Kapitel 1

"Gabrielle, wo sind die verdammten Demotapes?"Eine Tür knallt, Schritte stürmen die Treppe hinauf, dann klopft es laut, und noch bevor sie antworten kann, dröhnt die Stimme direkt hinter ihr "Ich hatte dir doch gesagt, du sollst verdammtnochmal den Karton mit den Bändern auf meinem Schreibtisch stehen lassen!"Ihr Stift kritzelt rasend schnell über das leere Papier und unterstreicht den letzten Satz doppelt.
Demotapes - Hörsaal. Wie immer!
Ein entnervtes Grollen, dann wird die Tür zugeknallt. Kopfschüttelnd setzt sie ihre Kopfhörer wieder auf und stellt die Musik lauter. Hoffentlich nimmt er diese Shea Gawaine. Die Stimme der Frau hat Feuer und ihre Technik ist gar nicht mal so übel.

Mit geschlossenen Augen sitzt er eine halbe Stunde später im vollständig dunklen Hörsaal und lauscht den Stimmen aus den Lautsprechern. Hin und wieder drückt er mit unzufriedenem Gesichtsausdruck auf die Fernbedienung, um zum nächsten Track zu spulen oder aufs nächste Band umzuschalten.
... Langweilig...
... talentfrei...
... uninspiriert...
... schrecklich...
... er erstarrt und erhöht zögernd die Lautstärke. Diese Stimme hat nicht viel Qualität, weder im Ausdruck noch in der Technik und doch... klingt sie nicht schlecht - alles andere als das... Irritiert erhebt er sich von seinem Platz und geht zum nächsten Lautsprecherturm hinüber. Er beugt sich vor, bis er die Schallwellen als leichte Luftstöße auf seinem Gesicht spüren kann. Seine rechte Hand beginnt, sich um seinen Hals zu schließen, während seine linke die Lautstärke erhöht, bis seine Ohren zu schmerzen beginnen und er die gesamte Anlage mit einer rüden Bewegung abschaltet.

"Lad die hier ein." befiehlt er kurz und legt Gabrielle ein einzelnes Tape vor die Nase.
Fragend hält sie einen Finger hoch.
"Misch dich nicht ein. Ich bekomme dieses Mädchen für die Aufnahme, oder ich stoße den Auftrag wieder ab." Damit verlässt er das Büro wieder und zieht sich in sein Kellerzimmer zurück, um über dem Plan für ein Kurzfilmprojekt zu brüten.
Mit einem ergebenen Seufzen nimmt Gabrielle das Tape und liest den Namen: Julie Deniaud. Nie gehört.
Sie schaut kurz zwischen Tonband und Tür hin und her. Das kann er nicht ernst meinen.
"Genie und Wahnsinn." grummelt sie sarkastisch. Eine einzige Einladung für eine Audition. So etwas hat er sich noch nie geleistet.

Lucas' Gesicht wirkt blass und angespannt, als er Julie vom Sofa aus mustert.
Sie kennt diesen Blick ganz genau. Typischer Fall von 'Eigentlich solltest du ein schlechtes Gewissen bekommen.'
Stirnrunzelnd wendet sie sich wieder dem Honigglas zu und stochert mit ihrem Messer darin herum, bis sie auch die letzten Reste herausgekratzt und auf ihr Brot gestrichen hat.
"And all the girlies say I'm pretty fly for a white guy", singt sie laut mit The Offsping im Radio.
"Julie bitte... du hast geradeschon drei Honigbrote gegessen. Wie kannst du seelenruhig noch so ein Ding in dich hineinstopfen, nachdem du mir so etwas erzählt hast?"
Sie wirft ihm einen kurzen Blick über die Schulter zu.
"Im Moment bin ich bloß dabei, es zu schmieren." entgegnet sie kopfschüttelnd. Fast sieben Jahre und er regt sich noch immerüber ihre Vorliebe für Honig auf - nur weil er selber das Zeug nicht ausstehen kann. Manchmal fragt sie sich wirklich, wie sie es so lange mit ihm ausgehalten hat.
Lucas stöhnt und presst die Fingerspitzen gegeneinander.
"Komm bitte her und setz dich zu mir. Ich finde, wir sollten darüber reden."
Reden? Bah! Wenn sie das schon hört. Alles will er bereden... nein, eigentlich will er ihr alles ausreden. Warum kann er nicht einfach einsehen, dass sie eine erwachsene Frau ist, die ihre eigenen Entscheidungen treffen kann.
"Ich finde nicht, dass es da etwas zu bereden gibt." Nachdem sie das Radio ausgeschaltet hat, nimmt sie ihr Brot und setzt sich zu ihm aufs Sofa. "Ich werde nach Belgien fliegen und dort vorsingen. Wenn alles gut geht, unterschreibe ich den Vertrag und habe endlich eine wirkliche Chance, bekannt zu werden. Ich verstehe nicht, warum dich das so aufregt!" Genüsslich beißt sie in das Brot und schmatzt Lucas ins Ohr.
Der wirft ihr einen bösen Blick zu.
"Ich sehe es kommen, wir werden uns wochenlang nicht sehen. Belgien... Das sind sechs Flugstunden. Ich glaube wirklich nicht, dass ich dich für mehr als ein paar Tage begleiten kann." Er verzieht das Gesicht. "Und überhaupt. Diese ganze Idee ist vollkommen schwachsinnig. Irgendein Europäer ruft deine Agentin an und faselt etwas von Filmmusik, und du hast nichts Besseres zu tun, als gleich zu springen!" Besorgt streicht er Julie eine Locke hinters Ohr.
Sie schiebt sich den letzten Rest ihres Brotes in den Mund und sieht Lucas mit großen Augen an.
