Natürlich
konnte sie nicht so leicht einschlafen, wie sie gehofft hatte. Also
geht sie am Nachmittag mit einem Buch nach draußen und legt
sich auf einen der Liegestühle auf der Terrasse hinter dem
Haupthaus. 'Der Name der Rose'. Das wollte sie schon seit Jahren
lesen. Gerade, als sie die erste Seite aufschlägt, entdeckt sie
Gabrielle, die mit einem großen Tablett auf sie zugelaufen
kommt. Sie legt das Buch zur Seite und springt auf."Kann ich
dir helfen?"
Doch Gabrielle
schüttelt den Kopf, stellt das Tablett auf dem kleinen Tisch
zwischen den Stühlen ab und lässt sich zufrieden seufzend
in einem davon nieder. Dann zieht sie einen kleinen Block aus ihrer
Tasche, schreibt hastig darauf und hält ihn Julie hin.
Bedien
dich.
Julie zieht die
Augenbraue hoch und wirft einen kurzen Blick über das Tablett.
Erdbeeren,
Saft, Brot, Honig... bei dem bloßen Anblickläuft
ihrdas Wasser im Mund zusammen.
"Danke."
sie greift nach dem Brot und dem Honigglas "Hast du heute auch
frei?"
Mittagspause.
"Fein."
entgegnet Julie und streicht sich eine dicke Lage Honig auf ihr Brot.
"Ganz schön anstrengend, für ihn zu arbeiten, oder?"
Mal so
mal so. Fährst du mit mir in die Stadt, wenn Erik den Soundcheck
macht
"Hast du
dennein Auto?" fragt Julie verwundert. Aus irgendeinem
Grund hat sie nicht angenommen, dass Gabrielle überhaupt einen
Führerschein hat.
Einen
Ferrari. Gabrielle grinst. Rräng-rräng.
"Ich bin
noch nie Ferrari gefahren." entgegnet Julie amüsiert "Auch
nicht als Beifahrer. Ich hoffe, du rast nicht zu schnell." Sie
beißt in ihr Brot. "Der Honig ist wirklich gut, das habe
ich deinem Bruder auchschon gesagt."
"Oh."
entfährt es Gabrielle. Er hat ihr das erzählt? Sie mustert
Julie halb misstrauisch halb interessiert von der Seite.
Er ist
mein kleiner Bruder. schreibt sie dann. Schön,
dass du den Honig magst.
Julie schluckt.
"Er ist
jünger als du?" Das hätte sie nicht gedacht. Mit ihrer
langen, dunkelblonden Perücke sieht Gabrielle sehr jugendlich
aus, kaum älter als dreißig.
Er ist
40, ich bin 43. Aber im Kopf ist er älter. Sie zögert
einen Moment.
"Ich war
als Kind sehr oft im Krankenhaus und fast nie in der Schule. Ich war
ungeschickt und anfällig. Deshalb... naja." sie zieht ihren
Mund ein wenig in die Breite und kritzelt Naja auf
ihren Block.
Nachdenklich
nickt Julie. Anfällig... Also arbeitet sie nicht ohne Grund
hier. Vielleicht muss Erik auf sie aufpassen, vielleicht ist
Gabrielle auch heute noch körperlich krank und braucht besondere
Pflege. Er hat etwas von Verätzungen an ihrem Kopf erzählt.
Julie deutet
auf Gabrielles Perücke.
"Wo
bekommst du die her? Die sind wirklich gut geknüpft."
Selbstgemacht.
Gabrielle - Maskenbildnerin.
"Wirklich?"
ruft Julie überrascht "Ein schöner Beruf. Hast du ganz
aufgehört oder arbeitest du nur vorübergehend hier?"
Sie greift nach einer Erdbeere und schiebt sie sich in den Mund.
Ich habe
es nur gelernt. Das bei Erik ist mein erster Job.
Julie nickt und
seufzt tief. Gabrielle muss arbeiten, aber sie, Julie hat Freizeit -
eigentlich könnte es so schön sein. Sie streckt die Arme
von sich.
"Ferien!
Siehst du, jetzt habe ich frei und Lucas ist nicht hier." Sie
pult das Grüne aus einer Erdbeere. "Ich wette mit dir, er
kommt zurück, wenn ich wieder voll eingespannt bin und keine
Zeit mehr für ihn habe."
