Pünktlich
um neun Uhr - viel zu früh, wenn es nach ihr ginge - klopft sie
kurz an die Tür des Musikzimmers und tritt dann ein. Erik steht
an einem der riesigen Fenster und sieht nach draußen. Sie
räuspert sich.
"Guten
Morgen, Erik."
"Guten
Morgen, Mademoiselle Deniaud." Er dreht sich nach ihr um und
lächelt kurz hinter seiner Maske. "Ich hoffe, Sie haben in
Ihrer ersten Nacht im neuen Heim etwas Angenehmes geträumt."
Sie hebt die
Hände.
"Ich
träume fast nie gut..."
'Seit drei
Jahren.' fügt sie in Gedanken hinzu. Langsam tritt sie auf den
Flügel zu und berührt mit den Fingerspitzen die glänzende
Oberfläche.
"Aber
vielen Dank für den Honig. Er war wirklich sehr lecker."
Erik nickt
kurz, dann schiebt er ihr einen Stapel Noten zu.
"Das
werden Ihre Aufgaben sein; doch zuerst würde ich gern ein paar
Tonleitern von Ihnen hören. Achten Sie schon jetzt auf Ihr
Becken, Ihre Stütze und Ihren Kiefer. Das sind Ihre
Hauptfehlerquellen."
Mit den Noten
in der Hand tritt sie ein paar Schritte zurück, damit er am
Flügel platz nehmen kann. Wieder betrachtet sie seine Hände...
lang, dürr... sehr ungewöhnlich. Ein paar dunkle Stellen
sinddarauf, die nicht von schwarzer Tinte stammen können...
Altersflecken? Wie alt ist er überhaupt? Sie reißt den
Blick von ihm und starrt angestrengt auf die Noten, während Erik
am Flügel platz nimmt und ein A vorgibt.
"Und
bitte."
Julie legt die
Noten zur Seite und beginnt, auf seine Ratschläge bedacht, ihre
Tonleitern zu singen.
Bald schon
unterbricht er sie.
"Ich
verstehe, dass Sie nervös sind. Versuchen Sie dennoch, sich zu
entspannen und die Töne fließen zu lassen, besonders die,
die an der Grenze Ihres Stimmumfanges liegen. Noch einmal."
Julie kräuselt
die Nase, setzt erneut an und bemüht sich, seinen Anweisungen zu
folgen. Verflucht, sie wünschte, wenigstens die Tonleitern
würden ihr heute leicht fallen!
Wieder
unterbricht Erik sie.
"Rümpfen
Sie nicht die Nase über sich selbst. Hören Sie auf, zu
wollen. Tun Sie es einfach. Singen Sie... Und bitte."
Ihre Augenbraue
zuckt, ohne dass sie es verhindern kann. Er ist wesentlich fordernderals ihr Lehrer in Québec, zu dem sie regelmäßig
geht. Sie setzt noch einmal an und schließlich nickt Erik und
deutet auf die Notenblätter auf dem Piano.
"Das war
schon besser. Schlagen Sie jetzt Seite drei auf. Halbes Tempo."
Julie greift
nach den Noten, umsie kurz zu überfliegen. Wieder eine
dieser krudenStimmübungen, die ihr schon gestern
Schwierigkeiten bereitete haben. Hastig befeuchtet sie ihre Lippen
mit der Zunge und wirft ihm einen kurzen Blick zu.
"Und
bitte." Er lässt sie das ganze Stück durchmachen, ehe
er sie einen Moment lang schweigend ansieht. "Gleich noch
einmal." sagt er dann "Und vergessen Sie alles, was ich
gesagt habe. Denken Sie nur an Ihre Stütze, das Übrige ist
in diesem Moment egal. Halbes Tempo. Und bitte."
Er sitzt noch
immer am Klavier, als Gabrielle zwei Stunden später hereinkommt.
"Hier ist
dein Zeug." flötet sie und stellt ein markiertes Glas mit
Orangensaft vor ihm ab. Dann nimmt sie die Noten, die noch auf dem
Flügel liegen. "Und, ist sie besser als ich?" Mit
gerunzelter Stirn beginnt sie zu singen, was auf dem Blatt steht, um
zwei Halbtöne nach unten transponiert.
Erik setzt
seine Maske ab, leert das Glas und verzieht kurz das Gesicht.
"In
Anbetracht ihres Alters... unwesentlich." antwortet er dann.
Gabrielle
lächelt und zieht einen Ton unnötig in die Länge.
"Da sollte
ich wohl auch wieder anfangen zu üben. Komm, sag mir, was ich
falsch mache!"
"Du störst
mich beim Nachdenken."
"Der
größte Fehler von allen." Sie seufzt "Maddie hat
sich gemeldet. Sie hätte gern, dass du zurückrufst, es gibt
da einen Vorschlag von Monsieur Dawson. Außerdem haben die von
dem Kurzfilmprojekt angerufen; ich habe sie auf Freitag vertröstet.
Vergiss über diesen Unterricht nicht, dass du ein sehr gefragter
Mann mit vielen Verpflichtungen bist."
Erik verdreht
kurz die Augen.
"Stoß
so viel ab wie du kannst und leg mir wegen des Rückrufs einen
Zettel auf den Schreibtisch." Er setzt seine Maske wieder auf,
geht er zum Fenster und reagiert nicht mehr auf ihre Fragen.
Lucas schaut
von seinem Notebookauf, als Julie die Tür hinter sich
zuwirft.
Mit ein paar
Schritten ist er an ihrer Seite, drückt ihr einen Kuss auf die
Stirn und blickt sie besorgt an.
"Ist alles
okay?"
Sie nickt und
lässt sich auf das Sofa fallen.
