seelenruhig
noch so ein Ding in dich hineinstopfen, nachdem du mir so etwas
erzählt hast?"
Sie wirft ihm einen
kurzen Blick über die Schulter zu.
"Im
Moment bin ich bloß dabei, es zu schmieren." entgegnet sie
kopfschüttelnd. Fast sieben Jahre und er regt sich noch immerüber ihre
Vorliebe für Honig auf - nur weil er selber das Zeug nicht ausstehen
kann. Manchmal fragt sie sich wirklich, wie sie es so lange mit ihm
ausgehalten hat.
Lucas stöhnt
und presst die Fingerspitzen gegeneinander.
"Komm bitte her
und setz dich zu mir. Ich finde, wir sollten darüber reden."
Reden?
Bah! Wenn sie das schon hört. Alles will er bereden... nein,
eigentlich will er ihr alles ausreden.
Warum kann er nicht einfach einsehen, dass sie eine erwachsene Frau
ist, die ihre eigenen Entscheidungen treffen kann.
"Ich finde
nicht, dass es da etwas zu bereden gibt." Nachdem sie das Radio
ausgeschaltet hat, nimmt sie ihr Brot und setzt sich zu ihm aufs
Sofa. "Ich werde nach Belgien fliegen und dort vorsingen. Wenn
alles gut geht, unterschreibe ich den Vertrag und habe endlich eine
wirkliche Chance, bekannt zu werden. Ich verstehe nicht, warum dich
das so aufregt!" Genüsslich beißt sie in das Brot und
schmatzt Lucas ins Ohr.
Der wirft ihr einen
bösen Blick zu.
"Ich sehe es
kommen, wir werden uns wochenlang nicht sehen. Belgien... Das sind
sechs Flugstunden. Ich glaube wirklich nicht, dass ich dich für
mehr als ein paar Tage begleiten kann." Er verzieht das Gesicht.
"Und überhaupt. Diese ganze Idee ist vollkommen
schwachsinnig. Irgendein Europäer ruft deine Agentin an und
faselt etwas von Filmmusik, und du hast nichts Besseres zu tun, als
gleich zu springen!" Besorgt streicht er Julie eine Locke
hinters Ohr.
Sie schiebt sich den
letzten Rest ihres Brotes in den Mund und sieht Lucas mit großen
Augen an.
"Er
ist nicht irgendein
Europäer, Lucas. Momentan gehört er mit John Williams und
Danny Elfman zu den gefragtesten Komponisten in der Filmbranche."
Sie steht auf, geht zu ihrem CD-Regal und wirft Lucas einen
Soundtrack zu. Natürlich fängt er nicht und die CD landet
auf dem hellen Laminatboden. Julie setzt sich zurück auf ihren
Platz, während sie beobachtet, wie Lucas die Trackliste und das
Inlay studiert.
"Pf."
macht er dann verächtlich "Der Typ hat doch nicht mal einen
Nachnamen!"
Julie springt auf
und schlägt sich entnervt gegen die Stirn.
"Mein
Gott, Lucas! Das ist ein Künstlername.
Und ich werde diese einmalige Chance nutzen, das kannst du mir nicht
verbieten!" Sie schnaubt ärgerlich "Und jetzt geh ich
packen. Aimée sagte, dass Eriks Assistentin meinen Flug von
Québec bereits für morgen früh umzehngebucht
hat." Damit stürmt sie aus dem Zimmer, um keine weiteren
Einwände hören zu müssen.
"Vergiss
nicht, vorher noch im Internet nachzusehen, ob dir nicht wieder einer
deiner Phanfreunde
geschrieben hat." unkt er ihr nach.
Die Türklingel
entlockt Gabrielle ein Seufzen. Nur eine einzige Einladung zur
Audition. Und er weigert sich noch immer, es vernünftig zu
erklären. Aber gut. Er ist der Komponist, er muss es wissen.
Sie drückt den
Summer und beobachtet, wie eine schlanke junge Frau das Foyer
betritt. Missmutig erhebt sie sich von ihrem Platz und kommt hinter
dem Tresen hervor.
Aufgeregt wischt
Julie ihre schweißnassen Hände an ihrer Jeans ab und
mustert die magere, übernächtigt aussehende Frau vor ihr.
Dann lächelt sie freundlich und streckt ihr eine Hand entgegen.
"Bonjour. Ich
bin Julie Deniaud. Sie hatten mit meiner Agentin telefoniert?"
Gabrielle nickt,
produziert ein mechanisch wirkendes Lächeln und bedeutet dem
Mädchen mit einer Geste, zu warten. Langsam geht sie zur
Steuerkonsole an der Wand und drückt den Knopf, der sie mit
Eriks Zimmer verbindet.
"Was?"
tönt ihr seine angespannt wirkende Stimme entgegen.
Gabrielle streckt
eine Hand in Richtung des Mädchens und schnippt mit den Fingern,
damit es seinen Namen wiederholt.
Julie
zieht eine Augenbraue hoch. Was soll denn das nun? Kann diese Frau
nicht mit ihr reden? Sie kommt sich vor wie ein Arbeitssklave.
Selbst, wenn ihr Gegenüber stumm ist, hat esnoch lange nicht das Recht, so mit ihr umzugehen.
"Julie
Deniaud." faucht sie etwas gereizter als beabsichtigt.
Vielleicht hatte Lucas Recht und dieser Typ ist wirklich ein
exzentrischer Irrer. Welcher andere bekannte Komponist weigert sich
schon, Interviews zu geben oder sich auf Filmpremieren zu zeigen?