"Er ist nicht irgendein Europäer, Lucas. Momentan gehört er mit John Williams und Danny Elfman zu den gefragtesten Komponisten in der Filmbranche." Sie steht auf, geht zu ihrem CD-Regal und wirft Lucas einen Soundtrack zu. Natürlich fängt er nicht und die CD landet auf dem hellen Laminatboden. Julie setzt sich zurück auf ihren Platz, während sie beobachtet, wie Lucas die Trackliste und das Inlay studiert.
"Pf." macht er dann verächtlich "Der Typ hat doch nicht mal einen Nachnamen!"
Julie springt auf und schlägt sich entnervt gegen die Stirn.
"Mein Gott, Lucas! Das ist ein Künstlername. Und ich werde diese einmalige Chance nutzen, das kannst du mir nicht verbieten!" Sie schnaubt ärgerlich "Und jetzt geh ich packen. Aimée sagte, dass Eriks Assistentin meinen Flug von Québec bereits für morgen früh umzehngebucht hat." Damit stürmt sie aus dem Zimmer, um keine weiteren Einwände hören zu müssen.
"Vergiss nicht, vorher noch im Internet nachzusehen, ob dir nicht wieder einer deiner Phanfreunde geschrieben hat." unkt er ihr nach.

Die Türklingel entlockt Gabrielle ein Seufzen. Nur eine einzige Einladung zur Audition. Und er weigert sich noch immer, es vernünftig zu erklären. Aber gut. Er ist der Komponist, er muss es wissen.
Sie drückt den Summer und beobachtet, wie eine schlanke junge Frau das Foyer betritt. Missmutig erhebt sie sich von ihrem Platz und kommt hinter dem Tresen hervor.
Aufgeregt wischt Julie ihre schweißnassen Hände an ihrer Jeans ab und mustert die magere, übernächtigt aussehende Frau vor ihr. Dann lächelt sie freundlich und streckt ihr eine Hand entgegen.
"Bonjour. Ich bin Julie Deniaud. Sie hatten mit meiner Agentin telefoniert?"
Gabrielle nickt, produziert ein mechanisch wirkendes Lächeln und bedeutet dem Mädchen mit einer Geste, zu warten. Langsam geht sie zur Steuerkonsole an der Wand und drückt den Knopf, der sie mit Eriks Zimmer verbindet.
"Was?" tönt ihr seine angespannt wirkende Stimme entgegen.
Gabrielle streckt eine Hand in Richtung des Mädchens und schnippt mit den Fingern, damit es seinen Namen wiederholt.
Julie zieht eine Augenbraue hoch. Was soll denn das nun? Kann diese Frau nicht mit ihr reden? Sie kommt sich vor wie ein Arbeitssklave. Selbst, wenn ihr Gegenüber stumm ist, hat esnoch lange nicht das Recht, so mit ihr umzugehen.
"Julie Deniaud." faucht sie etwas gereizter als beabsichtigt. Vielleicht hatte Lucas Recht und dieser Typ ist wirklich ein exzentrischer Irrer. Welcher andere bekannte Komponist weigert sich schon, Interviews zu geben oder sich auf Filmpremieren zu zeigen?
Gabrielle nickt zufrieden und wirft einen Blick auf den Terminkalender auf ihrem Schreibtisch. Studio 5, natürlich Studio 5. Aber sie vergewissert sich lieber noch einmal. Seit er dieses Demotape von Julie Deniaud gehört hat, ist er vollkommen neben der Spur und sie hat keine Lust darauf, dass er seine irren zehn Minuten schiebt, weil sie einen Fehler gemacht hat.
Kopfschüttelnd geht sie zur Verbindungstür links der Rezeption und winkt Julie, ihr zu folgen.
Die grollt leise. Wenn das so weitergeht, wird sienoch heute Abend ihren Flug buchen. Irgendwie erinnert sie die ganze Sache gerade an eine Szene aus der Rocky Horror Show, nur dass dieses ‚Schloss'eindeutig zu nobel ist, mit seiner Marmorrezeption und all dem Teakholz. Und die Assistentin hat auch nicht wirklich eine Ähnlichkeit mit Magenta. Trotzdem würde es Julie nicht wundern, wenn gleich ein Fahrstuhl aus dem Nichts auftauchen und einen Kerl in Pumps undStrapsen ausspucken würde.
Die Frau führt sie durch einen spärlich beleuchteten Gang in einen Raum, in dem sich nur ein riesiger Spiegel auf der einen und ein Barhocker mit Mikrofon auf der anderen Seite befinden. Die Wände sind mit schwarzem Dämmmaterial ausgekleidet - ein Tonstudio.
"So." Gabrielle bugsiert das Mädchen auf den Hocker, legt ihm kurz die Hände auf die Schultern und zupft ihm die Haare zurecht. "Keine Angst; sei lieb zu ihm, dann ist er lieb zu dir."Sie lächelt noch einmal, dann verlässt sie das Studio, um sich zu Erik zu gesellen.
Julie wartet ungeduldig, bis die leichenblasse Assistentin sie allein lässt. Rocky Horror, ganz eindeutig. Diese Frau kann also doch sprechen, und das mit einer tiefen vollen Stimme, die so rein gar nicht zu ihrer dürren Gestalt passen will. Vielleicht hüpft in diesem Haus auch noch irgendwo ihr buckliger Bruder herum. Obwohl die Frau nicht hässlich ist - ganz und gar nicht. Vielleicht ein wenig zu sehr darauf bedacht, ihr mädchenhaftes, jungesAussehen auch mit – wahrscheinlich ist sie um die dreißig - zu bewahren. Julie schneidet eine Grimasse und steht wieder auf. Warum zur Hölle hängt dieser Riesen-Spiegel im Studio? Während sie mit gestrafften Schultern davor auf und ab patrouilliert, summt sie immer wieder den "Time Warp", der ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen will, seit sie mit der komischen Angestellten durch den halbdunklen Gang hierher gelaufen ist. Vor vier Jahren hat sie in einem kleinen Theater in Québec die Rolle der Columbia gesungen, galt sogar als Geheimtipp der ganzen Besetzung.