"Klar...
alles okay... nur ein wenig müde." entgegnet sie leise.
Er nimmt neben
ihr Platz und bettet ihren Kopf auf seinem Schoß, um ihr
Gesicht zu streicheln. Lächelnd schließt siedie
Augen.
"Wenn dich
das alles so anstrengt, sollten wir mit ihm reden. In Québec
kommst du nie so fertig vom Singen." meint er leise.
Sie schüttelt
schwach den Kopf.
"Unsinn...
Sein Unterricht ist einfach... ein bisschen anders. Ich werde mich
daran gewöhnen. Und er ist wirklich gut... vielleicht etwas
streng dafür, dass es meine erste Stunde bei ihm war. Aber ich
glaube, wir spielen uns bald ein..." Sie seufzte und nimmt seine
Hand. "Würdest du mir bitte bitte bitte..."
Lucas stöhnt
und verzieht angewidert das Gesicht.
"Du weißt
genau, dass ich dieses Zeug nicht riechen kann. Schon allein, weil er
dir Honig beschafft, müsste er mir unsympathisch sein... Aber
weil du so müde bist, werde ich dir dein Brot bringen." Er
steht auf und sie wirft ihm eine Kusshand nach. "Ausnahmsweise."
"Ich kann
nicht mehr." Mit einem wütenden Knurren knallt sie die
Noten auf den Tisch und geht zum Fenster. Die Sonne scheint und
wahrscheinlich ist es warm draußen, genau so wie an den letzten
fünf Tagen, die sie fast ausschließlich in diesem Zimmer
mit Erik oder auf dem Sofa dösend verbracht hat. Singen... immer
nur singen. Und dann musste Lucas heute Morgen abreisen.
'Nur kurz.' hat
er ihr versprochen. Aber tröstet sie nicht darüber hinweg,
dass sie diese Nacht allein in dem Haus verbringen muss. Allein im
Dunkeln, inmitten all der beunruhigenden Geräuschen, die vom
Wald her kommen. Sie fröstelt.
"Ich kann
nicht mehr!" wiederholt sie noch einmal.
Erik mustert
ihre aggressive Haltung.
"Können
Sie nicht mehr oder wollen Sie nicht mehr?" fragt
er dann ruhig.
"Ich will
nicht mehr!" faucht sie, ohne sich umzudrehen. "Ich mache
seit fast einer Woche nichts anderes mehr, als für Sie zu
singen. Nach dem Unterricht falle ich halbtot irgendwo hin und habe
bisher nicht einmal Zeit gehabt, irgendetwas mit meinem Freund zu
unternehmen... und der ist jetzt auch weg..."
Erik nickt
langsam.
"Sie
hätten sich früher melden sollen, Mademoiselle. Ich kenne
nur den Zustand Ihrer Stimme, nicht den Ihrer Psyche. Möchten
Sie einen Spaziergang mit mir machen?"
Julie wirft
einen Blick auf den blauen Himmel. Ein Spaziergang ist auf jeden Fall
eine interessantere Beschäftigung, als den Rest des Tages allein
in ihrem kleinen Häuschen zu hocken.
"Ich
glaube, das ist eine gute Idee." sagt sie schließlich.
"Sie haben
sicher ein Ziel, auf das sie zuarbeiten, eine Rolle..." beginnt
er, als sie das Haus verlassen und querfeldein über die Wiese
auf den Wald zusteuern "Was werden Sie singen, wenn Sie Ihr
Martyrium bei mir hinter sich gebracht haben?"
"Christine
Daaé." antwortet Julie ohne zu zögern.
"Ah. Das
hätte ich mir denken können. Ihre Stimme klang bei 'Twisted
every way' deutlich kräftiger als bei 'On my own'." Er
mustert sie kurz von der Seite "Warum diese Rolle?"
Julie zuckt mit
den Schultern.
"Ich mag
die Geschichte." Was eine Untertreibung ist, wie Lucas
bestätigen würde. An manchen Tagen hört sie Webbers
Musical rauf und runter, und auf ihrem Nachttisch liegt eine alte
zerfledderte Ausgabe von Susan Kays 'Phantom'. Sie liebt diese
Geschichte.
"Armer,
unglücklicher Erik. Das waren die Zauberworte in Leroux'
Vorlage, nicht wahr? Ein schönes Märchen, in der Tat."
Verwirrt hält
sie inne und blickt auf.
"Ich
bevorzuge Susan Kay... Leroux hat einen grässlichen Schreibstil,
auch wenn er der geistige Vater des ganzen ist." erklärt
sie dann und runzelt die Stirn. Jetzt versucht sie, jemandem vom
Phantom zu erzählen, der wahrscheinlich nicht mehr als den
Originalroman und das Webber-Musical danach kennt.
Erik lächelt
hinter seiner Maske.
"Leroux'
Stil, ja... Ich finde auch Kays Version des Finales ansprechender als
seine." er steckt seine Hände in die Hosentaschen "Wen
würden Sie wählen, wenn die Alternative der Tod für
alle Menschen im Umkreis mehrerer hundert Meter wäre?"
Julie grinst.
"Den
Leroux-Erik hätte ich nicht einmal dann genommen. Kays Erik
hingegen..." Sie hebt eine Augenbraue. "Aber es ist nur
eine Geschichte... Sie klingen, als hätten Sie sich eingehender
mit dem Thema befasst." Sie wirft Erik einen interessierten
Blick zu. "Darf ich fragen... Ihr Name... haben Sie den
angenommen wegen... wegen dem Phantom?"
"Nein."
"Es
soll ja Leute geben, die das tun." seufzt sie leise.
