Als sie den
Schlüssel im Schloss versenkt, schließen sich von hinten
zwei kalte Hände über ihren Augen."Überraschung!"
hört sie Lucas' Stimme, als sie sich erschrocken losreißt
und herumfährt.
"Du?"
Lucas drückt
ihr einen Kuss auf die Stirn.
"Ich habe doch
gesagt, dass ich es ohne dich nicht aushalte. Ich habe gleich heute
Morgen, nachdem du mich angerufen hast, den nächsten Flug nach
Brüssel genommen."
Sie befreit sich aus
seiner Umarmung und schließt kopfschüttelnd die Tür
auf.
"Das glaub ich
jetzt nicht."
"Ich wusste,
dass ich dich damit überrasche!" jubelt er hinter ihr.
Verärgert wirft
sie ihre Jacke über einen Sessel und wendet sich ihm zu.
"Überraschen?
Du bist wohl von allen guten Geistern verlassen! Ich habe gesagt,
dass es nicht lang dauern wird, okay? Ich habe dir auch versprochen,
heute Abend wieder zurückzukommen, was nicht geklappt hat. Aber
du... du... misstraust mir so, dass du mir schon nach einem einzigen
Tag nachreist?" Sie setzt sich auf die Bettkante und funkelt ihn
wütend an. "Das ist echt krank, Lucas! Was ist denn nur los
mit dir?"
Er sieht sie einen
Moment lang ungläubig an, als könne er nicht begreifen,
dass sie sich so gar nicht über seinen Besuch freut. Dann nimmt
er neben ihr Platz und ergreift ihre Hand. Sie will ihn abwehren,
doch er lässt er sie nicht los.
"Reg dich nicht
so auf. Ich will dich nicht kontrollieren, ich hatte nur Sehnsucht
nach dir; und nach allem, was du mir gestern am Telefon erzählt
hast, habe ich mir Sorgen um dich gemacht. Außerdem..." er
legt einen Arm um ihre Schulter und zieht sie ein Stück näher
an sich, um ihr in die Augen zu sehen. "... hatte ich fest damit
gerechnet, dich heute wiederzusehen."
Sie wehrt sich nur
schwach und blickt ihn mit einer Mischung aus Ärger und
Erwartung an.
"Lucas, ich
habe eigentlich überhaupt keine Zeit..."
"Heute Abend
hast du Zeit!" Und während seine Lippen ihre suchen, drückt
er sie auf das kalte Laken.
"Du
gehörst mir, meine Schöne." knurrt er und hält
sie mit einer Hand fest, während er mit der anderen an seinem
Kimono herumnestelt "Mir!
Nun hör auf, dich zu wehren, ich befehle es dir!" Er
vergräbt sein Gesicht im Seidenstoff ihres Gewandes zwischen
ihren kleinen weichen Brüsten. "Ich liebe dich, Emi, hörst
du? Und du musst mich lieben!"
Sie presst Augen und
Lippen fest zusammen und versucht, sich gegen seinen starken Griff zu
wehren.
"Nein, bitte,
lasst mich. Tut mit nicht weh!" wimmert sie flehend. Ihr ganzer
Körper wehrt sich gegen ihn, und in einem verzweifelten Versuch,
sich zu befreien, tritt sie mit den Füßen in Richtung
seines Unterleibes. Doch er fängt ihren Angriff ab und drängt
sich zwischen ihre Beine.
"Hör auf,
dich zu wehren, mein Singvögelchen..." flüstert er in
ihr Ohr "Gib dich hin, Emi... Gib dich mir ganz hin!" Leise
beginnt er, ein Lied für sie zu summen.
"Ich
kann Euch nicht lieben. Niemals!" schluchzt sie undversucht, ihre Ohren vor seiner Stimme zu verschließen,
obwohl sie weiß, dass es ihr nicht gelingen kann; zu gut kennt
sie die Kraft seines Gesangs, der schon so manchen Samurai besiegen
konnte. Ach,wie
gerne läge sie jetzt in den Armen des tapferen Katsu! Sie bäumt
sich auf, will nach ihrem Liebsten schreien, doch Akiras Lied nimmt
sie mehr und mehr gefangen, und schließlich liegt sie reglos
weinend da, spürt, wie er in sie eindringt, sich gewaltsam
nimmt, was sie ihm niemals hatte geben wollen.