Gabrielle nickt
zufrieden und wirft einen Blick auf den Terminkalender auf ihrem
Schreibtisch. Studio 5, natürlich Studio 5. Aber sie
vergewissert sich lieber noch einmal. Seit er dieses Demotape von
Julie Deniaud gehört hat, ist er vollkommen neben der Spur und
sie hat keine Lust darauf, dass er seine irren zehn Minuten schiebt,
weil sie einen Fehler gemacht hat.
Kopfschüttelnd
geht sie zur Verbindungstür links der Rezeption und winkt Julie,
ihr zu folgen.
Die
grollt leise. Wenn das so weitergeht, wird sienoch heute Abend ihren Flug buchen. Irgendwie erinnert sie
die ganze Sache gerade an eine Szene aus der Rocky Horror Show, nur
dass dieses ‚Schloss'eindeutig zu nobel ist, mit seiner Marmorrezeption und all
dem Teakholz. Und die Assistentin hat auch nicht wirklich eine
Ähnlichkeit mit Magenta. Trotzdem würde es Julie nicht
wundern, wenn gleich ein Fahrstuhl aus dem Nichts auftauchen und
einen Kerl in Pumps undStrapsen ausspucken würde.
Die Frau führt
sie durch einen spärlich beleuchteten Gang in einen Raum, in dem
sich nur ein riesiger Spiegel auf der einen und ein Barhocker mit
Mikrofon auf der anderen Seite befinden. Die Wände sind mit
schwarzem Dämmmaterial ausgekleidet - ein Tonstudio.
"So."
Gabrielle bugsiert das Mädchen auf den Hocker, legt ihm kurz die
Hände auf die Schultern und zupft ihm die Haare zurecht. "Keine
Angst; sei lieb zu ihm, dann ist er lieb zu dir."Sie lächelt noch einmal, dann verlässt sie das
Studio, um sich zu Erik zu gesellen.
Julie
wartet ungeduldig, bis die leichenblasse Assistentin sie allein
lässt. Rocky Horror, ganz eindeutig. Diese Frau kann also doch
sprechen, und das mit einer tiefen vollen Stimme, die so rein gar
nicht zu ihrer dürren Gestalt passen will. Vielleicht hüpft
in diesem Haus auch noch irgendwo ihr buckliger Bruder herum. Obwohl
die Frau nicht hässlich ist - ganz und gar nicht. Vielleicht ein
wenig zu sehr darauf bedacht, ihr mädchenhaftes, jungesAussehen auch mit – wahrscheinlich ist sie um die
dreißig - zu bewahren. Julie schneidet eine Grimasse und steht
wieder auf. Warum zur Hölle hängt dieser Riesen-Spiegel im
Studio? Während sie mit gestrafften Schultern davor auf und ab
patrouilliert, summt sie immer wieder den "Time Warp", der
ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen will, seit sie mit der komischen
Angestellten durch den halbdunklen Gang hierher gelaufen ist. Vor
vier Jahren hat sie in einem kleinen Theater in Québec die
Rolle der Columbia gesungen, galt sogar als Geheimtipp der ganzen
Besetzung.
Julie lauscht in
Richtung Tür. Immer noch nichts. Er lässt sie noch länger
warten.
Unsicher macht sie
ein, zwei Steppschritte vor dem Spiegel.
"Well I was
walking down the street just having a think/When a snake of a guy
gave me an evil wink..." Sie lauscht und fährt dann
deutlich lauter und schriller fort: "He shook me up, he took me
by surprise/He had a pickup truck, and the devil's..."
Starr vor Anspannung
sitzt er hinter dem Zweiwegspiegel und starrt auf die Tür. Julie
Deniaud. Sie klang aggressiv. Wenn Gabrielle auch ihr gegenüber
'Dame Freakshow' spielt, wird sie Ärger mit ihm bekommen.
Als sie mit dem
Mädchen das Studio betritt, springt er von seinem Platz auf und
geht geräuschlos dicht an das Glas heran. Klein, blond, grüne
Augen, schmales Becken, schmale Schultern.
Er
nimmt eine Strähne seines schwarzen Haares zwischen die Finger
und dreht sie nervös. Was war es, das er auf diesem Tape hörte?
Julies Ausdruck ist enervierend oberflächlich, ihre Technik
unvollkommen, sie bräuchte dringend Unterricht. Was fällt
ihm nur ein? Er kann keine Aufnahmen mit einer unfertigen Sängerin
machen. Trotzdem sitzt sie jetzt als einzige Bewerberin in seinem
Studio; knappe drei Wochen vor der Deadline.
Als Julie plötzlich
zu singen beginnt, zuckt er zusammen. Sie quietscht herum, Columbias
Strophe aus dem 'Time Warp' von Richard O'Brian.
Ungeduldig wartet er
darauf, dass sie wieder aufhört, doch sein Wunsch erfüllt
sich nicht; im Gegenteil.
"Atemberaubend
schön, nicht wahr?" frotzelt Gabrielle leise und schließt
die Tür hinter sich.
"Sei still."
er beugt sich über das Mikro "Mademoiselle Deniaud. Nehmen
Sie bitte wieder platz."
Die Röte
schießt Julie ins Gesicht.
'Okay, wo ist das
Loch, in dem ich versinken kann?' Sie presst die Lippen fest
aufeinander und schleicht mit gesenktem Kopf auf ihren Platz zurück.
Warum um alles in der Welt hat sie Lucas nicht gebeten, mit ihr zu
kommen? Sie könnte seinen Beistand gerade wirklich gut
gebrauchen. Automatisch tasten ihre Finger nach Lucas' Ring und
beginnen, ihn hin und her zu drehen.
"Entschuldigung."
murmelt sie und rutscht unbehaglich auf dem Barhocker herum. Sielässt von dem Ring ab und zupft ein paar Fäden
aus dem Loch am Knie ihrer Jeans. Zuerst will sie das Fusselknäuel
auf den Boden fallen lassen, doch irgendetwas hält sie davon ab.