Julie lauscht in Richtung Tür. Immer noch nichts. Er lässt sie noch länger warten.
Unsicher macht sie ein, zwei Steppschritte vor dem Spiegel.
"Well I was walking down the street just having a think/When a snake of a guy gave me an evil wink..." Sie lauscht und fährt dann deutlich lauter und schriller fort: "He shook me up, he took me by surprise/He had a pickup truck, and the devil's..."

Starr vor Anspannung sitzt er hinter dem Zweiwegspiegel und starrt auf die Tür. Julie Deniaud. Sie klang aggressiv. Wenn Gabrielle auch ihr gegenüber 'Dame Freakshow' spielt, wird sie Ärger mit ihm bekommen.
Als sie mit dem Mädchen das Studio betritt, springt er von seinem Platz auf und geht geräuschlos dicht an das Glas heran. Klein, blond, grüne Augen, schmales Becken, schmale Schultern.
Er nimmt eine Strähne seines schwarzen Haares zwischen die Finger und dreht sie nervös. Was war es, das er auf diesem Tape hörte? Julies Ausdruck ist enervierend oberflächlich, ihre Technik unvollkommen, sie bräuchte dringend Unterricht. Was fällt ihm nur ein? Er kann keine Aufnahmen mit einer unfertigen Sängerin machen. Trotzdem sitzt sie jetzt als einzige Bewerberin in seinem Studio; knappe drei Wochen vor der Deadline.
Als Julie plötzlich zu singen beginnt, zuckt er zusammen. Sie quietscht herum, Columbias Strophe aus dem 'Time Warp' von Richard O'Brian.
Ungeduldig wartet er darauf, dass sie wieder aufhört, doch sein Wunsch erfüllt sich nicht; im Gegenteil.
"Atemberaubend schön, nicht wahr?" frotzelt Gabrielle leise und schließt die Tür hinter sich.
"Sei still." er beugt sich über das Mikro "Mademoiselle Deniaud. Nehmen Sie bitte wieder platz."

Die Röte schießt Julie ins Gesicht.
'Okay, wo ist das Loch, in dem ich versinken kann?' Sie presst die Lippen fest aufeinander und schleicht mit gesenktem Kopf auf ihren Platz zurück. Warum um alles in der Welt hat sie Lucas nicht gebeten, mit ihr zu kommen? Sie könnte seinen Beistand gerade wirklich gut gebrauchen. Automatisch tasten ihre Finger nach Lucas' Ring und beginnen, ihn hin und her zu drehen.
"Entschuldigung." murmelt sie und rutscht unbehaglich auf dem Barhocker herum. Sielässt von dem Ring ab und zupft ein paar Fäden aus dem Loch am Knie ihrer Jeans. Zuerst will sie das Fusselknäuel auf den Boden fallen lassen, doch irgendetwas hält sie davon ab. Besser sie steckt es in ihre Hosentasche.
Gabrielle kichert leise, doch Erik bringt sie mit einem Seitenblick zum Schweigen.
"Was haben Sie vorbereitet?"
Julie zuckt zusammen und wendet ihren Kopf hin und her, um herauszufinden, von wo die Stimme kommt; doch sie kann keine genaue Richtung ausmachen.
Sie schüttelt sich unmerklich, um das seltsame Gefühl loszuwerden, das sich in ihr ausbreitet. Die Stimme aus den Lautsprechern, tief und warm, mit einem leicht rauen Timbre, das ihr Gänsehaut auf dem Rücken macht...Vielleicht kommt es vom Jetlag, aber sie hört sich vertraut an. Unmöglich. Der Kerl gibt keine Interviews, alsowo sollte sie ihn schon einmal gehört haben?
Sie runzelt die Stirn, als sie sich daran erinnert, dass man ihr eine Frage gestellt hat.
"Ich, ähm, nun..." Sie hebt rasch die Hand zum Mund, um ein herzhaftes Gähnen zu verstecken. "Entschuldigung, Jetlag. Ich habe..."
'... alles vergessen.'
"Ich könnte..."
Gabrielles Hand zuckt in Richtung der Sprechtaste, Erik kann sie gerade noch abfangen.
"Würdest du bitte damit aufhören?" fragt er gereizt. "Sie könnten?" spricht er dann in das Mikrophon. "Bitte, nehmen Sie sich Zeit." Er wendet sich Gabrielle wieder zu. "Hast du mir irgendetwas zu sagen?"
"Wer? Ich? Nein." sie wedelt abwehrend mit ihrer Hand. "Mir geht es gut."
"Das sehe ich."
Nervös zupft Julie weiter an dem Loch ihrer Jeans. Sie kennt ihn. Nur woher? Einen Menschen mit so einer Stimme vergisst man doch nicht einfach.
Aber sie ist zum Vorsingen hier, nicht zum Rätseln. Angestrengt versucht sie, sich auf die Lieder zu konzentrieren, die sie standardmäßig bei Auditions singt. Normalerweise passt sie sich immer dem Stil des Musicals an, aber was in diesem Job - wenn sie ihn denn kriegt - von ihr verlangt werden wird, weiß sie nicht, und sie hatte auch keine Zeit darüber nachzudenken.
Memory - zu schnulzig.
I feel pretty - Nein das nun wirklich nicht... Sie ist im Augenblick nicht in der Stimmung für ein beschwingtes Lied.
"'On my own'?" stammelt sie schließlich zögerlich "Das... das Lied von Cosette im zweiten Akt von 'Les Misérables'. Ein Musical von Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg."
"All by myself..." singt Gabrielle verhalten und Erik legt ihr mit Nachdruck eine Hand auf den Mund. "Haben Sie diese Rolle schon einmal verkörpert?"
Julie schüttelt den Kopf.
"Ich habe nur einmal dafür vorgesungen." antwortet sie zögerlich.
"Stellen Sie das Mikrophon bei Seite und beginnen Sie."
Ohne Mikro? Sie kräuselt die Nase und tut, was er gesagt hat.