"Du wirst mich
lieben, Emi, ich weiß es." keucht er zwischen seinen
heftiger werdenden Stößen "Niemand kann sich vor
meiner Stimme retten, niemand, auch du nicht, auch Katsu nicht."
Kalte
Angst presst ihre Brust zusammen
Er weiß von ihr und Katsu! Vielleicht hat er sie schon lange
beobachtet. Wie gelähmt starrt sie ihn an, während Tränen
über ihre Wangen rinnen, die er mit der Zunge fängt. Wenn
er mit ihr fertig ist, wird er Katsu töten.
"Du schmeckst
salzig." murmelt er und presst seinen Mund auf ihren "Und
süß. Wie Blut..."
Katsu ballt die
Hände zu Fäusten, als Emi ihm von Tränen geschüttelt
erzählt, was sich zugetragen hat.
"Er wird dich
töten, wenn du nicht gehst." schluchzt sie leise.
Wütend
zieht er sein Katana und späht durch das Gebüsch.
"Ich werde ihm
heimzahlen, was er dir angetan hat!"
Doch Emi fasst ihn
am Arm und hält ihn mit flehendem Blick davon ab, sofort in das
Schlafgemach des kaiserlichen Hofmagiers zu laufen.
"Das ist
Selbstmord! Niemand kann ihn besiegen, du weißt das."
"So bleibt uns
kein anderer Weg als gemeinsam zu fliehen." verkündet Katsu
entschlossen. "Denn ich werde nicht zulassen, dass er dir noch einmal ein Leid antut. Wenn er mich tötet, kann ich dir nicht
mehr helfen, also werde ich mit dir gehen. Und je eher wir fort sind,
desto besser für uns."
Mit der Spitze
seines gezogenen Katana droht Akira dem zitternden Mann zu seinen
Füßen.
"Du hast sie
entwischen lassen, du Tölpel? Dann geh und melde dem Kaiser,
dass sich in den Wäldern vor der Stadt der Deserteur Nishimura
Katsu und die entlaufene Sklavin Emi herumtreiben. Sorge dafür,
dass man sie mir bringt! Die Sklavin und Nishimuras Kopf!"
Wütend schiebt
er seine Waffe zurück in die Saya und wendet sich ab. Wie kann
sie es wagen, eine Flucht zu versuchen! Wie kann sie so dumm sein!
Sie sind noch nicht
weit gekommen, als die Samurai des Kaisers sie einholen. Mit
gespannten Bogen und gezückten Katana näheren sie sich
ihnen."Im Namen
unseres Herrschers und des kaiserlichen Hofmagiers befehlen wir euch,
umzukehren."
Katsus Hand schließt
sich um Emis und er schüttelt den Kopf, als er ihren fragenden
Blick sieht. Seine andere Hand nähert sich seiner Waffe.
"Lauf!"
flüstert er Emi zu, die jedoch nicht von seiner Seite weicht. "Wenn sie dich
zurückbringen, wird er dich wieder und wieder nehmen."
drängt er. Doch auch jetzt rührt sie sich nicht.
"Nishimura
Katsu, wir befehlen dir und der Konkubine im Namen..."
"Wir
kehren nicht um!" brüllt er zurück.
Im nächsten
Moment löst sich Emis Hand von seiner und stößt ihn
zur Seite.
Als es an seiner Tür
klopft, fährt Akira zusammen und hält in seiner unruhigen
Bewegung inne.
"Komm herein!"
"Akira-sama."
unter vielen Verbeugungen nähert sich der Oberbefehlshaber der
königlichen Armee "Wir konnten die Flüchtigen
aufspüren. Katsu wurde im Kampf getötet; ich bringe seinen
Kopf."
Hinter dem
Oberbefehlshaber tritt ein Diener mit einem Korb durch die Tür,
und dahinter... Akiras zufriedenes Lächeln erstarrt.
"Die Konkubine
wurde leider von einem Pfeil getroffen."