Besser sie steckt es in ihre Hosentasche.
Gabrielle kichert
leise, doch Erik bringt sie mit einem Seitenblick zum Schweigen.
"Was haben Sie
vorbereitet?"
Julie
zuckt zusammen und wendet ihren Kopf hin und her, um herauszufinden, von wo die
Stimme kommt; doch sie kann keine genaue Richtung ausmachen.
Sie
schüttelt sich unmerklich, um das seltsame Gefühl
loszuwerden, das sich in ihr ausbreitet. Die Stimme aus den
Lautsprechern, tief und warm, mit einem leicht rauen Timbre, das ihr
Gänsehaut auf dem Rücken macht...Vielleicht kommt es vom Jetlag, aber sie hört sich
vertraut an. Unmöglich. Der Kerl gibt keine Interviews, alsowo sollte sie ihn schon einmal gehört haben?
Sie runzelt die
Stirn, als sie sich daran erinnert, dass man ihr eine Frage gestellt
hat.
"Ich, ähm,
nun..." Sie hebt rasch die Hand zum Mund, um ein herzhaftes
Gähnen zu verstecken. "Entschuldigung, Jetlag. Ich habe..."
'... alles
vergessen.'
"Ich könnte..."
Gabrielles Hand
zuckt in Richtung der Sprechtaste, Erik kann sie gerade noch
abfangen.
"Würdest
du bitte damit aufhören?" fragt er gereizt. "Sie
könnten?" spricht er dann in das Mikrophon. "Bitte,
nehmen Sie sich Zeit." Er wendet sich Gabrielle wieder zu. "Hast
du mir irgendetwas zu sagen?"
"Wer? Ich?
Nein." sie wedelt abwehrend mit ihrer Hand. "Mir geht es
gut."
"Das sehe ich."
Nervös zupft
Julie weiter an dem Loch ihrer Jeans. Sie kennt ihn. Nur woher? Einen
Menschen mit so einer Stimme vergisst man doch nicht einfach.
Aber sie ist zum
Vorsingen hier, nicht zum Rätseln. Angestrengt versucht sie,
sich auf die Lieder zu konzentrieren, die sie standardmäßig
bei Auditions singt. Normalerweise passt sie sich immer dem Stil des
Musicals an, aber was in diesem Job - wenn sie ihn denn kriegt - von
ihr verlangt werden wird, weiß sie nicht, und sie hatte auch
keine Zeit darüber nachzudenken.
Memory - zu
schnulzig.
I
feel pretty - Nein das nun wirklich nicht... Sie ist im Augenblick nicht in der Stimmung für ein
beschwingtes Lied.
"'On my own'?"
stammelt sie schließlich zögerlich "Das... das Lied
von Cosette im zweiten Akt von 'Les Misérables'. Ein Musical
von Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg."
"All by
myself..." singt Gabrielle verhalten und Erik legt ihr mit
Nachdruck eine Hand auf den Mund. "Haben Sie diese Rolle schon
einmal verkörpert?"
Julie schüttelt
den Kopf.
"Ich habe nur
einmal dafür vorgesungen." antwortet sie zögerlich.
"Stellen Sie
das Mikrophon bei Seite und beginnen Sie."
Ohne Mikro? Sie
kräuselt die Nase und tut, was er gesagt hat.
Langsam steht sie
auf, streicht ihre Bluse glatt und strafft die Schultern.
Text... sie muss
sich an den Text erinnern, verdammt!
"On my own,
pretending he's beside me/All alone I walk with him till
morning/Without him I feel his arms around me/And when I lose my way
I close my eyes and he has found me." Sie schluckt und schließt
die Augen. "In the rain, the pavement shines like silver/All the
lights are misty in the..."
Mit einer
aggressiven Bewegung schlägt er auf die Sprechtaste.
"Danke, das
reicht."
Gabrielle
unterdrückt ein Lachen.
"Lass sie
wieder Columbia singen, das klang besser."
"Sei still!"
Unglücklich
schüttelt Julie den Kopf.
"Entschuldigen
Sie. Ich weiß auch nicht, was los ist..."
Mit zuckenden
Schultern lehnt Gabrielle die Stirn auf den Tisch.
"Ich weiß
auch nicht, was los ist!" äfft sie Julie atemlos kichernd
nach "Und das ist deine einzige Kandidatin?"
"Sie ist nur
nervös. Du hörst sie nicht, wie ich sie höre."
"Lass mich ihr
was sagen, bitte!" Gabrielles Hand zuckt wieder zum Mikro "Was
nettes, ich schwörs!"
"Gabrielle!"
Sie richtet sich auf
und schaut ihn unsicher an.
"Ja?"
fragt sie langgezogen.
"Du bist
manisch."
"Ach was!"
Erik seufzt, dann
legt er Gabrielle eine Hand auf den Mund, umschlingt sie mit einem
Arm und trägt sie vor die Studiotür.
"Wenn du heute
Abend angekrochen kommst, werde ich dir nicht aufmachen." sagt
er fest und geht auf seinen Platz zurück.
"Nänänä."
macht Gabrielle "Friss deine Drogen, Gabrielle, friss sie!"
Dann dreht sie sich um und tanzt leise singend an die Rezeption
zurück.
Erik atmet kurz
durch, dann nimmt er wieder vor dem Mikrofon platz und drückt
die Sprechtaste.
"Welche
Anstellungen hatten Sie, bevor Sie sich hier beworben haben?"
"Letztes Jahr
habe ich für eine Saison die Columbia in der 'Rocky Horror Show'
in Québec gesungen." berichtet sie und setzt sich langsam
wieder auf den Barhocker. "Aber... das haben Sie wahrscheinlich
eben gehört..."