"Tatsächlich?"
er runzelt kurz die Stirn.
Julie
nickt.
"Ja,
und einige fangen sogar das Singen an, nachdem sie das Musical
gesehen haben. Oder versuchen sich als Komponisten..." Sie zuckt
mit den Schultern "Seit wann komponieren Sie schon?"
"Professionell
seit knapp elf Jahren."
"Und..
Sagen Sie... sind Sie ein richtiger Phan?"
"Das kommt
darauf an, was Sie mit dem Ausdruck meinen." antwortet Erik
langsam "Ich... fühle mich der Geschichte in gewisser Weise
verbunden, aber ich erhebe sie nicht zum Kultobjekt."
"Hm."
macht sie nachdenklich "Ich hatte es nur vermutet, weil Sie mehr
als der normale Musicalgänger darüber wissen... Naja, und
wegen Ihrem Namen und... und der Maske... Entschuldigen Sie."
Sie seufzt und versucht, sich nicht mehr auf sein verhülltes
Gesicht zu konzentrieren.
"Nein,
bitte, entschuldigen Sie sich nicht. Möchten Sie nun gern einmal
die Bienenstöcke sehen? Sie sind gleich dort hinten auf einer
Lichtung."
Julie nickt
erleichtert.
"Gerne.
Ich muss doch sehen, ob ich wirklich Honig von glücklichen
Bienen esse." grinst sie. "Da fällt mir ein... könnte
ich wohl noch ein Glas bekommen?"
"Wurde
Ihnen nur eines bereitgestellt? Natürlich können Sie
Nachschub bekommen, fragen Sie nachher Gabrielle."
"Nein, es
waren zwei kleine Gläser." entgegnet sie verlegen "Aber
danke..."
"Sie
müssen eine Bauchspeicheldrüse aus Edelstahl besitzen."
kommentiert er scherzhaft. "Nun, dort fliegen sie, die
glücklichen Bienen. Sie sollten sich jetzt bevorzugt langsam
bewegen. Und ich hoffe, Sie sind nicht gegen Bienenstiche
allergisch."
Sie schüttelt
den Kopf und grinst.
"Ich
nicht... Lucas ist der Allergiker von uns beiden. Er muss von Honig
kotzen." Julie beißt sich auf die Lippe und senkt den
Blick "Also, er ekelt sich auch davor. Eigentlich schade."
Sie betrachtet die riesigen Bienenkörbe. "Wie sind Sie denn
zum Imkern gekommen?"
"Auf
Umwegen. Die Bienenstöcke gehören eigentlich Gabrielle,
doch sie hat das Interesse daran wieder verloren, und die Pflege der
Bienen ist nun an mir hängen geblieben. Als hätte ich nicht
genug zu tun." Erik zuckt mit den Schultern.
"Sie
kennen sich schon länger?" fragt Julie überrascht.
"Gabrielle
ist meine Schwester." Er schüttelt kurz über sich
selbst den Kopf. Normalerweise ist er mit Informationen alles andere
als freigiebig.
"Oh."
sie wirft den Bienen einen letzten Blick zu, bevor sie sich Erik
zuwendet "Nun, das hätte ich jetzt nicht gedacht. Sie...
sie wechselt ziemlich häufig ihre Haarfarbe..."
"Nun,
sie... hat ein etwas gespanntes Verhältnis zu allem, was mit
äußerer Erscheinung zu tun hat."
"Hm..."
macht Julie nachdenklich und bleibt einen Moment an seinen
bernsteinfarbenen Augen hängen. "Ich... ich hatte mal ein
Mädchen in meiner Schauspielklasse, die hatte irgendeine Form
von Darmpilz... sie hat fast tägliche eine andere Perücke
getragen." Sie beißt sich auf die Lippen und schaut zu
Boden. Verflucht, diese Augen irritieren sie.
"Gabrielle...
hat eine... Verätzung am Hinterkopf." Er macht einen
Schritt rückwärts "Sollen wir weitergehen oder möchten
Sie noch ein wenig den Bienen zusehen?"
"Was hat
ihr Grundstück denn noch für Sehenswürdigkeiten zu
bieten?"
"Nun, es
gibt einen Hügel, von dem aus man einen sehr guten Blick auf
Sonnenuntergänge und Sternenhimmel hat. Etwas weiter nördlich
von hier schneidet ein Fluss das Grundstück. Am Ufer stehen
einige sehr schöne Trauerweiden... Und Gabrielle züchtet
derzeit mit einigem Erfolg Rosen. Weiße Rosen mit roten
Flecken. Blutstropfen."
Julie überlegt
kurz. Blutstropfen... irgendwie beunruhigend. Aber auch
interessant...
"Ich
glaube, ich würde mir gerne die Rosen ansehen."
"Sie haben
besonders viele und große Stacheln. Kommen Sie, hier
entlang..."
Sie folgt ihm
stirnrunzelnd. Irgendetwas stimmt in dieser Familie wohl nicht.
Nachdenklich
schaut er aus dem Fenster. Es ist vier Uhr morgens, dennoch brennt in
Julies Haus noch Licht. Anscheinend kann sie nicht schlafen oder
telefoniert stundenlang mit ihrem... Lucas. Sollte sie morgen
unausgeschlafen zum Unterricht erscheinen, wird er hart durchgreifen.
Seufzend wendet
er sich ab.
Wegen ihrer
Stimme ist er noch immer zu keinem Ergebnis gekommen. Ihr Fortschritt
ist bislang unbefriedigend. Dennoch hört er etwas hinter ihren
Fehlern und Unzulänglichkeiten. Er fühlt sich gerufen und
berührt von ihrem Gesang, irgendwo, tief in seinem Innern, und
er weiß mit absoluter Sicherheit, dass sie wesentlich mehr
kann, als sie im Moment leistet.