Mit einem gequälten
Aufschrei stürzt Akira vor und entreißt dem zweiten Diener
Emis toten Körper.
"Hinaus mit
euch! Ihr unfähigen Bastarde!"
Als er wieder
alleine ist, bricht er weinend zusammen und schleudert seine Maske
von sich, um Emis Gesicht mit zärtlichen Küssen zu
bedecken.
"Meine schöne
Emi... Emi... Mein Singvögelchen... Warum nur musstest du dich
immer wehren!..."
Seine Finger gleiten
durch ihr Haar und er betrachtet nachdenklich ihre blasse Haut.
"Warum lässt
du mich dir nicht einfach nah sein?"
Sie blinzelt und
dreht sich zu ihm.
"Hast du was
gesagt?" murmelt sie verschlafen.
Mit den
Fingerspitzen fährt er die Konturen ihres makellosen Mundes
nach.
"Nein, ich habe
nur laut gedacht. Nicht so wichtig." Er zieht die dünne
Decke zu sich und bedeckt ihren nackten Körper, als er sieht,
dass sich die kleinen Härchen auf ihren Armen aufstellen.
"Wann musst du
wieder singen?"
Lächelnd
schließt sie die Augen.
"Er hat gesagt,
ich darf meinen Jetlag ausschlafen." flüstert sie in sein
Ohr.
Auf seinem Gesicht
spiegelt sich ein zufriedenes Grinsen, als er sie an sich zieht.
"Das heißt,
ja, dass wir jede Menge Zeit haben."
Er
hat die Nacht wach neben Gabrielle im Bett verbracht und anhand des
Demotapes ein ungefähres Stärke- und Schwäche-Profil
von Julies Stimme erstellt. Unzufrieden mustert er sein Ergebnis. Sie macht
Fehler, viele Fehler, die zu ihren häufigen Lehrerwechseln
passen... doch ihre Stimme an sich, losgelöst von fachlichen
Ansprüchen, ist makellos; auch wenn im Moment nur er in der Lage
zu sein scheint, es zu hören.
Er seufzt, dann
streicht er Gabrielle über den stoppeligen Kopf, um sie zu
wecken.
"Wie hast du
geschlafen?"
Sie räkelt
sich.
"Gut. Hast du
gesungen?"
"Nur wenn du
unruhig geworden bist. Wenn du gleich brav deinen Serumspiegel messen
lässt, mache ich dir freiwillig ein Frühstück."
"Rührei...
Speck... Pfannekuchen... mit Ahornsirup... zum Nachtisch Eis..."
"Und eine große
Torte, jaja."
"Dabei habe ich
gar keinen Hunger."
Julie misst Lucas
mit einem ärgerlichen Blick, als er pfeifend neben ihr den
Gartenweg entlangläuft. Wieso hat sie sich nicht gegen ihn
durchgesetzt!'Julie,
du musst verstehen, dass ich mir selbst ein Bild von diesen Leuten
machen möchte. Und egal was deine Managerin sagt, ich würde
gerne selbst noch einmal über den Vertrag lesen. Nur um sicher
zu sein, dass sie wirklich nichts übersehen hat.' Als ob er
mehr Ahnung davon hätte als Aimée.
Lucas bemerkt ihren
Blick, hört auf zu pfeifen und streichelt grinsend ihre Wange.
Sie dreht den Kopf weg.
"Lass das."
faucht sie ihn an.
"Immer noch
böse?"
"Ja, verdammt!"
Sie bleibt stehen und wehrt seine Hand ab. "Die halten mich doch
für total unselbstständig, wenn ich hier mit meinem Wachhund
auftauche."
"Wuff!"
bellt Lucas amüsiert.
Kopfschüttelnd
setzt sie sich wiederin Bewegung, schnell genug, damit er nicht mit ihr Schritt
halten kann.
"Nun stell dich
mal nicht so an. Die werden schon nichts dagegen haben, wenn ich mich
ruhig in eine Ecke setze und zuhöre." ruft er ihr hinterher
und holt sie schließlich an der Eingangstür ein.