"War das Ihre
einzige Anstellung?" er überfliegt kurz ihren vor ihm
liegenden Lebenslauf. Dreiundzwanzig Jahre, geboren und aufgewachsen
in Québec, Kanada, häufig wechselnde Lehrer, bislang
keine Hauptrollen.
"Nein, ich habe
in einigen kleineren Produktionen von 'My fair Lady', 'Little Shop of
Horrors', 'West Side Story' und 'Hello Dolly' mitgewirkt. Meist im
Chor. Bei 'Little Shop of Horrors' war ich die Ronette." Nervös
rutscht sie auf ihrem Platz hin und her. Sie hasst Auditions, und
diese hier ist ganz besonders schrecklich.
Erik stützt
seine Stirn in die Hände und seufzt müde. Keine
Hauptrollen... Was ist nur mit ihrer Stimme?
"Ihr
derzeitiger Stimmumfang?"
"Mezzosopran.
Zwei Oktaven."
Er nickt langsam und
erhebt sich, um hinter dem Tisch auf und ab zu laufen. Im Vorbeigehen
drückt er auf die Sprechtaste.
"Ich hätte
gern noch eine Probe Ihres Gesangs."
Julie
beißt sich auf die Lippe und blickt unsicher auf. Bedeutet das,
dasssie doch noch nicht alles vergeigt hat?
"Was... was
soll ich singen?" stottert sie verwirrt.
"Was immer Sie
wollen." er lässt kurz den Kopf hängen, dann zwingt er
sich zu einem Lächeln "Lassen Sie sich Zeit."
Nachdenklich steckt
sie einen Finger in das Loch am Knie ihrer Jeans. Wenn ihm 'Les
Misérables' schon nicht gefallen hat, wie kann sie ihn dann
überhaupt noch überzeugen, dass sie die Richtige für
den Job ist?
Im
Geiste hört sie Lucas seufzen. 'Tu das nicht! Damit hast du es
bisher immer versaut!' Trotzig presst sie die Lippen zusammen. Dann
beginnt sie, zu singen:"Twisted every way/What answer can I give/Am I to
risk my life/To win the chance to live."
Obwohl er sehen
kann, dass sie jetzt noch verunsicherter ist als bei ihrem letzten
Lied, klingt ihre Stimme fester und schneidet klarer und mit mehr
Ausdruck durch den Raum.
Unruhig schließt
er seine linke Hand zur Faust und öffnet sie wieder, während
er Julies Gesicht anstarrt und sich fragt, wo zur Hölle er sie
schon einmal gehört hat. Eine frühere Bewerbung? Ein
Background? Einen Menschen mit solch einer unmöglichen Stimme
vergisst man doch nicht.
Als sie geendet hat,
wartet Julie auf eine Reaktion, doch die bleibt aus.
Nervös zupft
sie einen weiteren Faden aus ihrer Jeans.
"H... hallo?"
fragt sie schließlich leise.
Mit einem Ruck reißt
er sich aus seiner Erstarrung und beugt sich über das Mikro.
"Danke, wir
melden uns bei Ihnen." Damit verlässt er die Kabine durch
die Hintertür und zieht sich in sein Zimmer zurück.
"Hallo?"
Nichts. Das war es also? Dafür ist sie aus Kanada angereist? Um sich bis auf die Knochen zu blamieren
und ausgerechnet einen der besten Komponisten der Gegenwart davon zu
überzeugen, dass sie völlig zu recht immer nur kleine
Rollen bekommt. Eine ganze Weile steht sie unschlüssig im
Studio, dann geht sie zur Tür. Vielleicht ist seine Assistentin
jetzt etwas gesprächiger.
"Julie! Da bist
du ja!" begrüßt Gabrielle sie strahlend, als sie das
Foyer wieder betritt "Warum so blass? Glaubst du, er mag dich
nicht? Mach dir mal keine Sorgen, du hast ihn tief beeindruckt,
wirklich! Ich war dabei." sie zwinkert ihr zu "Ach."
sie schlägt sich leicht an die Stirn "Ich habe mich dir
noch gar nicht vorgestellt, nicht wahr? Ich bin Gabrielle. Und
hier..." sie reicht Julie einen Zettel und einen Stift "...
schreibst du mir bitte Adresse und Telefonnummer von deinem Hotel
auf."
Julies Kinnlade
klappt nach unten. Ist das die Assistentin von eben? Irgendwie sieht
sie verändert aus, nicht mehr so blass. Und plötzlich redet
sie so viel und schnell, dass sich Julie vollkommen überfordert
fühlt.
Sie kräuselt
die Oberlippe.
"Ich
glaube, ich habs versaut." murmelt sie, während sie mit
zitternden Händen ihre Handynummer und die Anschrift ihres
Hotels aufschreibt. Am liebsten würde sie keine Sekunde länger
in Belgien bleiben, sondern gleich den nächsten Flieger zurück
zu Lucas nehmen und sich trösten lassen. Vielleicht würde
er ihr dieses Malsogar seine übliche 'Ich hab es dir ja gleich
gesagt'-Rede ersparen.
"Oh nein, nicht
doch." Gabrielle geht um den Tresen herum und streichelt Julie
aufmunternd über den Rücken. "Glaub mir, er mag deine
Stimme. Ich weiß das." sie grinst.
Julie zieht die
Augenbrauen hoch.
"Ja, wenn Sie
das sagen... Aber gegen die anderen Bewerberinnen habe ich sicher
keine Chance." Sie blickt sich zum ersten Mal suchend um. "Wo
sind die überhaupt?"
Gabrielle zuckt mit
den Schultern.