Gabrielle
lacht.
Deshalb
habe ich keinen Freund. Sie legt Block und Stift auf den
Tisch und verschränkt ihre Arme hinter dem Kopf.
"Erik
sagt, du singst fast schon besser als ich."
Julie errötet.
"Ich
wusste nicht, dass du auch singst." sagt sie dann überrascht.
"Schon lange?"
"Gesungen
hab ich schon immer. Wenn ich mal gesund war. Also..." sie
zögert "Also, richtig angefangen zu lernen habe ich erst,
nachdem Erik mich zu sich geholt hat. Das ist elf Jahre her."
"Das
heißt, seit er komponiert..." überlegt Julie laut.
"Aber wenn er dich seit elf Jahren unterrichtet... Du musst
wirklich gut sein. Und du machst das nur zum Spaß?"
"Ja. Ich
wollte auf der Bühne singen, aber..." Gabrielle rupft ein
Blatt von ihrem Block und spielt unschlüssig damit herum. "Ich
bin krank. Psychisch." sagt sie schließlich
schulterzuckend.
"Hm."
macht Julie und reißt den Blick von dem Papierball in
Gabrielles Händen. "Und Erik kümmert sich um dich."
vermutet sie.
"Ja."
Gabrielle lächelt.
'Eine ziemlich
verantwortungsvolle Aufgabe, die er sich da aufgeladen hat.' denkt
Julie, aber laut sagt sie das nicht.
"Und ihr
lebt hier ganz allein? Ich meine, das Haus ist riesig..."
"Erik
braucht viel Platz. Und ich manchmal auch." Sie legt das Papier
neben sich auf den Tisch "Aber jetzt bist du dran. Erzähl
mir was über dich. Du kommst aus Québec, ja?"
Julie nickt.
"Ja, ich
bin dort geboren und aufgewachsen, war auf der Musicalschule...
Ziemlich uninteressant, mein Leben. Wahrscheinlich hätte ich
Kanada nie verlassen, wenn ihr mich nicht zu dieser Audition
eingeladen hättet." Sie lacht leise und schiebt sich noch
eine Erdbeere in den Mund.
Verwundert
richtet sich Gabrielle auf.
"Warum
lachst du?"
"Ihr habt
mich wahrscheinlich aus meinem langweiligen Leben gerettet."
"Aber du
hast doch einen Freund!" Gabrielle versteht die Welt nicht mehr.
"Den ich
seit meiner Kindheit kenne, ja. In meinem ganzen Leben gab es bisher
keine großartigen Veränderungen. Ich singe, seit ich
denken kann, und bekomme seit ich sechs bin Stunden bei den
verschiedensten Lehrern. Mein Vater war ziemlich versessen darauf,
meine Stimme zu schulen. Lucas hat damals schon neben uns gewohnt. Er
so was wie ein Sandkastenfreund und hat mich immer vor den bösen
Jungen aus der Nachbarschaft beschützt... Eigentlich hat er mich
vor allem beschützt, was mir irgendwie Angst machen könnte.
Und das tut er noch heute. Ich glaube, die erste wirklich eigene
Entscheidung, die ich getroffen habe, war, zu euch nach Belgien zu
fliegen."
"Der klebt
aber." bemerkt Gabrielle herzlos.
"Er ist
nicht immer so schlimm." verteidigt ihn Julie und runzelt die
Stirn über sich selbst. Sie schüttelt den Kopf. "Ich
meine, er hat schon immer versucht, für mich da zu sein, wenn
ich ihn brauche, aber so richtig unangenehm ist das mit ihm erst,
seit ich mich durchgesetzt habe und hierher geflogen bin." Sie
zuckt mit den Schultern. "Wir machen wohl beide gerade eine
seltsame Phase durch und er lebt sie so aus."
"Du bist
sehr nett." Gabrielle springt auf, als das Telefon im Foyer
lautstark zu klingeln beginnt "Stellst du das Tablett in die
Küche, bevor du weggehst? Die ist gleich hier." sie deutet
auf die offene Terrassentür, auf die sie zusteuert "Das
wäre wirklich lieb. Ich muss jetzt dringend zurück an die
Arbeit."
Julie nickt und winkt.
"Viel
Spaß." schmatzt sie ihr nach "Ich werd mich schon
zurechtfinden."