"Die
vielleicht nicht, aber was sagt dir, dass ich
nichts dagegen habe?" Sie reißt die Tür auf und
entdeckt Gabrielle, wieder ganz in Schwarz, an der Rezeption. Nur
ihre Haare sehen heutevollkommen anders aus als noch vor zwei Tagen -
blondgelockt statt rot und glatt. Obwohl ihr die Frau suspekt ist,
beeilt sichJulie,
zu ihr zu gehen, und Lucas völlig zu ignorieren.
"Bonjour,
Gabrielle..." Sie betrachtet das kunstvoll geschminkte Gesicht
der Assistentin "Die neue Frisur steht Ihnen gut."
Gabrielle lächelt
matt, einmal in Julies Richtung und einmal in Richtung des Kerls, den
sie mitgeschleppt hat. Dann stakst sie hastig auf ihren hochhackigen
Stiefeln zur Gegensprechanlage.
"Ja?"
Sie schnippt in
Richtung Julie.
Die hört, wie
Lucas hinter ihr scharf die Luft einzieht und näher kommt.
"Julie
Deniaud." ruft sie eilig.
"Und Lucas
Oliver... ihr Verlobter." ertönt Lucas' Stimme hinter ihr.
Julie schließt
die Augen und zählt innerlich bis zehn, um ihm nicht sofort an
den Hals zu gehen. Langsam dreht sie sich zu ihm und wirft ihm einen
ihrer tödlichen Blicke zu.
"Verlobt? Seit
wann?" zischt sie wütend.
"Der Junge
bleibt draußen!" tönt es scharf aus dem Lautsprecher.
Gabrielle seufzt
leise und betrachtet einen Moment lang die Gegensprechanlage. Ein
Strichcode stellt die einzelnen Stockwerke und Zimmer dar.
'Warum eigentlich
ein Strichcode? Warum nicht... Zahlen und Buchstaben?... Oder ein
Farbencode... dann sähe die Rezeption gleich viel fröhlicher
aus.'
Mit schief gelegtem
Kopf dreht sie sich um und taxiert Lucas.
"Du bleibst
hier, sie kommt mit." säuselt sie dann, die Hände vor
dem Bauch gefaltet "Auch wenn es mich schmerzt, das junge Paar
zu trennen. Des Meisters Wille ist des Meisters Wille. Komm, Julie,
heute siehst du etwas Neues."
Lucas will
protestieren, doch Julies Blick hält ihn zurück.
Also folgt er
Gabrielles Aufforderung und nimmt auf der Wartebank Platz, während
er unzufrieden beobachtet, wie sie mit Julie hinter einer Glastür
in den linken Gebäudeteil verschwindet.
Der Flur, durch den
Gabrielle Julie führt, ist weit, tageslichtdurchflutet, und ganz
und gar nicht so beängstigend wie die Gänge, an denen die
Studios liegen.
Sie gelangen in
einen großen Raum mit vielen hohen Fenstern, hellen Bodendielen
und einem Flügel. Die Wände sind vollgehängt mit den
verschiedensten Musikinstrumenten, deren Anzahl ausreichen würde,
um zwei Orchester zu bestücken. Staunend bleibt Julie stehen und
sieht sich um.
"Wo sind wir
hier?"
"In einem
großen Raum voller Musikinstrumente." antwortet Gabrielle
freundlich. "Setz dich auf die Chaiselongue, wenn du willst.
Erik müsste sich gleich in einer der Zimmerecken
materialisieren." Damit verlässt sie den Raum, um sich mit
Julies Verlobtem auseinanderzusetzen.
Julie sieht ihr
unschlüssig nach. Vielleicht hätte sie Gabrielle vor Lucas
warnen sollen. Andererseits könnten die beiden eine Menge Spaß
miteinander haben. Und verdient hat er es heute allemal, mit
Gabrielle aneinanderzustoßen.
Mit einem
zufriedenen Grinsen lässt sie sich auf der Chaise nieder und
sucht einige Fusseln von ihrem schwarzen Lieblingsshirt.