"Zuhause, würde
ich sagen. Einen schönen Tag noch, Julie!" Sie winkt mit
den Fingerspitzen und geht in den privaten Teil des Gebäudes, um
sich einen Tee zu kochen und Gemüse fürs Mittagessen zu
schnippeln.
Vollkommen perplex
starrt Julie auf die langsam zufallende Milchglastür.
"Wenn das mal
kein Rauswurf war." knurrt sie und schaut sich noch einmal um.
Tatsächlich, sie ist vollkommen allein hier. Ist sie etwa die
einzige, die man heute angehört hat, und alle anderen Auditions
waren bereits? Seltsam... so etwas hat sie noch nie erlebt.
Mit schnellen
Schritten hastet sie über den Marmorboden zum Ausgang, wirft
sich gegen die schwere Eingangstür und atmet durch.
Nichts
wie raus aus diesem Gruselkabinett! Aber wenigstenshat sie es
hinter sich gebracht. So oder so...
Sie zieht die
Augebraue hoch und seufzt.
"Soweit zur
Theorie. Und wo bekomme ich jetzt ein Taxi her?"
Sie mustert die
riesige Wiese, durch die sich die Kieseinfahrt zieht, die Bäume
ringsum... Da sind keine anderen Häuser, keine Bushaltestelle...
nichts... gar nichts, das auch nur entfernte Ähnlichkeit mit
einer Infrastruktur hätte.
Ziellos
läuft sie eine ganze Weile die einzige Straße entlang, die
zum Haus führt, bis sie wieder auf ein paar Autos trifft. Es
dauert über eine halbe Stunde, bis endlich ein alter Peugeot auf
ihren ausgestreckten Daumen reagiert, und eine weitere volleStunde bis müde und genervt sie ihr Hotel erreicht.
"Du kannst dir
ja gar nicht vorstellen wie das war."
Lucas am anderen
Ende der Leitung seufzt tief.
"Und da war
sonst gar keiner? Nur dieser nachnamenlose Typ mit seiner freakigen
Assistentin?"
Julie schüttelt
den Kopf und legt den Kopf auf ihr Kissen, während sie mit der
Hand eine Haarsträhne zwirbelt.
"Ja,
ich war ganz allein. Ich... ich weiß auch nicht, das war total
seltsam. Ich müsste eigentlich noch warten, bis sie sich
melden... aber... aber ich glaub ich will gar nicht mehr." Sieseufzt und schließt die Augen.
"Dann flieg
zurück nach Hause." bekommt sie prompt zur Antwort "Du
fehlst mir!"
Sie nickt und dreht
sich auf die Seite.
"Du fehlst mir
auch. Aber glaubst du nicht, ich sollte wenigstens noch zwei Tage
warten?" Vielleicht bekommt sie ja doch eine Chance, vielleicht
hat Gabrielle es ernst gemeint und sie hat Erik tatsächlich
beeindruckt. Irgendwie.
"Warte, ich
gehe jetzt an den Computer und suche dir ein paar Flüge raus.
Hast du etwas zu schreiben?" Sie hört, wie er das
Wohnzimmer verlässt und durch den Flur in sein Büro geht.
Die Tür quietscht. Hatte er ihr nicht versprochen, die Angeln
endlich zu ölen?
"Stift? Ja, hab
ich." lügt sie und zieht die Decke über den Kopf,
während Lucas auf Maus und Tastatur einhackt.
"Gut, hör
zu..." Er rattert eine ganze Reihe von Daten und Flugnummern
herunter, auf die sie mit den verschiedensten Variationen von
"Hm"-Lauten reagiert.
"Julie? Julie,
bist du noch da?"
"Natürlich...
ich werde es mir überlegen. Vielleicht sehe ich mir morgen noch
das Atomium an. Wer weiß, wann ich noch einmal die Chance habe,
Brüssel zu besuchen."
Lucas räuspert
sich ärgerlich.
"Mir
wäre es lieber, wenn du gleich zurückkommst und nicht darauf
wartest, dass sichdiese Leute melden. Je länger du da bleibst und
wartest, desto enttäuschter bist du wieder."
"Ich weiß.
Morgen Abend fliege ich..."
"Versprochen?"
"Versprochen."
Er hat sich gerade
zum Schlafen hingelegt, als es an seiner Tür klopft.
"Erik?"
fragt eine verheulte Stimme "Bist du noch wach? Bitte mach
auf..."
"Gabrielle, was
habe ich dir heute Mittag gesagt?" seine Stimme klingt streng,
während er ein Glas Wasser eingießt und einen Blister
Schlaftabletten aus seinem abschließbaren Nachttisch holt.
"Aber du weißt
doch, wie das ist!" schluchzt Gabrielle "Ich kann nichts
dafür!"
"Oh doch, du
kannst sogar sehr viel dafür, wenn du deine Medikamente nicht
nimmst."
"Bitte mach
auf. Es tut mir leid. Ich verspreche, ich tus nie wieder!"
"Das sagst du
jedes Mal." Er nimmt die zweite Decke vom Fußende und
breitet sie aus. "Geh zurück in dein Bett und sieh zu, dass
du alleine damit fertig wirst."
"Bitte schick
mich nicht weg! Bitte! Lass mich nicht allein!"
Er hört, wie
sie an der Tür nach unten rutscht, und wartet noch ein paar
Minuten, in denen er aufmerksam jedes Geräusch aus dem Flur
registriert. Schließlich öffnet er die Tür und trägt
Gabrielle zu seinem Bett hinüber.
"Warum machst
du den selben Fehler immer wieder? Was geht nur in deinem Kopf vor?"
fragt er, während sie gehorsam ihre Tabletten schluckt und sich
dann sich wie ein verängstigtes Kind an ihn schmiegt.