Das Haus ist
vollkommen ruhig. Irgendwo tropft ein Wasserhahn, aber sie wagt
nicht, noch einmal das Bett zu verlassenum ihn abzustellen.
Obwohl sie einen der Küchenstühle unter der Klinke der
Haustür verkantet hat und sämtliche Lichter brennen,
zittert sie vor Anspannung. Doch sie wird es schaffen, sie wird diese
Nacht allein ohne Lucas überstehen.
Mit
zusammengebissenen Zähnen zieht sie ihre Decke noch ein wenig
höher. Das ist einfach lächerlich. Warum stellt sie sich
an, als wäre sie fünf Jahre alt und zum ersten Mal allein
zu Hause? Unter ihrem Bett lauert kein Monster, das sie fressen will!
Und in dem
dunklen Flur gegenüber der Treppe...
Mit
schweißnassen Händen greift sie zu ihrem Discman, steckt
sich die Kopfhörer in die Ohren und schaltet ihn an. Volle
Lautstärke... 'Music of the Night'.
Sie bildet sich
das alles nur ein. Hier oben ist sie sicher.
Alle Türen
sind verriegelt und wachsame Augen sorgen dafür, dass ihr
niemand etwas zu leide tun wird. Dennoch blickt sie sich ängstlich
um. Ein schmaler, dunkler Korridor, und am Ende... Der Kerker, in den
man ihn gesteckt hat. Ihn, den sie Il Diavolo nennen -Teufel. Unwillkürlich tasten ihre zitternden Hände nach
dem Kruzifix um ihren Hals.
Vor seiner
Zelle bleibt sie stehen und starrt einen Augenblick lang in die
Dunkelheit hinter dem kleinen vergitterten Loch in der Tür. Von
innen dringt ein unregelmäßiges schlurfendes Geräusch
zu ihr; er scheint unruhig auf und ab zu gehen, auf Füßen,
die noch wund sind von der Folter.
"Ihr seid
noch wach?" fragt sie mit bebender Stimme.
Völlige
Stille kehrt ein, nur durchbrochen von gelegentlichen Lauten aus den
anderen Zellen.
"Schwester
Pia..." flüstert er langgezogen aus den Schatten, in denen
er sich verborgen hält. Sie haben ihm seine Maske endgültig
abgenommen. "Auch Ihr habt keinen Schlaf gefunden... Ihr seid zu
mir gekommen... wie Ihr es versprochen habt." er lacht leise.
"Ich komme
nicht wegen eines Versprechens." entfährt es ihr. Aber
warum ist sie dann hier? Sie musste ihn noch einmal sehen, so kurz
vor seiner Hinrichtung. Allein, ohne Bruder Franziscus... ganz
gleich, wie sehr sie die Gegenwart des Hexers fürchtet. Und
obwohl sie weiß, wie unvorsichtig das ist, legt sie eine Hand
an die Gitterstäbe.
Er lacht noch
einmal, kaum hörbar, und nähert sich dann geduckt und
lautlos der Zellentür.
"Ich habe
Euch so oft singen gehört."
Pia zieht
scharf die Luft ein.
"Sprecht
nicht so laut darüber." zischt sie entsetzt.
"Habt
keine Angst, Schwester Pia... Gott ist Musik... Gott ist Liebe..."
Er streckt seine Zunge mit weit geöffnetem Mund heraus und
schüttelt sich. Gott. Hah! "Die Welt wird das begreifen,
eines Tages."
"Gesang
ist eine selbstgefällige Sünde, wenn er nicht für den
Herrgott ist." stößt sie abwehrendhervor,
während alles in ihr näher an das Gitter drängt. Sie
muss ihn sehen.
Seine langen,
verdreckten Fingernägel scharren über die Kerkerwand.
"Gott ist
Hingabe. Wollt Ihr Euch hingeben, Schwester Pia?" Seine Hand
legt sich zärtlich gegen die schweren Bohlen der Tür, dort,
wo Pias Brüste lehnen müssen "Ihr seid nur eine Frau,
mit einem Körper, den Gott schuf... Ihr habt Ohren, zu hören,
Haut, zu spüren..." Langsam richtet er sich auf, bis seine
Augen die ihren finden.
Hastig weicht
sie seinem Blick aus. Bernstein... welch ungewöhnliche
Augenfarbe. Nur der Teufel persönlich kann sie ihm gegeben
haben. Und auch seine Stimme kann unmöglich ein Geschenk Gottes
sein. Sie weckt in ihr Gedanken, die sie vor so vielen Jahren
abgelegt hat.
"Sprecht
nicht so zu mir. Ich bin eine Dienerin Gottes, und keinesfalls bin
ich wie die Frauen, die Ihr kennen mögt."
"Die
Tollkirsche... Atropa Bella Donna... Eine schöne Frau kann einen
Mann wahnsinnig machen..." Zögernd streicht er über
ihre noch immer an das Gitter geklammerten Finger "Man kann
keinen Teil seiner selbst vernichten, ohne ganz daran zu sterben...
langsam und qualvoll... Glaubt Ihr an einen liebenden Gott, Schwester
Pia? An einen Gott, der den Menschen sein eigen Fleisch und Blut
opferte? Solch ein liebender Gott... er würde seinen Kindern nie
verbieten, die Geschenke ihres Körpers zu genießen."
Er legt seinen Kopf schief und seine Augen zufallen "Ich werde
für Euch singen, wenn Ihr mich darum bittet."