"Mademoiselle
Deniaud. Ich freue mich, dass Sie sich entschieden haben,
wiederzukommen." begrüßt Erik sie kurz darauf kühl
und legt den Vertrag in doppelter Ausführung auf dem Flügel
aus, daneben ein Fax, in dem Julies Managerin versichert, dass sie
mit allen Paragraphen des Vertrages einverstanden ist, und ihrer
Klientin rät, die angebotene Fortsetzung ihres
Gesangsunterrichtes bei Erik über den Zeitpunkt der Aufnahmen
hinaus anzunehmen.
Verwirrt erhebt sich
Julie und geht zum Flügel. Wie zum Teufel hat er es nur
geschafft, tatsächlich aus dem Nichts aufzutauchen?
Sie blättert
den Vertrag durch, nimmt dann das Fax zur Hand und zieht die
Augenbrauen hoch.
"Fortsetzung
des Unterrichts über den Zeitpunkt der Aufnahmen hinaus?"
liest sie irritiert und sieht auf.
"Ich will Ihr Potential
ausschöpfen. Das ist nicht in drei Wochen getan." antwortet
Erik und schiebt einen schwarzen Federhalter über das Holz des
Flügeldeckels zu ihr hinüber.
"Aber...
aber ich wohne in Kanada... ich kann unmöglich..." stottert
sie.
"Ich biete Ihnen die Chance, aus
Ihrer Stimme herauszuholen, was herauszuholen ist; am Geld soll es
nicht scheitern, und soweit ich weiß, gibt es - abgesehen von
Ihrem Verlobten - nichts, das sie explizit an Québec bindet."
er faltet die Hände vor dem Mund seiner Maske und stützt
sich mit den Ellenbogen auf dem Flügel ab "Ich spreche von
einem Zeitraum, der ein halbes bis dreiviertel Jahr nicht
überschreiten wird."
"Er ist nicht mein Verlobter."
knurrt Julie gereizt "Und ich weiß wirklich nicht, ob das
Ganze so leicht würde, wie Sie sich das vorstellen. Ich würde
nicht nur private Probleme bekommen... Ehrlich gesagt kann ich mir
besseres vorstellen, als über ein dreiviertel Jahr in
irgendwelchen Hotels zu leben."
"Es existiert ein Gästehaus,
keine hundert Meter von hier entfernt, das notfalls auch für
zwei Personen genügend Raum bietet. Haustiere, Pflanzen, was
immer Ihre Abwesenheit in Kanada nicht überleben könnte,
lässt sich einfliegen, ebenso andere Besitztümer." er
wendet sich ab und geht zum Fenster, um hinauszusehen "Sie
müssen verstehen, Mademoiselle, dass Ihre Stimme weit mehr wert
ist, als Sie glauben. Mit meiner Hilfe würden Sie nicht länger
im Chor semiprofessioneller Inszenierungen singen." Er streckt
die Finger seiner linken behandschuhten Hand mit der Handfläche
nach unten aus, schließt sie kurz zur Faust und dreht sie
wieder um. Einen Moment lang betrachtet er den einfachen
Schlüsselbund, der nun darin liegt. "Ich schlage vor, Sie
machen einen Spaziergang mit Ihrem Lebensabschnittspartner und
beraten sich." Er geht zum Flügel zurück und hält
Julie die Schlüssel mit spitzen Fingern entgegen. "Gabrielle
wird Sie gerne zum Haus führen."
Julie betrachtet den Schlüsselbund
in seinen großen Händen. Und sie hätte schwören
können, dass er vor ein paar Sekunden noch nicht da war. Seine
Finger sind seltsam lang und dünn, selbst durch die Handschuhe.
Schließlich nimmt sie den Schlüssel.
"Ich werde es mit überlegen."
sagt sie und sieht ihm entschlossen in die Augen. Bernstein... so
eine Augenfarbe hat sie noch nie zuvor gesehen. Irritiert wendet sie
den Blick wieder ab. "Ich rede mit Lucas, vielleicht wird seine
Familie ihn einige Zeit länger entbehren können, oder er
kann seine Geschäfte auch von hier aus führen..." Sie
hebt noch einmal kurz den Blick und wendet sich zum Gehen. "Das
heißt aber noch nicht, dass ich tatsächlich unterschreiben
werde."