"Das weißt
du doch." antwortet sie tonlos.
"Ja. Und morgen
wird es dir schon wieder besser gehen."
"Sie ist tot!"
Er verdreht die
Augen und beißt seine Zähne zusammen.
"Ich weiß."
"Ich will
nicht."
"Bitte,
Gabrielle."
"Aber ich will
nicht!" sie rutscht vom Stuhl herunter und stampft zur Tür
"Ich habe keine Lust auf noch mehr Löcher im Arm und ich
will keine Chemie fressen! Ich brauch das alles nicht mehr!"
"Gabrielle."
Er verdreht die Augen und geht ihr nach "Wir haben das wirklich
oft genug durchgespielt."
"Aber es geht
mir doch schon wieder gut!" Sie will losrennen, ins Foyer
hinaus, doch er fängt sie am Arm ab und schleppt sie zurück
in den blaugestrichenen Behandlungsraum.
"Das ist Teil
der Krankheit und das weißt du." leiert er herunter "Du
bist nur stabil, wenn du deine Phasenprophylaxe nimmst, und um die
richtig dosieren zu können, muss ich deinen verdammten
Serumspiegel messen."
"Letzte Nacht
hab ich nur schlecht geträumt."
"Selbst wenn es
so wäre, täte es nichts zur Sache, Gabrielle."
"Alter Vampir!"
knurrt sie und schiebt ihren Ärmel hoch.
"So ist es
brav." Er macht eine Kanüle fertig. "Gleich piekst
es."
"Als wenn ich
das nicht wüsste."
Das Telefon neben
ihr reißt sie aus dem Schlaf. Ein kurzer Blick auf die Uhr...
Halb acht morgens. Körperverletzung!
'Lucas.'
durchfährt es sie verärgert. Er hat gestern noch zwei Mal
angerufen, um sich immer wieder davon zu überzeugen, dass sie
heute Abend auch tatsächlich zurückkommen wird.
Entnervt reißt
sie den Hörer von der Gabel.
"Lucas,
verdammt, ich nehm den Flug ja!" brummt sie verschlafen in den
Hörer.
"Guten Morgen, Mademoiselle
Deniaud."
"Oh..." Mit einem Mal ist sie
hellwach. Hastig richtet sie sich in ihrem Bett auf und fährt
sich durch die Haare. "Entschuldigung, ich... ich dachte Sie
wären mein... Sind Sie es... Erik?"
"So ist es.
Seien Sie bitte heute gegen sechzehn Uhr bei mir, ich möchte
Ihnen noch einige Fragen stellen."
"Sechzehn Uhr?"
wiederholt sie langsam. Mist, der Flug würde um siebzehn Uhr
gehen... wie soll sie das Lucas beibringen, ohne einen seiner
berühmten Ausraster zu riskieren? "Das... das lässt
sich machen, denke ich."
"Gut. Auf
Wiederhören."
Tuut... tuut...
Aufgelegt! Entgeistert starrt sie den Telefonhörer an. Heißt
das jetzt, dass sie den Job hat? Sie schwingt die Beine aus dem Bett.
Lucas... das muss sie sofort Lucas erzählen! Eilig tippt sie
seine Nummer ein und trommelt mit den Fingern auf dem Nachttisch
herum.
"Oliver!"
murmelt eine müde Stimme am anderen Ende der Leitung.
"Hab ich dich
geweckt?"
"Julie? Nein...
nein ich wollte gerade schlafen gehen." sagt Lucas nun bedeutend
lauter. "Was ist los? Soll ich dich vom Flughafen abholen? Hast
du doch schon den früheren Flug..."
"Nein."
unterbricht sie ihn aufgeregt "Lucas, pass auf... es ist...
Also, es sieht so aus, als würde sich das ganze doch anders
entwickeln. Ich muss noch mindestens bis morgen bleiben. Und wenn ich
den Job nun doch bekomme, sogar noch länger."
Lucas zieht die Luft
ein und stöhnt.
"Du kommst
nicht? Aber Julie, du hast..."
"Ich hab es
versprochen, als ich dachte, ich hätte sowieso keine Chance, den
Vertrag zu unterschreiben. Aber gerade hat Erik angerufen."
"Erik!"
fällt Lucas ihr barsch ins Wort "Ich finde es abartig, dass
du ihn mit Vornamen anredest!"
Sie runzelt die
Stirn.
"Es ist der
einzige Name, den er hat. Und sonst stört es dich doch auch
nicht, wenn ich..."
Lucas seufzt laut.
"Dann sehen wir
uns eine ganze Weile nicht mehr." mault er unglücklich.
"Wahrscheinlich...
Du, ich muss jetzt auflegen. Ich will mich heute etwas besser
vorbereiten, nur für den Fall, dass ich aus irgendeinem Grund
noch mal singen muss. So einen Patzer wie gestern will ich mir nicht
mehr erlauben."
Er schnaubt
unzufrieden.
"Wenn ich nicht
so sehr hoffen würde, dich bald wiederzusehen, würde ich
dir Glück wünschen."
"Danke. Ich leg
jetzt auf!"
"Julie?"
"Ja?" Sie
lauscht, als eine lange Pause entsteht.
"Naja,du weißt schon..."
Enttäuscht
schürzt sie die Lippen.
"Ich dich
auch."
Er hat Gabrielle auf
ihrem Bett vor dem laufenden Fernseher abgestellt wie ein unliebsames
Kleinkind. Sie ist sediert und entsprechend friedlich, dennoch hat er
die Gegensprechanlage auf 'Babyphon' gestellt und trägt einen
kleinen Empfänger bei sich.Widerwillig verlässt
er den privaten Bereich seines Hauses, um sich an die Rezeption zu
setzen. Meistens sagt er seine Termine ab, wenn es Gabrielle schlecht
geht, aber er muss Julie noch einmal hören, ehe er entscheiden
kann, was zu tun ist.