"Bestimmt.
So groß ist die Küche nicht."
Julie greift
nach ihrem Buch und schlägt es wieder auf. Nach einer halben
Stunde wird ihr in der Sonne zu warm und sie beschließt, nach
drinnen zu gehen. Also packt sie das Tablett und balanciert es in
Richtung Küche. Merkwürdig, dass Gabrielle es mit Essen für
mindestensdrei Personen beladen, selber aber gar nichts
gegessen hat. Sie schüttelt den Kopf und betritt die Küche,
einen großen, hellen Raum. Sie stellt das Tablett auf die
Arbeitsplatte und sieht sich um. Die Geschirrspülmaschine hat
sie schnell gefunden. Währendsie Messer und Teller
verstaut,fragt sie sich, was Gabrielle wohl für eine
Krankheit hat.
Julie entdeckt
den Kühlschrank und öffnet die Tür. Alles ist
feinsäuberlich sortiert, Wurst und Fleisch unten, Käse ganz
oben. Während sie Butter und Saft verstaut, fällt ihr Blick
auf einige Fläschchen in der Tür. Auf den Etiketten hat
jemand handschriftlich 'Methadon' vermerkt. Sie betrachtet die
Flaschen eine ganze Weile stirnrunzelnd. Methadon? Für
Gabrielle? Macht sie einen Entzug und Erik betreut sie? Hastig
schlägt sie die Kühlschranktür wiederzu. Das
geht sie überhaupt nichts an. Erik ist nur ihr Lehrer und
Gabrielle seine Assistentin, mehr nicht. Wenn einer von ihnen
drogenabhängig war oder ist, sollte sie das nicht kümmern.
Sie lässt
das Tablett auf der Arbeitsplatte stehen und verlässt die Küche.
Abends betritt
Gabrielle den Instrumentensaal, klettert auf das Klavier und schiebt
sich auf dem Rücken in Richtung Tastatur, bis ihr Kopf über
die Kante hängt und sie Eriks Augen sehen kann.
"Warum
hast du ihr gesagt, dass wir Geschwister sind? Ich dachte, du gibst
keine Interviews."
"Das sind
zwei verschiedene Dinge, Gabrielle." er hört auf zu
spielen. "Wie fühlst du dich?"
"Gut.
Wirklich. Aber du hättest mich fragen sollen, bevor dus ihr
erzählst."
"Sie wird
mindestens ein halbes Jahr hier leben. Es ist albern, ihr solche
Dinge verschweigen zu wollen." Er legt seine Hände auf
Gabrielles Schultern und schiebt sie von sich "Es wäre
nett, wenn du mich jetzt arbeiten lassen würdest."
"Darf ich
ihr was über dich erzählen?" sie zieht sich an seinen
Armen zurück über die Kante.
"Solange
du respektierst, dass es Dinge gibt, von denen ich nicht möchte,
dass sie sie weiß." Er macht sich los. "Ist sonst
noch etwas?"
"Mmmmmmh..."
sie tut so, als müsste sie überlegen. "Für Julies
Aufnahmen wurde ein Aufschub um fünf Tage gewährt."
Sie rutscht vom Klavier. "Maddie hat sich gemeldet, allerdings
schweigt Monsieur Dawson sich derzeit aus. Und die vom Kurzfilm
wollen ein paar Änderungen; das Fax dazu habe ich auf deinen
Schreibtisch gelegt."
"Gut."
Er brummt unzufrieden. Kunden, die Änderungen wollen, sind die
schlimmsten.
Mit
zusammengekniffenen Augen krallt sich Julie in die Armablage ihrer
Beifahrertür fest, als sie am nächsten Tag mit Gabrielle
gen Brüssel rast. Der Motor des Ferrari heult auf."Hatte ich
dir gesagt, dass mir unglaublich schlecht wird, wenn du den Motor so
untertourig fährst?" presst sie hervor und schluckt schwer.
"Nein.
Soll ich anders fahren?"
"Ich weiß,
ich bin ein grässlicher Beifahrer... Vielleicht könntest du
etwas früher schalten, nur ein bisschen..." schlägt
sie leise vorund wirft einen schnellen Blick nach draußen.