Spöttisch schauen Gabrielles
fuchsbraune Augen unter dem Pony ihrer Perücke auf Lucas'
zorniges Gesicht. Sie hat sich ein wenig bitten lassen, ehe sie ihn
wieder ins Foyer treten ließ, weil draußen ein kurzer
Regenschauer einsetzte. Nun ist sie dabei, ihn erneut in den
feuchtwarmen Sonnenschein hinauszukomplimentieren, ohne ein Wort
darüber zu verlieren.
"Na
hören Sie mal, gute Frau!" entrüstet sich Lucas
lautstark. "Behandeln Sie alle Gäste so unhöflich?"
Er stellt seinen Fuß in die Tür, damit sie ihn nicht
wieder ausschließen kann. Diese Leute sind doch krank! Vor
allem mit diesem nachnamenlosen Kerl stimmt etwas ganz und gar nicht.
Seit Lucas seine Stimme im Lautsprecher gehört hat, macht sich
das klare Gefühl in ihm breit, dass Julie auf keinen Fall hierbleiben sollte.
Gabrielle seufzt leise und schaut ihn
weiter an, fixiert seine blauen Augen unnachgiebig, bis er den Blick
senkt. Erst als Julie das Foyer betritt, lässt sie von ihm ab
und kehrt an ihren Tresen zurück.
"Können wir gehen?"
brummt Lucas missmutig und legt einen Arm um Julie.
Die holt tief Luft und schüttelt
zögerlich den Kopf.
"Nein. Ich werde dir gleich alles
erzählen, aber vorher möchte ich, dass du dir mit mir etwas
ansiehst." Sie weicht seinem fragenden Blick aus und dreht sich
zu Gabrielle. "Ihr... Chef... hat mir einen Schlüssel
gegeben. Er meinte, Sie würden mich zu dem Haus bringen."
"Das Haus!" Gabrielle strahlt
"Natürlich. Es wird dir gefallen. Komm..."
Lucas' Finger schließen sich um
Julies kalte Hand.
"Was ist hier los?" fragt er
leise, als Gabrielle an ihnen vorbeirauscht.
"Nicht jetzt. Bitte!" hastig
zieht Julie Lucas mit sich.
Über die Wiese vor dem Haupthaus
führt ein schmaler Plattenweg direkt auf einen Wald zu, vor dem
recht malerisch ein kleines Haus steht, so gedrungen und unscheinbar,
dass Julie es bei ihrem letzten Besuch übersehen hat.
Sie stöhnt leise, als sie merkt,
dass Lucas sie noch immer fragend ansieht.
"Bitte sag mir, dass es nicht das
ist, was ich vermute." raunt er ihr zu.
Sie bleibt stehen und sieht ihm zum
ersten Mal, seit sie hier sind, in die Augen.
"Ich habe noch nichts
unterschrieben." flüstert sie hilflos "Aber wenn er
mich nach den Aufnahmen weiterhin kostenlos unterrichtet... das wäre
die Gelegenheit für mich..."
Lucas seufzt und streicht ihr eine
Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Ich habe befürchtet, dass
genau das passiert... dass er dich noch länger hier behalten
möchte. Als du hierher bestellt wurdest, hast du gesagt, dass es
eine Sache von drei Wochen wäre und nun..."
Julie zwingt sich zu einem Lächeln
und wirft dem Haus einen Blick zu. Es ist so klein...
"Er hätte nichts dagegen,
wenn du bleibst. Du müsstest nur mit deinen Eltern
telefonieren." murmelt sie schwach.
"Hier in dieser winzigen
Bruchbude? Julie, du stellst dir das so einfach vor... Aber..."
Sie drückt ihm einen Kuss auf den
Mund um ihn zum Schweigen zu bringen.
"Lass es uns doch erstmal ansehen,
okay?"
Damit
zieht sie ihn zum Eingang, wo Gabrielle geduldig wartet, und schließt die Tür auf.
Dahinter befindet sich ein winziger
Flur, von dem es links in eine kleine, vollverchromte Küche und
rechts in ein ganz in Weiß gehaltenes Bad geht, mit einer
Wanne, über die sich ein großer Ficus wölbt.