Punkt sechzehn Uhr.
Sie stößt die Tür auf und sieht sich um. Vor ihr
liegt die verlassene Rezeption. Von Gabrielle fehlt jede Spur.
"Hallo?"
Sie blickt sich suchend um. War da gerade eine Bewegung im Gang
rechts von ihr? Sie verengt die Augen zu schmalen Schlitzen. "Hallo?
Ist hier jemand?"
"Guten Tag,
Mademoiselle Deniaud. Bitte folgen Sie mir." Er stößt
sich von der Wand ab und lässt die Tür los, die er bis
dahin offen gehalten hat.
Julie
versucht angestrengt, etwas zu erkennen, doch sie ist nochgeblendet vom grellen Sonnenlicht, kann nicht mehr als
eine schemenhafte Gestalt ausmachen, die sich vor ihr bewegt.
"Ich
dachte, ich würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Das
Taxi... wir sind direkt in eine rote Welle gefahren unddann war da noch ein Unfall..." versucht sie, ihn in
ein Gespräch zu verwickeln, um ihrer wachsenden Unruhe Herr zu
werden.
"Bitte hier
herein." er deutet auf die geöffnete Tür von Studio 3.
"Nehmen Sie Platz, ich bin gleich bei Ihnen."
Erst ein schummriger
Gang, nun ein schummriger Raum... Und das, wo sie Angst vor der
Dunkelheit hat. Klasse! Mit steifen Schritten tritt sie ein und will
sich dann wieder Erik zuwenden, doch er ist bereits verschwunden.
Nervös
setzt sie sich auf einen Hocker in der Nähe der Tür und
sieht sich um. Der Raum liegt durch gerichtete Leuchtelemente zur
Hälfte in fahlemLicht, der Rest ist fast völlig dunkel und lässt
sich nur erahnen. Irgendwo da hinten steht ein Stuhl... und etwas,
das vielleicht ein Klavier sein könnte.
Angespannt fährt
sie mit der Zunge über ihre Lippen und wirft einen verstohlenen
Blick neben sich. Auf dem Tisch liegt ein Textblatt, aber sie wagt
nicht, nachzusehen, um was es sich handelt. Aber wahrscheinlich ist
er ganz einfach nach dem gestrigen Tag zu dem Schluss gekommen, dass
es besser ist, ihr Noten und Text in die Hand zu drücken, damit
sie nicht wieder alles vergisst.
Er beobachtet Julie
einen Moment, nachdem er leise durch die Tür am dunklen Ende des
Raumes eingetreten ist. Wenn er nur wüsste, was mit ihrer Stimme
los ist. Er hat das Tape wieder und wieder gehört, nachdem
Gabrielle endlich eingeschlafen war, aber er konnte nicht festnageln,
was ihn trotz Julies vielen Fehlern so anzieht. Objektiv betrachtet
sind da keine Auffälligkeiten; ihre Stimme ließe sich mit
dem geeigneten Training zu einem guten, wenn nicht sogar
erstklassigen, lyrischen Sopran ausbauen, ihr Vibrato hat Charme, ihr
Timbre ist weich und ansprechend - aber da ist nichts, das seine
Unruhe rechtfertigen könnte.
Kopfschüttelnd
geht er zum Flügel hinüber.
"Ich freue
mich, dass Sie so kurzfristig kommen konnten. Neben sich finden Sie
eine Partitur. Beginnen Sie gleich, wenn Sie vom Blatt singen können,
ansonsten nehmen Sie sich etwas Zeit und sagen Sie mir, wenn Sie
bereit sind."
Erschrocken
zuckt Julie zusammen und presst die Lippen aufeinander. Sie hat sein
Kommen weder gesehen noch gehört. Sie nimmt das Notenblatt auf
und starrt eseinen Moment lang an. Das Stück darauf kennt sie
nicht. Es enthält sehr große Sprünge zwischen den
Tonhöhen, zahllose Koloraturen und Verzierungen, eine
halsbrecherische Kadenz... In der Hand hält sie eine Teststrecke
für ihre Stimme, die mit jedem Takt schwieriger wird.
Sie runzelt die
Stirn und beginnt zu singen. Zuerst kommen ihr die Töne sehr
leicht von den Lippen, dann stockt sie, verhaspelt sich und sieht
abwartend in seine Richtung.
"Weiter."
Das Klavierspiel
setzt fünf Takte früher wieder ein und sie versucht die
Stelle noch einmal, mit einigen Schwierigkeiten.
Das Ganze wiederholt
sich vier oder fünf Mal, und schließlich sinkt sie
erschöpft auf ihren Stuhl zurück. Sie hat es versaut.
Dieses Mal endgültig. Wenn dieses Lied für die Stimme
ausgelegt ist, die den Filmsoundtrack singen soll, ist sie die
denkbar schlechteste Wahl.
"Ich habe
nichts von Aufhören gesagt, Mademoiselle." Er spielt einen
Lauf mit der linken Hand "Beginnen Sie noch einmal im
fünfzehnten Takt. Achten Sie hier besonders auf Ihre Stütze.
Sie neigen auch dazu, ihren Kiefer zu verkrampfen. Bleiben Sie
entspannt. Und bitte."
Julie hebt die
Augenbraue und steht wieder auf.
'Etwas
zu trinken wäre auch nicht schlecht...' denkt sie missmutig.
Dochsie tut kommentarlos, was er von ihr verlangt. Irgendetwas
sagt ihr, dass es besser ist, ihm zu folgen - und warum zum Teufel
kommt ihr seine Stimme so vertraut vor?