Langsam steht sie auf, streicht ihre Bluse glatt und strafft die Schultern.
Text... sie muss sich an den Text erinnern, verdammt!
"On my own, pretending he's beside me/All alone I walk with him till morning/Without him I feel his arms around me/And when I lose my way I close my eyes and he has found me." Sie schluckt und schließt die Augen. "In the rain, the pavement shines like silver/All the lights are misty in the..."
Mit einer aggressiven Bewegung schlägt er auf die Sprechtaste.
"Danke, das reicht."
Gabrielle unterdrückt ein Lachen.
"Lass sie wieder Columbia singen, das klang besser."
"Sei still!"
Unglücklich schüttelt Julie den Kopf.
"Entschuldigen Sie. Ich weiß auch nicht, was los ist..."
Mit zuckenden Schultern lehnt Gabrielle die Stirn auf den Tisch.
"Ich weiß auch nicht, was los ist!" äfft sie Julie atemlos kichernd nach "Und das ist deine einzige Kandidatin?"
"Sie ist nur nervös. Du hörst sie nicht, wie ich sie höre."
"Lass mich ihr was sagen, bitte!" Gabrielles Hand zuckt wieder zum Mikro "Was nettes, ich schwörs!"
"Gabrielle!"
Sie richtet sich auf und schaut ihn unsicher an.
"Ja?" fragt sie langgezogen.
"Du bist manisch."
"Ach was!"
Erik seufzt, dann legt er Gabrielle eine Hand auf den Mund, umschlingt sie mit einem Arm und trägt sie vor die Studiotür.
"Wenn du heute Abend angekrochen kommst, werde ich dir nicht aufmachen." sagt er fest und geht auf seinen Platz zurück.
"Nänänä." macht Gabrielle "Friss deine Drogen, Gabrielle, friss sie!" Dann dreht sie sich um und tanzt leise singend an die Rezeption zurück.
Erik atmet kurz durch, dann nimmt er wieder vor dem Mikrofon platz und drückt die Sprechtaste.
"Welche Anstellungen hatten Sie, bevor Sie sich hier beworben haben?"
"Letztes Jahr habe ich für eine Saison die Columbia in der 'Rocky Horror Show' in Québec gesungen." berichtet sie und setzt sich langsam wieder auf den Barhocker. "Aber... das haben Sie wahrscheinlich eben gehört..."
"War das Ihre einzige Anstellung?" er überfliegt kurz ihren vor ihm liegenden Lebenslauf. Dreiundzwanzig Jahre, geboren und aufgewachsen in Québec, Kanada, häufig wechselnde Lehrer, bislang keine Hauptrollen.
"Nein, ich habe in einigen kleineren Produktionen von 'My fair Lady', 'Little Shop of Horrors', 'West Side Story' und 'Hello Dolly' mitgewirkt. Meist im Chor. Bei 'Little Shop of Horrors' war ich die Ronette." Nervös rutscht sie auf ihrem Platz hin und her. Sie hasst Auditions, und diese hier ist ganz besonders schrecklich.
Erik stützt seine Stirn in die Hände und seufzt müde. Keine Hauptrollen... Was ist nur mit ihrer Stimme?
"Ihr derzeitiger Stimmumfang?"
"Mezzosopran. Zwei Oktaven."
Er nickt langsam und erhebt sich, um hinter dem Tisch auf und ab zu laufen. Im Vorbeigehen drückt er auf die Sprechtaste.
"Ich hätte gern noch eine Probe Ihres Gesangs."
Julie beißt sich auf die Lippe und blickt unsicher auf. Bedeutet das, dasssie doch noch nicht alles vergeigt hat?
"Was... was soll ich singen?" stottert sie verwirrt.
"Was immer Sie wollen." er lässt kurz den Kopf hängen, dann zwingt er sich zu einem Lächeln "Lassen Sie sich Zeit."
Nachdenklich steckt sie einen Finger in das Loch am Knie ihrer Jeans. Wenn ihm 'Les Misérables' schon nicht gefallen hat, wie kann sie ihn dann überhaupt noch überzeugen, dass sie die Richtige für den Job ist?
Im Geiste hört sie Lucas seufzen. 'Tu das nicht! Damit hast du es bisher immer versaut!' Trotzig presst sie die Lippen zusammen. Dann beginnt sie, zu singen:"Twisted every way/What answer can I give/Am I to risk my life/To win the chance to live."
Obwohl er sehen kann, dass sie jetzt noch verunsicherter ist als bei ihrem letzten Lied, klingt ihre Stimme fester und schneidet klarer und mit mehr Ausdruck durch den Raum.
Unruhig schließt er seine linke Hand zur Faust und öffnet sie wieder, während er Julies Gesicht anstarrt und sich fragt, wo zur Hölle er sie schon einmal gehört hat. Eine frühere Bewerbung? Ein Background? Einen Menschen mit solch einer unmöglichen Stimme vergisst man doch nicht.
Als sie geendet hat, wartet Julie auf eine Reaktion, doch die bleibt aus.
Nervös zupft sie einen weiteren Faden aus ihrer Jeans.
"H... hallo?" fragt sie schließlich leise.
Mit einem Ruck reißt er sich aus seiner Erstarrung und beugt sich über das Mikro.
"Danke, wir melden uns bei Ihnen." Damit verlässt er die Kabine durch die Hintertür und zieht sich in sein Zimmer zurück.
"Hallo?" Nichts. Das war es also? Dafür ist sie aus Kanada angereist? Um sich bis auf die Knochen zu blamieren und ausgerechnet einen der besten Komponisten der Gegenwart davon zu überzeugen, dass sie völlig zu recht immer nur kleine Rollen bekommt. Eine ganze Weile steht sie unschlüssig im Studio, dann geht sie zur Tür. Vielleicht ist seine Assistentin jetzt etwas gesprächiger.