Geradeaus öffnet sich ein erstaunlich weitläufiges,
sonnendurchflutetes Wohnzimmer. Auch hier ist der Boden - wie in Flur
und Küche - mit hellem Kork ausgelegt; das geräumige Sofa
im hinteren Drittel ist mit ungebleichtem Leinen bezogen, die
Vorhänge sind aus Rohseide. Neben dem Sofa schwingt sich eine
freischwebende Treppe auf eine kleine, offene Galerie, die auf der
einen Seite von Bücherregalen gesäumt ist, auf der anderen
befinden sich ein Kleiderschrank und ein großes Bett mit einem
ebenfalls rohseidenen Himmel.
"Außerdem ist die Akustik
hier natürlich perfekt." erklärt Gabrielle und deutet
auf ein paar kleine, gezielt angebrachte Lautsprecherboxen. "Den
Weg zurück zum Hauptgebäude findet ihr sicher? Schaut euch
nur alles genau an." Damit dreht sie sich um und verschwindet.
"Julie." stöhnt Lucas
und dreht sich um die eigene Achse.
Sie lässt sich auf das Sofa fallen
und sieht ihn flehend an.
"Ich weiß... ich finde die
beiden auch etwas seltsam. Aber überleg doch mal... Ich würde
alles kostenlos bekommen, könnte hier wohnen und lernen. Und
wenn sein Name in meinem Lebenslauf auftaucht..."
"Kannst du nicht wenigstens in ein
Hotel ziehen? So nah bei ihm..." er seufzt und setzt sich neben
sie. Dann greift er nach ihren Händen und fährt die Linien
auf ihren Handflächen mit dem Zeigefinger nach. "Der Mann
ist mir wirklich unheimlich."
"Aber so kann ich am effektivsten
arbeiten."
"Du wirst es nachts nicht
aushalten. Es wird stockdunkel hier und..."
"Dann bleib hier und pass auf mich
auf." unterbricht sie ihn und lächelt.
Seufzend schüttelte er den Kopf,
doch dieses Mal zieht sie ihn zu sich.
"Ich
würde mich ohnehin viel wohler fühlen, wenn du michhier nicht allein lässt. Wenigstens in den ersten
Wochen." fährt sie fort. Sein wunder Punkt. Er konnte noch
nie nein sagen, wenn sie ihn braucht.
Ein zaghaftes Lächeln schleicht
sich auf sein Gesicht.
"Na gut. Ich werde mit meinen
Eltern reden, wenn dir das alles hier wirklich so wichtig ist. Aber
sobald du es nicht mehr aushältst, fahren wir. Vertrag hin oder
her."
Er hockt im Schneidersitz auf dem
Flügel. Seine Handschuhe hat er ausgezogen und malt mit dem
Federhalter komplexe Ornamente auf seine Haut. Erst mit der linken,
dann mit der rechten Hand. Als Julie hereinkommt, schaut er auf, hält
jedoch nicht in seiner Tätigkeit inne.
Einen Moment lang bleibt sie im
Türrahmen stehen und beobachtet ihn fasziniert. Dann zwingt sie
sich zu einem freundlichen Lächeln.
"Mein
Freund telefoniert gerade und versucht das ganze mit seinen... seinem
Arbeitgeber zu regeln... Von meiner Seite würde dem Vertrag also
nichts im Wege stehen." murmelt sie, ohne die Augen von seinen
langen, spindeldürren Fingern zuwenden.
"Dann unterschreiben Sie." Er
hält ihr den Stift entgegen.
Sie
nimmt ihn, macht jedoch keine Anstalten ihn auch zu benutzen.
"Noch eine Frage... wie sieht es
mit Internetanbindung in diesem Häuschen aus?" Sie spielt
kurz mit dem Stift in ihrer Hand. "Und gibt es hier einen
wirklich guten Honigdea... Imker?"
"Es liegt DSL im Haus. Und falls
Sie Waldhonig mögen: Ich halte drei Stöcke."
Waldhonig... etwas anderes hätte
sie auch nicht gegessen. Sie nickt zufrieden.
"Okay, wo muss ich
unterschreiben?"
"Haben Sie sich auch über den
Unterricht Gedanken gemacht?" fragt er, nachdem er selber ein
'E' unter den Vertrag gekrakelt hat.