Sie
schüttelt den Kopf und bemüht sich um Konzentration, kommt
aberauch im zweiten Anlauf nicht weiter als beim ersten Mal.
Doch Erik lässt nicht von ihr ab.
"Unter dem
Tisch stehen ein Glas und eine Wasserflasche. Trinken Sie und
versuchen Sie es dann noch einmal. Sie müssen Ihren Kiefer
entspannen. Stehen Sie aufrechter. Sie vergessen außerdem, Ihr
Becken zu kippen."
Julie
trinkt, tut was er gesagt hat und kneift die Augen zusammen. Warum
kommt er nicht zur ihr, sondern bleibt weiterhin im Dunklen sitzen?
Lucas hatte Recht, er ist wirklich extrem spleenig - oder schüchtern.
Ihr Gesangslehrer zuhause in Québec hätte es sich an
dieser Stelle jedenfallsnicht nehmen lassen, sie persönlich in die richtige
Position zu stellen, ihre Hände auf ihr Zwerchfell zu pressen
und ihr die richtige Atmung oder sonst etwas zu zeigen.
Bemüht, dieses
Mal alles richtig zu machen, singt sie los, und hängt wieder an
derselben Stelle.
"Und gleich
noch einmal." bestimmt Erik unerbittlich "Takt fünfzehn.
Denken Sie an Ihren Kiefer und Ihre Stütze, das Becken war schon
viel besser."
Doch Julie hebt
abwehrend die Hände.
"Tut mir
wirklich leid. Aber ich kann nicht mehr." seufzt sie und reibt
sich den Hals.
"Können
Sie nicht mehr oder wollen
Sie nicht mehr?"
"Wenn ich keine
Lust mehr hätte auf den ganzen Kram, säße ich bereits
seit..." sie schaut auf ihre Uhr "... über einer
Stunde im Flieger zu meinem Freund." entgegnet sie genervt. Wie
sie solche Sprüche hasst. Lucas beherrscht das auch
ausgezeichnet, ihr auf diese Weise noch ein schlechtes Gewissen zu
machen.
"Kram?"
"Entschuldigung...
Ich bin wirklich vollkommen erledigt." murmelt sie verlegen
"Irgendwie hängt mir der Flug noch in den Knochen."
"Jetlag... Ich
werde Sie unterrichten. Kommen Sie morgen wieder, wenn Sie sich
ausgeruht fühlen. Rufen Sie vorher an."
Julie runzelt die
Stirn.
"Darf ich
fragen, wie lange Sie mich unterrichten werden?"
'Nur damit ich das
meinem Freund irgendwie schonend beibringen kann.' fügt sie in
Gedanken hinzu und steht auf.
"Bis zu den
Aufnahmen in drei Wochen natürlich. Ich nehme an, die Tür
finden Sie auch allein?"
"Ähm,
eigentlich..." wäre das die Gelegenheit, endlich einen
Blick auf ihn zu erhaschen und mehr von ihm zuerkennen, als nur einen schwarzen Schatten. "Von der
Rezeptionaus
finde ich zur Tür, aber... es wäre sehr nett, wenn Sie mir
den Weg bis dort zeigen könnten." Außerdem ist ihr
der Gedanke, allein um diese ganzen schlecht beleuchteten Ecken zu
biegen sehr unheimlich.
Erik hatte sich
schon zum Gehen gewandt, nun bleibt er abrupt stehen und verzieht das
Gesicht. Verfluchte rhetorische Fragen.
"Natürlich."
Mit einer geübten Bewegung kontrolliert er den Sitz seiner Maske
und durchquert den beleuchten Teil des Raumes.
Als Julie ihn sieht,
klappt ihre Kinnlade nach unten. Worauf hat sie sich da bloß
eingelassen? Wenn sie Lucas davon erzählt, wird er sie
persönlich nach Hause holen.
Sie
hält die Luft an und folgt Erik mit gebührendem Abstand,
ihn noch immer sehr interessiert und misstrauischbetrachtend. Seine dürre Gestalt ist im wahrsten
Sinne des Wortes von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. Kein
noch so kleines Stück Haut ist zu sehen, und selbst seine Haare
sind rabenschwarz.
Spleenig...
definitiv extrem spleenig. Allerdings mit einem ausgezeichneten
Musikverständnis. Lange bevor sie hierher kam, hat sie sämtliche
CDs mit seinen Kompositionen in ihrem Regal gesammelt. Trotzdem will
sie zurück nach Québec, zu Lucas und zu den ganzen
harmlos-überdrehten Leuten in den kleinen Stadttheatern.
Vielleicht sollte
sie die ganze Sache abblasen...
"Dann... dann
rufe ich Sie morgen irgendwann an, wenn ich es für richtig
halte?" vergewissert sie sich noch einmal.
"So ist es."
er hält ihr die Tür zur Rezeption auf "Dann können
Sie auch gleich Ihren Vertrag unterschreiben." So oder so... er
wird diese Aufnahme mit ihr machen, und wenn er die Musik umschreiben
muss, damit Julie sie bewältigen kann.
"Wie ist das
mit meiner Agentin? Für gewöhnlich ist sie bei so etwas
anwesend und überprüft den Vertrag, bevor ich
unterschreibe..." Warum um alles in der Welt freut sie sich
nicht einfach? Das ist ihre Chance! Noch vor zwei Tagen hätte
sie alles für diesen Vertrag getan.
"Der Vertrag
wurde bereits an Madame Bernard gefaxt, sie müsste Ihnen in den
nächsten Stunden ihr Okay geben. Guten Tag." Damit
verschwindet er in Studio 1 und begibt sich durch die Hintertür
in Gabrielles Zimmer.