"Julie! Da bist du ja!" begrüßt Gabrielle sie strahlend, als sie das Foyer wieder betritt "Warum so blass? Glaubst du, er mag dich nicht? Mach dir mal keine Sorgen, du hast ihn tief beeindruckt, wirklich! Ich war dabei." sie zwinkert ihr zu "Ach." sie schlägt sich leicht an die Stirn "Ich habe mich dir noch gar nicht vorgestellt, nicht wahr? Ich bin Gabrielle. Und hier..." sie reicht Julie einen Zettel und einen Stift "... schreibst du mir bitte Adresse und Telefonnummer von deinem Hotel auf."
Julies Kinnlade klappt nach unten. Ist das die Assistentin von eben? Irgendwie sieht sie verändert aus, nicht mehr so blass. Und plötzlich redet sie so viel und schnell, dass sich Julie vollkommen überfordert fühlt.
Sie kräuselt die Oberlippe.
"Ich glaube, ich habs versaut." murmelt sie, während sie mit zitternden Händen ihre Handynummer und die Anschrift ihres Hotels aufschreibt. Am liebsten würde sie keine Sekunde länger in Belgien bleiben, sondern gleich den nächsten Flieger zurück zu Lucas nehmen und sich trösten lassen. Vielleicht würde er ihr dieses Malsogar seine übliche 'Ich hab es dir ja gleich gesagt'-Rede ersparen.
"Oh nein, nicht doch." Gabrielle geht um den Tresen herum und streichelt Julie aufmunternd über den Rücken. "Glaub mir, er mag deine Stimme. Ich weiß das." sie grinst.
Julie zieht die Augenbrauen hoch.
"Ja, wenn Sie das sagen... Aber gegen die anderen Bewerberinnen habe ich sicher keine Chance." Sie blickt sich zum ersten Mal suchend um. "Wo sind die überhaupt?"
Gabrielle zuckt mit den Schultern.
"Zuhause, würde ich sagen. Einen schönen Tag noch, Julie!" Sie winkt mit den Fingerspitzen und geht in den privaten Teil des Gebäudes, um sich einen Tee zu kochen und Gemüse fürs Mittagessen zu schnippeln.
Vollkommen perplex starrt Julie auf die langsam zufallende Milchglastür.
"Wenn das mal kein Rauswurf war." knurrt sie und schaut sich noch einmal um. Tatsächlich, sie ist vollkommen allein hier. Ist sie etwa die einzige, die man heute angehört hat, und alle anderen Auditions waren bereits? Seltsam... so etwas hat sie noch nie erlebt.
Mit schnellen Schritten hastet sie über den Marmorboden zum Ausgang, wirft sich gegen die schwere Eingangstür und atmet durch.
Nichts wie raus aus diesem Gruselkabinett! Aber wenigstenshat sie es hinter sich gebracht. So oder so...
Sie zieht die Augebraue hoch und seufzt.
"Soweit zur Theorie. Und wo bekomme ich jetzt ein Taxi her?"
Sie mustert die riesige Wiese, durch die sich die Kieseinfahrt zieht, die Bäume ringsum... Da sind keine anderen Häuser, keine Bushaltestelle... nichts... gar nichts, das auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einer Infrastruktur hätte.
Ziellos läuft sie eine ganze Weile die einzige Straße entlang, die zum Haus führt, bis sie wieder auf ein paar Autos trifft. Es dauert über eine halbe Stunde, bis endlich ein alter Peugeot auf ihren ausgestreckten Daumen reagiert, und eine weitere volleStunde bis müde und genervt sie ihr Hotel erreicht.

"Du kannst dir ja gar nicht vorstellen wie das war."
Lucas am anderen Ende der Leitung seufzt tief.
"Und da war sonst gar keiner? Nur dieser nachnamenlose Typ mit seiner freakigen Assistentin?"
Julie schüttelt den Kopf und legt den Kopf auf ihr Kissen, während sie mit der Hand eine Haarsträhne zwirbelt.
"Ja, ich war ganz allein. Ich... ich weiß auch nicht, das war total seltsam. Ich müsste eigentlich noch warten, bis sie sich melden... aber... aber ich glaub ich will gar nicht mehr." Sieseufzt und schließt die Augen.
"Dann flieg zurück nach Hause." bekommt sie prompt zur Antwort "Du fehlst mir!"
Sie nickt und dreht sich auf die Seite.
"Du fehlst mir auch. Aber glaubst du nicht, ich sollte wenigstens noch zwei Tage warten?" Vielleicht bekommt sie ja doch eine Chance, vielleicht hat Gabrielle es ernst gemeint und sie hat Erik tatsächlich beeindruckt. Irgendwie.
"Warte, ich gehe jetzt an den Computer und suche dir ein paar Flüge raus. Hast du etwas zu schreiben?" Sie hört, wie er das Wohnzimmer verlässt und durch den Flur in sein Büro geht. Die Tür quietscht. Hatte er ihr nicht versprochen, die Angeln endlich zu ölen?
"Stift? Ja, hab ich." lügt sie und zieht die Decke über den Kopf, während Lucas auf Maus und Tastatur einhackt.
"Gut, hör zu..." Er rattert eine ganze Reihe von Daten und Flugnummern herunter, auf die sie mit den verschiedensten Variationen von "Hm"-Lauten reagiert.
"Julie? Julie, bist du noch da?"
"Natürlich... ich werde es mir überlegen. Vielleicht sehe ich mir morgen noch das Atomium an. Wer weiß, wann ich noch einmal die Chance habe, Brüssel zu besuchen."
Lucas räuspert sich ärgerlich.
"Mir wäre es lieber, wenn du gleich zurückkommst und nicht darauf wartest, dass sichdiese Leute melden. Je länger du da bleibst und wartest, desto enttäuschter bist du wieder."
"Ich weiß. Morgen Abend fliege ich..."
"Versprochen?"
"Versprochen."

Er hat sich gerade zum Schlafen hingelegt, als es an seiner Tür klopft.