"Inwiefern?"
"Nun, ob Sie mein Angebot annehmen
oder ausschlagen möchten."
"Ich nehme an." sagt sie und
legt den Stift neben ihn auf den Flügel.
"Gut. Gehen Sie nun zu Gabrielle,
damit sie alles für Sie notwendige in Québec in die Wege
leiten kann."
"Ich denk, dazu bin ich selbst in
der Lage." protestiert Julie mit einem Stirnrunzeln. "Ein
Anruf genügt, und meine Agentin lässt mir alles
Lebensnotwendige zukommen."
"Dann kontaktieren Sie Ihre
Agentin."
"Sehr
schön." brummt sie und macht einen Schritt zurück.
"War das alles oder möchten Sie noch etwas mit mir
besprechen?"
"Wenn Sie keine weiteren Fragen
haben, ist die Besprechung beendet. Kommen Sie morgen um neun Uhr zu
Ihrer ersten Stunde in diesen Raum."
"Okay, dann... bis morgen."
"Bis morgen." Nachdenklich
schaut er ihr hinterher, wie sie das Zimmer verlässt. Wenn er
sie unterrichtet, wird er endlich herausfinden, was mit ihrer Stimme
ist... Und für einen kurzen Moment empfindet er Furcht vor
diesem Gedanken.
Es
dämmert schon, als Julie und Lucas mit Koffern und Taschen
bepackt, den kleinen Pfad zu ihrem neuen Zuhause gehen. Automatisch
drängt sich Julie näher an ihn und blickt sich um.
"Wir sind gleich da."
beruhigt er sie. Flüchtig küsst er ihren Scheitel.
Unter ihren Füßen knacken
Äste, irgendwo aus dem Wald dringen ungewohnt laute Schreie von
einem Käuzchen zu ihnen. Mit zitternden Händen schiebt
Julie den Schüssel ins Schloss und atmet erleichtert auf, als
das Licht im Flur auf Anhieb funktioniert.
Lucas stellt die Koffer neben sich ab,
dann schließt er die Tür.
"Siehst du? Alles halb so schlimm.
Wir machen jetzt die Tür zu und lassen die Dunkelheit draußen."
Er lächelt sie aufmunternd an und trägt den ersten Koffer
auf die Galerie, während Julie Richtung Küche schleicht,
die Hand durch die Türspalte streckt und nach dem Schalter
tastet. Sie wirft einen vorsichtigen Blick in die erleuchtete Küche,
bevor sie eintritt.
Hoffentlich
steht hier noch irgend etwas Essbares herum
- ihr Magen knurrt und sie haben natürlich nicht
daran gedacht, etwas zu essen zu kaufen. Als sie die Kühlschranktür
aufzieht, stellt sie erfreut fest, dass er bis oben gefüllt ist,
mit Brot und Käse... und zwei kleinen Gläsern Waldhonig.
Sie grinst. Es hätte sie wirklich schlechter treffen können.
Ein Hobbyimker, der gleichzeitig komponiert und sie kostenlos
unterrichten will. Allerdings fragt sie sich, warum er all dies
überhaupt tut. Ganz uneigennützig..? Oder kommen am Ende
doch noch irgendwelche Forderungen auf sie zu? Ach was... Bestimmt
nicht.
Julie zieht eines der Gläser aus
dem Schrank, dreht es in den Händen und beobachtet interessiert,
wie sich die zähflüssige, dunkle Masse darin bewegt. Dann
schraubt sie es auf, um einen Finger tief hineinzutauchen. Sie weiß
ganz genau, dass Lucas es hasst, wenn sie das tut, aber momentan
scheint er zu sehr mit Auspacken beschäftigt zu sein, um eine
Bemerkung zu machen.
Hoffentlich gewöhnt sie sich bald
an ihren neuen Gesangslehrer und seine seltsame Assistentin. Und
hoffentlich wird sie die Nächte hier überleben, wenn Lucas
wieder in Québec ist.
bFußnoten/b
iKatana/i japanisches Langschwert
iSaya/i z.T. kunstvoll verzierte Schwertscheide aus Magnolienholz