Auch Pia
schließt die Augen, starr vor Schrecken und Scham. Und obgleich
sie es will, ist sie nicht in der Lage, ihre Hände
zurückzuziehen. Seine Stimme klingt so vertraut... seine
Berührung... Sie beißt sich auf die Lippen. Das darf nicht
sein. Hastig wirft sie einen Blick über ihre Schulter. Auf den
Umhang des Wächters in ihrer Nähe hängen zwei dünne
Wollfäden, die verraten, dass auch er sich vorschriftsmäßig
gegen den Gesang Il Diavolos die Ohren mit Wachs verstopft hat und
nichts hören kann von dem, was gesprochen wird. Die anderen
Gefangenen schlafen oder sind zu verwirrt, um begreifen, was gerade
geschieht.
"Ihr wollt
für mich singen?" fragt sie ängstlich "Aber
ich... ich kann nicht..."
"Könnt
Ihr nicht, oder wollt Ihr nicht? Pia? Wem seid Ihr mehr verbunden?
Einem Wesen, das sich jeder Erkenntnis mutwillig entzieht, oder Eurem
eigenen Körper?" Er lehnt seine Schläfe an ihre Hand
und seufzt zufrieden.
"Sprecht
mich mit Schwester Pia an!" entgegnet sie barsch.
"Ich diene nur unserem Vater. Mein Gelübde ist heilig..."
Sie presst die Lippen aufeinander, spürt seinen Kopf an ihren
Fingern. Heiliges Gelübde... wenn sie damals gewusst hätte...
"Pia..."
flüstert er noch einmal "Die fromme... Wie nannte Euch Eure
Mutter?"
"Das hat
Euch nicht zu interessieren..." sie stockt und fährt dann
kaum hörbar fort: "Eleonora... und nun fragt nicht weiter!"
Hastig zieht sie die Hand unter seinem Kopf weg und stellt sich auf
die Zehenspitzen, um ihn besser sehen zu können. "Man nennt
Euch Il Diavolo; wie nennt Ihr Euch?"
"Carmine...
Mein Geist ist Musik. Mein Geist ist nur Schall..." Er lächelt
traurig und spürt der Wärme ihrer Hand nach. "Morgen
werde ich verbrannt, dann bin ich Schall und Rauch, und ich kann
nicht darüber lachen."
"Carmine."
wiederholt sie nachdenklich. "Weigert Ihr Euch noch immer, um
Vergebung zu bitten?" Warum fragt sie ihn das jetzt noch? Egal,
was er sagt oder tut, bei Tagesanbruch wird er auf dem Scheiterhaufen
stehen.
Ohne dass sie
es recht bemerkt, legen sich ihre Hände, seine Nähe
suchend, wieder an das Gitter.
"Vergebung?
Oh, ich bereue, sehr sogar, dass ihr Menschen alles fürchtet,
was ihr nicht versteht. Gott wird den Menschen vergeben, allen
Menschen. Doch die Menschen vergeben mir nicht." Er lässt
seinen Mund für einen Moment vor Pias Fingern ausharren, dann
lehnt er wieder seine Schläfe daran. "Ich bin nicht so
anders als Ihr, Pia, ich bin Fleisch, Blut, Stimme, Seele..."
"Schwester
Pia!" versetzt sie mit bebender Stimme. Sie schließt die
Augen und atmet tief durch, obwohl der beißende Kerkergeruch
von Urin, Erbrochenem und ungewaschenen Körpern sie zum Würgen
reizt. "Ihr seid nicht wie ich. Mit Eurem Teufelsgesicht und
Eurer Engelsstimme... Ihr habt fleischliche Gelüste, über
die ich seit langer Zeit erhaben bin." Carmine lacht als habe
sie einen guten Witz gemacht.
"Warum
seid Ihr dann hier, Schwester Pia? Und warum habt Ihr
diese Angewohnheit... diese überaus sonderbare Angewohnheit, die
Hand von Bruder Franziscus zu ergreifen, wenn Euch die
Schmerzensschreie meiner peinlichen Verhöre ängstigen?"
Sie errötet
bis zu den Haarwurzeln.
"Ich bin
hier weil..."
'Neuntes Gebot,
2. Buch Mose: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen
Nächsten.' Eine Hand schließt sich um das Kruzifix.
"Franziscus
ist ein Glaubensbruder und enger Vertrauter." stammelt sie und
weicht Carmines forschenden Blick aus.
"Natürlich,
wie konnte ich das vergessen. In der Liebe Christi verbunden, keusch
wie Geschwister, rein wie frisch gefallener Schnee..."
"Schweigt!"
presst sie mühsam hervor. Er kann es nicht wissen... niemand
weiß davon.
"Ihr
liebt, Schwester Pia, wie die ganz normale Frau, die Ihr seid."
Er sagt es behutsam, wie man einem Kind erklärt, dass die Mutter
gestorben ist. Wenn sie nur ihn so lieben könnte... Er zieht die
stinkende Luft des Kerkers ein. Zu spät...
"Ich liebe
den Herrn!" Keuschheit, sie hat ewige Keuschheit gelobt. Sie
beißt sich auf die Zunge, kann seine Stimme mit einem Mal nicht
mehr ertragen, seine Nähe bereitet ihr nun beinahe körperliche
Schmerzen. Wenn sie nur ihre Hand von dem Gitter lösen könnte,
von seiner Berührung!
Luxuria
Wollust... Sie muss um Vergebung bitten. Sie wird seiner Hinrichtung
beiwohnen und zusehen, wie die Flammen diese unreine Kreatur
verschlingen; dann wird Gott all ihre Sünden vergeben.