"Erik?" fragt eine verheulte Stimme "Bist du noch wach? Bitte mach auf..."
"Gabrielle, was habe ich dir heute Mittag gesagt?" seine Stimme klingt streng, während er ein Glas Wasser eingießt und einen Blister Schlaftabletten aus seinem abschließbaren Nachttisch holt.
"Aber du weißt doch, wie das ist!" schluchzt Gabrielle "Ich kann nichts dafür!"
"Oh doch, du kannst sogar sehr viel dafür, wenn du deine Medikamente nicht nimmst."
"Bitte mach auf. Es tut mir leid. Ich verspreche, ich tus nie wieder!"
"Das sagst du jedes Mal." Er nimmt die zweite Decke vom Fußende und breitet sie aus. "Geh zurück in dein Bett und sieh zu, dass du alleine damit fertig wirst."
"Bitte schick mich nicht weg! Bitte! Lass mich nicht allein!"
Er hört, wie sie an der Tür nach unten rutscht, und wartet noch ein paar Minuten, in denen er aufmerksam jedes Geräusch aus dem Flur registriert. Schließlich öffnet er die Tür und trägt Gabrielle zu seinem Bett hinüber.
"Warum machst du den selben Fehler immer wieder? Was geht nur in deinem Kopf vor?" fragt er, während sie gehorsam ihre Tabletten schluckt und sich dann sich wie ein verängstigtes Kind an ihn schmiegt.
"Das weißt du doch." antwortet sie tonlos.
"Ja. Und morgen wird es dir schon wieder besser gehen."
"Sie ist tot!"
Er verdreht die Augen und beißt seine Zähne zusammen.
"Ich weiß."

"Ich will nicht."
"Bitte, Gabrielle."
"Aber ich will nicht!" sie rutscht vom Stuhl herunter und stampft zur Tür "Ich habe keine Lust auf noch mehr Löcher im Arm und ich will keine Chemie fressen! Ich brauch das alles nicht mehr!"
"Gabrielle." Er verdreht die Augen und geht ihr nach "Wir haben das wirklich oft genug durchgespielt."
"Aber es geht mir doch schon wieder gut!" Sie will losrennen, ins Foyer hinaus, doch er fängt sie am Arm ab und schleppt sie zurück in den blaugestrichenen Behandlungsraum.
"Das ist Teil der Krankheit und das weißt du." leiert er herunter "Du bist nur stabil, wenn du deine Phasenprophylaxe nimmst, und um die richtig dosieren zu können, muss ich deinen verdammten Serumspiegel messen."
"Letzte Nacht hab ich nur schlecht geträumt."
"Selbst wenn es so wäre, täte es nichts zur Sache, Gabrielle."
"Alter Vampir!" knurrt sie und schiebt ihren Ärmel hoch.
"So ist es brav." Er macht eine Kanüle fertig. "Gleich piekst es."
"Als wenn ich das nicht wüsste."

Das Telefon neben ihr reißt sie aus dem Schlaf. Ein kurzer Blick auf die Uhr... Halb acht morgens. Körperverletzung!
'Lucas.' durchfährt es sie verärgert. Er hat gestern noch zwei Mal angerufen, um sich immer wieder davon zu überzeugen, dass sie heute Abend auch tatsächlich zurückkommen wird.
Entnervt reißt sie den Hörer von der Gabel.
"Lucas, verdammt, ich nehm den Flug ja!" brummt sie verschlafen in den Hörer.
"Guten Morgen, Mademoiselle Deniaud."
"Oh..." Mit einem Mal ist sie hellwach. Hastig richtet sie sich in ihrem Bett auf und fährt sich durch die Haare. "Entschuldigung, ich... ich dachte Sie wären mein... Sind Sie es... Erik?"
"So ist es. Seien Sie bitte heute gegen sechzehn Uhr bei mir, ich möchte Ihnen noch einige Fragen stellen."
"Sechzehn Uhr?" wiederholt sie langsam. Mist, der Flug würde um siebzehn Uhr gehen... wie soll sie das Lucas beibringen, ohne einen seiner berühmten Ausraster zu riskieren? "Das... das lässt sich machen, denke ich."
"Gut. Auf Wiederhören."
Tuut... tuut... Aufgelegt! Entgeistert starrt sie den Telefonhörer an. Heißt das jetzt, dass sie den Job hat? Sie schwingt die Beine aus dem Bett. Lucas... das muss sie sofort Lucas erzählen! Eilig tippt sie seine Nummer ein und trommelt mit den Fingern auf dem Nachttisch herum.
"Oliver!" murmelt eine müde Stimme am anderen Ende der Leitung.
"Hab ich dich geweckt?"
"Julie? Nein... nein ich wollte gerade schlafen gehen." sagt Lucas nun bedeutend lauter. "Was ist los? Soll ich dich vom Flughafen abholen? Hast du doch schon den früheren Flug..."
"Nein." unterbricht sie ihn aufgeregt "Lucas, pass auf... es ist... Also, es sieht so aus, als würde sich das ganze doch anders entwickeln. Ich muss noch mindestens bis morgen bleiben. Und wenn ich den Job nun doch bekomme, sogar noch länger."
Lucas zieht die Luft ein und stöhnt.
"Du kommst nicht? Aber Julie, du hast..."
"Ich hab es versprochen, als ich dachte, ich hätte sowieso keine Chance, den Vertrag zu unterschreiben. Aber gerade hat Erik angerufen."
"Erik!" fällt Lucas ihr barsch ins Wort "Ich finde es abartig, dass du ihn mit Vornamen anredest!"
Sie runzelt die Stirn.
"Es ist der einzige Name, den er hat. Und sonst stört es dich doch auch nicht, wenn ich..."
Lucas seufzt laut.
"Dann sehen wir uns eine ganze Weile nicht mehr." mault er unglücklich.
"Wahrscheinlich... Du, ich muss jetzt auflegen. Ich will mich heute etwas besser vorbereiten, nur für den Fall, dass ich aus irgendeinem Grund noch mal singen muss. So einen Patzer wie gestern will ich mir nicht mehr erlauben."