"Ist ja
gut, nicht weinen." Gabrielle tritt auf die Bremse, als die
Ampel vor ihr auf Gelb springt. "Ich habe nicht so viel Übung
im Fahren. Willst du auf dem Rückweg ans Steuer?"
Abwehrend hebt
Julie die Hände.
"Nein,
danke, wirklich nicht. Ich bin seit Jahren nicht mehr selbst
gefahren, wahrscheinlich mach ich es auch nicht besser."
Gabrielle
grinst verwegen.
"Auf dem
Stück Landstraße fährst du. Das ist ein Befehl. So...
Parkplatz... Da! Hah!" Sie reißt das Steuer herum und
setzt den Wagen mit einem rasanten Manöver perfekt in die Lücke.
"Da wären wir."
Julie öffnet
die Tür und atmet tief durch. Sofort fällt ihr eine kleine
Gruppe von Männern auf, die Gabrielle und sie anstarren. Klar,
Weiber mitFerrari... Sie verdreht die Augen und wendet sich
Gabrielle zu.
"Wohin
gehen wir?"
"Hm..."
Gabrielle zieht eine Straßenkarte aus ihrer Gesäßtasche,
dreht sie hin und her und meint dann: "Wir sind jetzt direkt vor
der Altstadt. Die könnten wir uns ansehen... Sowas gibt es ja
nicht in Québec, oder? Und dann setzen wir uns in ein Café
und bestellen uns das teuerste, was auf der Karte steht. Und dann
gehen wir einkaufen!" Sie klatscht in die Hände
"Ich brauche ein paar Stoffe, Farben... und du... du kriegst
auch was... Ich schenk dir was, das mir über den Weg läuft.
Wie Aschenputtel."
Julie lacht.
"Hör
bloß auf, am Ende gewöhne ich mich noch daran. Aber wenn
Lucas morgen oder übermorgen wiederkommt, könnte ich ihn
tatsächlich überraschen." Sie hakt sich bei Gabrielle
unter und wirft einen kurzen Blick auf die Karte. "Und du wirst
mich beraten."
"Oh, da
kenne ich einen Laden... Korsetts mit Strapsen... schwarze Spitze..."
Gabrielle seufzt verträumt.
"Korsagen
ja, aber ich glaube nicht, dass ich Lucas mit Strapsen angenehm
überrasche." Julie grinst "Er ist da etwas...
konservativ." Sie wirft einen kurzen Blick nach hinten. Die
Typen starren noch immer den Ferrari an.
"Oh, du
musst was mit Strapsen nehmen. Komm, sei ein braves Kind und leb das
aus, was Mama nicht kann." im Vorbeigehen bleibt Gabrielles
Blick an einer Tonfigur in einem Schaufenster hängen "Ooooh... Frösche!" quietscht sie "Aber wenn du
nicht willst..."
"Du stehst
auf Frösche?"
Verständnislos
schaut Gabrielle sie an.
"Frösche?
Nein. Jetzt sag, Strapse oder keine Strapse? Ich muss das wissen,
damit ich mir vorstellen kann, dass sie genau das perfekte Korsett
für dich dahaben."
"Keine
Strapse, sonst erkennt mich Lucas gar nicht wieder." Julie
seufzt resignierend "Ich kann mir schon ziemlich gut sein
erschrockenes Gesicht vorstellen, wenn ich damit vor ihm stehe."
Sie schüttelt sich bei dem Gedanken dran. Nein, wenn Lucas
zurückkommt, wird alles wieder so, wie es sein soll. Sie waren
schon immer ein Paar, und sie werden sich auch wieder zusammenraufen.
"Auch dein
Lucas hat Träume." meint Gabrielle sachlich.
Julie grinst.
"Ich
glaube bloß, dass Strapse nicht unbedingt ein Teil davon
sind... Irgendwann habe ich mir mal eine Tunika genäht und
wollte ihn damit überraschen. Anfangs fand er es ganz lustig,
aber je häufiger ich sie getragen hab, desto genervter war
davon. Männer sind einfach seltsam."
"Sind sie?
Dann sollte ich wohl froh sein, dass ich keinen habe." Gabrielle
bleibt stehen und deutet auf ein Schaufenster auf der anderen
Straßenseite. "Du kriegst ein Korsett mit abnehmbaren
Strapsen, dann kannst du dir aussuchen, wie sehr du ihn schockst."