"Natürlich
liebt Ihr den Herrn." murmelt Carmine beruhigend "Ihn und
Franziscus und den Gesang. Warum zwingt Ihr euch das Leid eures
Gelübdes auf, Schwester Pia? Sprecht zu mir. Morgen bin ich tot,
ich kann es niemandem mehr verraten."
"Ich liebe
den Herrn und niemanden sonst." wiederholt sie mit zitternder
Stimme. Sie sollte gehen, sofort. Niemand darf den wahren Grund ihres
Kommens erfahren.
Carmine kann
sich ein leises Lachen nicht verbeißen.
"Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst. Pia, Ihr könnt nicht nur
den Herrn lieben und noch eine gute Christin sein. Ihr müsst die
Menschen um euch lieben... Und euch selbst müsst Ihr lieben...
Euch selbst, wie Ihr seid, mit all Euren Wundern..." Die letzten
Worte flüstert er, flehend. Erkenne dich, Pia, bleib bei mir...
Lass mich nicht allein.
"Blasphemie..."
murmelt sie und zieht die Hand zurück. Aus seinem Mund klingen
ganz alltägliche Dinge der Kirche wie Blasphemie. Geformt von
dieser Stimme... Mit einem Ruck wendet sie sich ab. "Ich werde
jetzt gehen. Ihr habt bekommen, was Ihr verlangtet. Morgen werde ich
Eurer Hinrichtung beiwohnen. Betet, dass Euch Eure Sünden
vergeben werden."
"Nein...
Pia, Schwester Pia, bitte..." er presst seine Stirn an die
Gitterstäbe "Ich flehe Euch an, als Todgeweihter spreche
ich zu Euch, bleibt bei mir... Gewährt mir eine Bitte, eine
letzte Bitte!"
Sie erstarrt in
ihrer Bewegung und holt tief Luft.
"Welche
Bitte sollte ich Euch gewähren können?"
"Oh, Ihr
könnt sie nicht gewähren. Doch Ihr könnt mir erlauben,
dass ich in Euer Gesicht sehe, wenn ich sie äußere. Kommt
zurück ans Gitter, Schwester Pia, bitte..."
Sie kann sich
nicht erklären, was sie dazu veranlasst, doch tatsächlich
kehrt sie noch einmal um und stellt sich wieder auf die Zehenspitzen,
damit er sie sehen kann.
"Nun?"
Traurig prägt
er sich die Formen ihres Gesichtes ein, den halb ängstlichen,
halb trotzigen Ausdruck ihrer Augen, das leichte Zittern ihrer
Lippen.
"Liebt
mich." sagt er dann schlicht.
"Wie könnt
Ihr es wagen!" fährt sie entsetzt auf. Hastig wendet sie
sich um, als sich einer der Wachposten nähert. Der Lichtschein
seiner Laterne fällt für wenige Sekunden auf das Gesicht
von Il Diavolo, Carmine, wie er sich selbst nennt. Bleich presst sie
die Hand vor den Mund.
"Heilige
Mutter Gottes!" entfährt es sie. Bisher hat Bruder
Franziscus immer neben ihr gestanden, wenn sie Il Diavolo begegnet
ist, nun blickt sie zum ersten Mal allein in diese Fratze. Sie
erschauert und wendet sich ab. "Betet, dass man Euch all Eure
Sünden vergibt. Betet!" Dann flieht sie aus dem Kerker.
Carmine schaut
ihr nach, bis auch der Saum ihrer Ordenstracht im Dunkel des
Treppenaufganges verschwunden ist. Kopfschüttelnd hinkt zu
seiner hölzernen Pritsche zurück und legt sich darauf.
Einen Arm als Kissen unter seinem Kopf gefaltet, beginnt er zu
singen, leise, hoch und glasklar.
"Requiem
aeternam dona mihi, Domine, et lux perpetua luceat mihi..."
Es ist ein
sonniger Morgen, als sich Schaulustige, Schwestern des örtlichen
Klosters und die Angehörigen der Inquisition um den
Scheiterhaufen einfinden.
Auf dem Podest
der Inquisitoren, eng an Bruder Franziscus' Seite gedrängt,
steht Schwester Pia, die Augen auf Il Diavolo geheftet, den man
bereits an Händen und Füßen gebunden auf den
Hinrichtungsplatz gebracht hat.
Sie spürt
Franziscus' Blicke in ihrem Nacken und dreht sich zu ihm. Ihr
Mundwinkel zuckt traurig.
"Ihr könnt
gehen, wenn Euch nicht wohl ist." raunt Franziscus ihr zu.
Nach einem
weiteren flüchtigen Blick auf Il Diavolo schüttelt sie den
Kopf.
"Nein."
murmelt sie "Der Gottlose ist dem Tode geweiht und ich werde
sein Ende bezeugen." Sie presst die Lippen zusammen und starrt
dann regungslos auf die geschundene Gestalt, die nun auf die Scheiter
gezerrt wird. Erschrocken zuckt sie zusammen, als Franziscusan
ihr vorbeitritt und laut verkündet: "Der Gefangene Il
Diavolo wird beschuldigt, Ketzerei betrieben zu haben. Er verleugnet
seine teuflische Herkunft nicht und weigert sich, um Vergebung seiner
Sünden zu bitten. Desweiteren hat er heftigen Widerstand bei
seiner Ergreifung geleistet. Er ist ferner überführt des
Verbrechens der Hexerei. Das Urteil lautet: Tod durch Verbrennen."
Die umstehende
Menge jubelt den Männern zu, die nun mit Fackeln den
Scheiterhaufen in Brand stecken, und Pias Herz setzt für einen
Schlag aus, als der Blick des Verurteilten sie trifft und festhält.