Er schnaubt unzufrieden.
"Wenn ich nicht so sehr hoffen würde, dich bald wiederzusehen, würde ich dir Glück wünschen."
"Danke. Ich leg jetzt auf!"
"Julie?"
"Ja?" Sie lauscht, als eine lange Pause entsteht.
"Naja,du weißt schon..."
Enttäuscht schürzt sie die Lippen.
"Ich dich auch."

Er hat Gabrielle auf ihrem Bett vor dem laufenden Fernseher abgestellt wie ein unliebsames Kleinkind. Sie ist sediert und entsprechend friedlich, dennoch hat er die Gegensprechanlage auf 'Babyphon' gestellt und trägt einen kleinen Empfänger bei sich.Widerwillig verlässt er den privaten Bereich seines Hauses, um sich an die Rezeption zu setzen. Meistens sagt er seine Termine ab, wenn es Gabrielle schlecht geht, aber er muss Julie noch einmal hören, ehe er entscheiden kann, was zu tun ist.
Punkt sechzehn Uhr. Sie stößt die Tür auf und sieht sich um. Vor ihr liegt die verlassene Rezeption. Von Gabrielle fehlt jede Spur.
"Hallo?" Sie blickt sich suchend um. War da gerade eine Bewegung im Gang rechts von ihr? Sie verengt die Augen zu schmalen Schlitzen. "Hallo? Ist hier jemand?"
"Guten Tag, Mademoiselle Deniaud. Bitte folgen Sie mir." Er stößt sich von der Wand ab und lässt die Tür los, die er bis dahin offen gehalten hat.
Julie versucht angestrengt, etwas zu erkennen, doch sie ist nochgeblendet vom grellen Sonnenlicht, kann nicht mehr als eine schemenhafte Gestalt ausmachen, die sich vor ihr bewegt.
"Ich dachte, ich würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Das Taxi... wir sind direkt in eine rote Welle gefahren unddann war da noch ein Unfall..." versucht sie, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, um ihrer wachsenden Unruhe Herr zu werden.
"Bitte hier herein." er deutet auf die geöffnete Tür von Studio 3. "Nehmen Sie Platz, ich bin gleich bei Ihnen."
Erst ein schummriger Gang, nun ein schummriger Raum... Und das, wo sie Angst vor der Dunkelheit hat. Klasse! Mit steifen Schritten tritt sie ein und will sich dann wieder Erik zuwenden, doch er ist bereits verschwunden.
Nervös setzt sie sich auf einen Hocker in der Nähe der Tür und sieht sich um. Der Raum liegt durch gerichtete Leuchtelemente zur Hälfte in fahlemLicht, der Rest ist fast völlig dunkel und lässt sich nur erahnen. Irgendwo da hinten steht ein Stuhl... und etwas, das vielleicht ein Klavier sein könnte.
Angespannt fährt sie mit der Zunge über ihre Lippen und wirft einen verstohlenen Blick neben sich. Auf dem Tisch liegt ein Textblatt, aber sie wagt nicht, nachzusehen, um was es sich handelt. Aber wahrscheinlich ist er ganz einfach nach dem gestrigen Tag zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, ihr Noten und Text in die Hand zu drücken, damit sie nicht wieder alles vergisst.
Er beobachtet Julie einen Moment, nachdem er leise durch die Tür am dunklen Ende des Raumes eingetreten ist. Wenn er nur wüsste, was mit ihrer Stimme los ist. Er hat das Tape wieder und wieder gehört, nachdem Gabrielle endlich eingeschlafen war, aber er konnte nicht festnageln, was ihn trotz Julies vielen Fehlern so anzieht. Objektiv betrachtet sind da keine Auffälligkeiten; ihre Stimme ließe sich mit dem geeigneten Training zu einem guten, wenn nicht sogar erstklassigen, lyrischen Sopran ausbauen, ihr Vibrato hat Charme, ihr Timbre ist weich und ansprechend - aber da ist nichts, das seine Unruhe rechtfertigen könnte.
Kopfschüttelnd geht er zum Flügel hinüber.
"Ich freue mich, dass Sie so kurzfristig kommen konnten. Neben sich finden Sie eine Partitur. Beginnen Sie gleich, wenn Sie vom Blatt singen können, ansonsten nehmen Sie sich etwas Zeit und sagen Sie mir, wenn Sie bereit sind."
Erschrocken zuckt Julie zusammen und presst die Lippen aufeinander. Sie hat sein Kommen weder gesehen noch gehört. Sie nimmt das Notenblatt auf und starrt eseinen Moment lang an. Das Stück darauf kennt sie nicht. Es enthält sehr große Sprünge zwischen den Tonhöhen, zahllose Koloraturen und Verzierungen, eine halsbrecherische Kadenz... In der Hand hält sie eine Teststrecke für ihre Stimme, die mit jedem Takt schwieriger wird.
Sie runzelt die Stirn und beginnt zu singen. Zuerst kommen ihr die Töne sehr leicht von den Lippen, dann stockt sie, verhaspelt sich und sieht abwartend in seine Richtung.
"Weiter."
Das Klavierspiel setzt fünf Takte früher wieder ein und sie versucht die Stelle noch einmal, mit einigen Schwierigkeiten.
Das Ganze wiederholt sich vier oder fünf Mal, und schließlich sinkt sie erschöpft auf ihren Stuhl zurück. Sie hat es versaut. Dieses Mal endgültig. Wenn dieses Lied für die Stimme ausgelegt ist, die den Filmsoundtrack singen soll, ist sie die denkbar schlechteste Wahl.
"Ich habe nichts von Aufhören gesagt, Mademoiselle." Er spielt einen Lauf mit der linken Hand "Beginnen Sie noch einmal im fünfzehnten Takt. Achten Sie hier besonders auf Ihre Stütze. Sie neigen auch dazu, ihren Kiefer zu verkrampfen. Bleiben Sie entspannt. Und bitte."