"Verzeih
mir..." flüstert er lautlos. Dann schließt er die
Augen und lehnt seinen Kopf zurück an den Pfahl, an den sie ihn
gebunden haben. Seine Glieder schmerzen von der Folter, sein Körper
bebt vor Angst, doch als er anhebt zu singen, ist all das vergessen.
"Libera
me, Domine, de morte aeterna, in die illa tremenda: Quando coeli
movendi sunt et terra."
Pia ballt ihre
Hände zu Fäusten. Hinter ihren Augen brennen Tränen;
wie unzählige der Umstehenden treibt es auch sie zu ihm, alles
in ihr drängt in seine Nähe. Ihre Füße bewegen
sich ohne ihr Zutun. Nur Franziscus und die zahlreichen Wachen
bleiben ruhig. Ihre Ohren sind mit Wachs versiegelt, und Franziscus'
starke Hand ist es auch, die Pia am Arm packt und zurückreißt.
Er schüttelt sie heftig.
"Kommt zu
Euch! Bitte! Beherrscht Euch und verstopft Eure Ohren!" herrscht
er sie an und beobachtet dann wieder besorgt, wie sich die Masse der
Schaulustigen auf die Flammen zubewegt, währenddie
Wachen verzweifelt versuchen, dagegen anzukämpfen.
Pia starrt auf
das angebotene Wachs in seinen Händen, reagiert aber nicht
darauf. Sie muss zu Carmine... Er ruft sie mit seinem Gesang, seiner
Engelsstimme... Sie versucht, sich an Bruder Franziscus vorbei vom
Podest zu drängen, doch wieder hält er sie auf und macht
nun Anstalten, ihr gewaltsam das Wachs in die Ohren zu stopfen. Pia
wehrt sich heftig, doch als sie den Kopf dem Scheiterhaufen wiederzuwendenkann, ist Carmine nicht mehr zusehen.
Rauch... überall ist Rauch... Dann verstummt der Gesang und die
Menschen kommen wieder zu sich.
Nun kann Pia
ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Nie wieder wird
sie seine Stimme hören, seine Stimme, deren Flehen von letzter
Nacht sie in seinen letzten Minuten doch erhören wollte.
Schluchzend wendet sie sich ab und flieht vom Platz.
Julie weiß,
dass sie schrecklich aussieht, als sie viel zu spät die Tür
zum Musikzimmer aufreißt.
"Entschuldigung...
ich habe verschlafen." murmelt sie, greift rasch zu den Noten,
die auf dem Flügel für sie liegen, und räuspert sich.
Ärgerlich
nimmt Erik ihr die Noten wieder aus der Hand.
"Sie
singen heute keinen Ton." sagt er bestimmt "Gehen Sie
zurück ins Bett oder legen Sie sich hinter dem Haus in die
Sonne. Und wenn Sie morgen um diese Zeit nicht ausgeruhter sind,
werde ich Ihnen um elf Telefon und Strom abdrehen und zum Schlafen
zwingen."
Sie ballt die
Hände zu Fäusten.
"Nein,
nicht den Strom." entfährt es ihr erschrocken, "Ich...
ich muss im Hellen schlafen."
Erik runzelt
die Stirn und tritt einen Schritt zurück.
"Ich
verstehe nicht..."
"Ich habe
Angst im Dunkeln." gesteht sie ihm leise, ohne ihn anzusehen.
"Oh."
Stumm mustert er ihr blasses Gesicht. "Sind Sie deshalb so
unausgeschlafen?"
Sie nickt und
presst die Lippen aufeinander.
"Am
schlimmsten ist es, wenn ich dann noch allein bin."
Erik lehnt sich
neben ihr an den Flügel.
"Wie kam
es zu dieser Angst?" fragt er sachlich.
"Ach
das... seit drei Jahren..." Sie schüttelt den Kopf und
schließt die Augen, ehe sie zögernd fortfährt. "Wie
waren in dem Haus von Lucas' Eltern. Sollten darauf aufpassen, als
sie verreist waren." Sie atmet tief ein und versucht den Kloß
herunterzuschlucken. "Lucas war noch unterwegs und ich habe
geschlafen... Irgendjemand ist in die Küche eingestiegen. Und
ich war dumm genug aufzustehen." Sie deutet auf die kleine Narbe
an ihrem Haaransatz. "Das nächste Mal bleibe ich liegen."
Seit dem ist sie nachts niemals allein gewesen und ihr graut schon
vor der nächsten Nacht ohne Lucas.
"Das
Gelände um mein Haus herum ist absolut sicher. Zu keiner Tages-
oder Nachtzeit kommt jemand herein oder hinaus, ohne dass Gabrielle
darüber informiert ist. Vielleicht beruhigt Sie das ein wenig."
Julie verzieht
den Mund.
"Nicht
wirklich, aber danke."
"Soll ich
Ihnen ein Zimmer im Haupthaus herrichten, während Ihr... Freund
abwesend ist? Ich möchte nicht, dass Sie nächtelang nicht
schlafen können." Er wendet sich ihr zu und berührt
sie kurz am Arm.
Julie dreht ihm
das Gesicht zuund sieht ihn einen Augenblick lang verwirrt
an. Diese Berührung... Sie blinzelt.
"Nein,
ich... glaube, es wird schon gehen. Lucas würde sich nur unnötig
sorgen, wenn er abends anruft und ich nicht abhebe."
"Es gibt
auch im Haupthaus Telefonanschlüsse. Sie müssten ihm nur
die Nummer weitergeben."
"Nein,
wirklich nicht... Ich komme schon irgendwie zurecht." Wem
versucht sie gerade etwas vorzumachen? Sie runzelt die Stirn.
"Wie Sie
möchten." er tritt einen Schritt von ihr zurück und
beginnt, die Noten einzusammeln. "Nun gehen Sie und ruhen Sie
sich aus."
"Aber...
ich muss doch üben! Die Aufnahmen..."
"Julie."
er spricht ihren Vornamen sehr vorsichtig aus "In deinem Zustand
macht Unterricht keinen Sinn."
"Ich halte
Sie auf, nicht wahr? Mit einer anderen Sängerin wären Sie
schon viel weiter." Sie senkt den Blick, um ihm nicht in die
Augen sehen zu müssen. Wenn sie nur wüsste, warumsie
jedes Mal so verwirrt ist, wenn sie ihn ansieht. Und seine Stimme...
"Bitte,
sag 'du' zu mir. Und nein, mit einer anderen Sängerin wäre
ich nicht weiter. Ich mache diese Aufnahmen mit dir oder gar nicht."
er wendet sich ab "Ich will deine Stimme, hörst du?"
Sie hebt nun
doch den Blick und zuckt zusammen. Verflucht...
"Warum?
Was ist an meiner Stimme anders?" Die Leute an den Theatern
besetzen sie nicht, wegen ihrer zugewöhnlichen Stimme,
aber Erik besteht darauf, dass sie einzigartig ist.
"Ich bin
noch dabei, das herauszufinden." antwortet er wahrheitsgemäß.
Er wirft ihr über die Schulter ein für sie unsichtbares
Lächeln zu "Aber du bist der Aufgabe gewachsen. Glaube mir
das und ruhe dich aus. Bis morgen, Julie."
Sie sieht ihn
mit großen Augen an.
"Und was
machst du?"
Irritiert
wendet er sich ihr zu.
"Ich...
komponiere Musik für einen Kurzfilm... Und dir hängt die
Nacht noch nach, nicht wahr?"
"Auch..."
Auch? Himmel, warum lügt sie nicht wenigstens! Sie kann ihm
unmöglich ins Gesicht sagen, dass sie ein seltsam vertrautes
Gefühl hat, wenn sie seine Stimme hört, dass sich die
Härchen an ihren Armen aufstellen... das ist vollkommen
verrückt... Sie muss einfach nur durchhalten bis Lucas wieder
kommt. Dann wird alles wieder ganz normal werden. Sie wird sich nicht
mehr für reale maskierte Männer interessieren, sondern sich
nachts an ihren Freund kuscheln und beruhigt schlafen.
"Ich
verstehe... Ja..." Erik legt seine linke Faust in seine rechte
Handfläche und beginnt, sie zu kneten "Ich bin zu
ungeduldig, ich überfordere dich." Einen Moment lang bleibt
er vollkommen regungslos stehen, dann geht er mit entschlossenen
Schritten zur Tür. "Ich werde Gabrielle bitten, den
Abgabetermin für die Aufnahmen so weit wie möglich
hinauszuschieben. Du nimmst dir heute frei, und bei Bedarf auch
morgen. Übermorgen kommt das klassische Orchester für einen
Soundcheck, am Tag darauf ist die Aufnahme... Ich selber werde in
einem Stück dein Background sein, wusstest du das? Nun, an den
Tagen, an denen Soundcheck und Aufnahme stattfinden, habe ich keine
Zeit für deinen Unterricht; nutze sie zu deiner Erholung oder
übe allein etwas, wenn du dich dann sicherer fühlst."
Sicherheit... "Und bitte, Julie..." er bleibt in der Tür
stehen und schaut vage in ihre Richtung "Quäl dich nicht
selbst da draußen... Und hab keine Angst vor mir. Ich will dir
mit meiner Strenge nichts böses, ich bin von deiner Stimme sehr
überzeugt, und..." er macht eine Geste in Richtung seiner
Maske "... daran wirst du dich schon gewöhnen."
Julie zieht die
Nase kraus und schaut ihn an.
"Ich habe
keine Angst." entgegnet sie verunsichert Wie kommt er
darauf? "Nicht vor dir." Sie weicht seinen Augen aus.
Himmel noch mal, warum hält sie seinem Blick nicht wenigstens
für einen kurzen Augenblick lang stand? Die Maske ist es nicht,
die sie irritiert, auch wenn das der offensichtlichste Grund wäre.
Da ist etwas vollkommen anderes... unsichtbar... Es liegt zwischen
ihnen und sie kann es nicht in Worte fassen. Sie schüttelt den
Kopf, dann erinnert sie sich, was er eben gesagt hat. Background? Er
selbst wird sie begleiten? Ob er auch wie manche Regisseure die
Eigenart hat, in allen seinen Werken einmal selbst aufzutauchen? Aber
das hätte sie doch merken müssen, schließlich hat sie
so gut wie jeden Soundtrack von ihm zigmal gehört. Nun,
vielleicht ist es auch das. Sie liebt seine Musik schon seit Jahren, deshalb kommt ihr auch er selber irgendwie vertraut vor.
Sie lächelt scheu. "Vielen Dank für den freien Tag.
Ich gehe dann, wenn das okay für dich ist?"
"Natürlich."
Warum stellt sie sich nur so an? Er schüttelt den Kopf, dann
geht er vor Julie her zur Rezeption, um mit Gabrielle über die
Verschiebung des Abgabetermins zu reden.
Fußnoten
"Schenke mir ewige Ruhe, Herr, und möge ewiges Licht mir leuchten." (Eigentlich: "Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetua luceat eis." - "Schenke ihnen ewige Ruhe, Herr, und möge ewiges Licht ihnen leuchten.")
"Rette mich, Herr, vor dem ewigen Tod an jenem Tage des Schreckens, an dem Himmel und Erde wanken."