Julie hebt die Augenbraue und steht wieder auf.
'Etwas zu trinken wäre auch nicht schlecht...' denkt sie missmutig. Dochsie tut kommentarlos, was er von ihr verlangt. Irgendetwas sagt ihr, dass es besser ist, ihm zu folgen - und warum zum Teufel kommt ihr seine Stimme so vertraut vor?
Sie schüttelt den Kopf und bemüht sich um Konzentration, kommt aberauch im zweiten Anlauf nicht weiter als beim ersten Mal. Doch Erik lässt nicht von ihr ab.
"Unter dem Tisch stehen ein Glas und eine Wasserflasche. Trinken Sie und versuchen Sie es dann noch einmal. Sie müssen Ihren Kiefer entspannen. Stehen Sie aufrechter. Sie vergessen außerdem, Ihr Becken zu kippen."
Julie trinkt, tut was er gesagt hat und kneift die Augen zusammen. Warum kommt er nicht zur ihr, sondern bleibt weiterhin im Dunklen sitzen? Lucas hatte Recht, er ist wirklich extrem spleenig - oder schüchtern. Ihr Gesangslehrer zuhause in Québec hätte es sich an dieser Stelle jedenfallsnicht nehmen lassen, sie persönlich in die richtige Position zu stellen, ihre Hände auf ihr Zwerchfell zu pressen und ihr die richtige Atmung oder sonst etwas zu zeigen.
Bemüht, dieses Mal alles richtig zu machen, singt sie los, und hängt wieder an derselben Stelle.
"Und gleich noch einmal." bestimmt Erik unerbittlich "Takt fünfzehn. Denken Sie an Ihren Kiefer und Ihre Stütze, das Becken war schon viel besser."
Doch Julie hebt abwehrend die Hände.
"Tut mir wirklich leid. Aber ich kann nicht mehr." seufzt sie und reibt sich den Hals.
"Können Sie nicht mehr oder wollen Sie nicht mehr?"
"Wenn ich keine Lust mehr hätte auf den ganzen Kram, säße ich bereits seit..." sie schaut auf ihre Uhr "... über einer Stunde im Flieger zu meinem Freund." entgegnet sie genervt. Wie sie solche Sprüche hasst. Lucas beherrscht das auch ausgezeichnet, ihr auf diese Weise noch ein schlechtes Gewissen zu machen.
"Kram?"
"Entschuldigung... Ich bin wirklich vollkommen erledigt." murmelt sie verlegen "Irgendwie hängt mir der Flug noch in den Knochen."
"Jetlag... Ich werde Sie unterrichten. Kommen Sie morgen wieder, wenn Sie sich ausgeruht fühlen. Rufen Sie vorher an."
Julie runzelt die Stirn.
"Darf ich fragen, wie lange Sie mich unterrichten werden?"
'Nur damit ich das meinem Freund irgendwie schonend beibringen kann.' fügt sie in Gedanken hinzu und steht auf.
"Bis zu den Aufnahmen in drei Wochen natürlich. Ich nehme an, die Tür finden Sie auch allein?"
"Ähm, eigentlich..." wäre das die Gelegenheit, endlich einen Blick auf ihn zu erhaschen und mehr von ihm zuerkennen, als nur einen schwarzen Schatten. "Von der Rezeptionaus finde ich zur Tür, aber... es wäre sehr nett, wenn Sie mir den Weg bis dort zeigen könnten." Außerdem ist ihr der Gedanke, allein um diese ganzen schlecht beleuchteten Ecken zu biegen sehr unheimlich.
Erik hatte sich schon zum Gehen gewandt, nun bleibt er abrupt stehen und verzieht das Gesicht. Verfluchte rhetorische Fragen.
"Natürlich." Mit einer geübten Bewegung kontrolliert er den Sitz seiner Maske und durchquert den beleuchten Teil des Raumes.
Als Julie ihn sieht, klappt ihre Kinnlade nach unten. Worauf hat sie sich da bloß eingelassen? Wenn sie Lucas davon erzählt, wird er sie persönlich nach Hause holen.
Sie hält die Luft an und folgt Erik mit gebührendem Abstand, ihn noch immer sehr interessiert und misstrauischbetrachtend. Seine dürre Gestalt ist im wahrsten Sinne des Wortes von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. Kein noch so kleines Stück Haut ist zu sehen, und selbst seine Haare sind rabenschwarz.
Spleenig... definitiv extrem spleenig. Allerdings mit einem ausgezeichneten Musikverständnis. Lange bevor sie hierher kam, hat sie sämtliche CDs mit seinen Kompositionen in ihrem Regal gesammelt. Trotzdem will sie zurück nach Québec, zu Lucas und zu den ganzen harmlos-überdrehten Leuten in den kleinen Stadttheatern.
Vielleicht sollte sie die ganze Sache abblasen...
"Dann... dann rufe ich Sie morgen irgendwann an, wenn ich es für richtig halte?" vergewissert sie sich noch einmal.
"So ist es." er hält ihr die Tür zur Rezeption auf "Dann können Sie auch gleich Ihren Vertrag unterschreiben." So oder so... er wird diese Aufnahme mit ihr machen, und wenn er die Musik umschreiben muss, damit Julie sie bewältigen kann.
"Wie ist das mit meiner Agentin? Für gewöhnlich ist sie bei so etwas anwesend und überprüft den Vertrag, bevor ich unterschreibe..." Warum um alles in der Welt freut sie sich nicht einfach? Das ist ihre Chance! Noch vor zwei Tagen hätte sie alles für diesen Vertrag getan.
"Der Vertrag wurde bereits an Madame Bernard gefaxt, sie müsste Ihnen in den nächsten Stunden ihr Okay geben. Guten Tag." Damit verschwindet er in Studio 1 und begibt sich durch die Hintertür in Gabrielles Zimmer.