"Was macht
dich eigentlichso sicher, dass Männer auf Strapse
stehen?" Julie runzelt die Stirn und sieht an sich herunter. Bei
ihrem schlichten Kleidungsstil hat sie sich noch niemals Gedanken
darübergemacht, irgendetwas derartiges zu tragen. Jeans
und Top - zum Glück hat sich Gabrielle heute ausnahmsweise mal
für verhältnismäßig normale Klamotten
entschieden, sonst kämesie sich neben ihrein
wenig verloren vor.
"Ich bin
nicht sicher, ob sie drauf stehen, Julie. So..." Als sie die Tür
des Ladens öffnet, beginnen ein paar altmodische Glöckchen
zu klingeln und Gabrielle reckt den Kopf nach dem Geräusch "Wir
können auch wieder gehen, wenn du willst."
"Und du
bist dir sicher, dass mir so etwas steht?" Julie blickt sich
unschlüssig, um. Bisher war sie noch nie in einem solchen Laden.
Sie fühlt sich vollkommen überfordert.
"Oh, da
ibin/i ich mir sicher." Sie betrachtet Julie mit
schief gelegtem Kopf und legt dann die Hände auf ihre Taille "Du
hast einen Körper, zu dem vieles passt." Als der
Ladenbesitzer neben sie tritt, lässt sie ihre Hände wieder
sinken und zieht ihren Mund in die Breite "Einmal schwarzes
Korsett mit Strapsen für das grünäugige Mädchen.
Bitte."
Julie merkt,
dass sie bis zu den Haarwurzeln errötet, als der Mann
kommentarlos und zielsicher ihre Hüft-, Taillen- und
Unterbrustweite misst, sie noch einmalvon oben bis unten
betrachtet und dann kurz verschwindet.
"Ich hab
sowas noch nie gemacht." sagt sie leise.
"Ich auch
nicht." flüstert Gabrielle zurück "Ist das nicht
aufregend?"
Julies Kinnlade
klappt nach unten.
"Dann
bewundere ich dich noch viel mehr. Ich hatte wirklich den Eindruck,
dass du hier ständig einkaufst."
Gabrielle
kichert.
"Für
wen sollte ich denn so etwas tragen? Für Erik? Nein, ich habe
mir ein Korsett genäht für mein Biedermeierkleid, aber
sonst... Ich kannte nur das Schaufenster."
"Aber
irgendwann hattest du doch sicherlich mal einen Mann." wirft
Julie ein und versteift sich, als der Verkäufer zurückkommt,
auf der Ladentheke ein paar Korsetts ausbreitet und dann erneut
verschwindet.
"Nein,
kein Mann für Gabrielle. Sie ist zu verrückt."
Gabrielle nimmt eins der Korsetts zur Hand und betrachtet die Nähte.
"Das hier ist gut gearbeitet."
"Ich trage
aberkein rotes Korsett! Egal wie gut es verarbeitet ist."
sie nimmt es aus Gabrielles Hand, betrachtet es einen Augenblick und
schüttelt dann den Kopf. Nein, Strapse iund/i rote
Spitze, das würde Lucas wirklich nicht überstehen. "Willst
du mir wirklich erzählen, dass es da nie nie nie einen Mann
gab?"
"Das
schwarze hier ist nicht so toll... aber das hier. Halt mal das hier
fest." Sie presst die Lippen zusammen und mustert ein weiteres
schwarzes Korsett "Ich hab schon... naja... aber keine Beziehung
gehabt. Das... es ist wegen der Krankheit." Sie wirft Julie
einen entschuldigenden Blick zu.
Die hält
das schwarze an und betrachtet sich in einem der Spiegel. Zweifelnd
zieht sieeine Augenbraue hoch.
"Doch, das
ist gut." Gabrielle schiebt sie in Richtung Umkleide. "Probiers
mal an, dann komm raus und ich zurrs gut fest. Ich hab Übung."
"Was genau
hast du?" fragt Julie vorsichtig, währendsie
eingeschnürt wird, undgreift nach einem weißen
Korsett auf dem Ständer,umdamit vor Gabrielle
hin und her zu wedeln.
Unschlüssig
mustert Gabrielle das Korsett. Dann schüttelt sie den Kopf.
"Manische...
manische Depression." murmelt sie schließlich. "Aber
es geht mir gut. Wirklich! Nimm kein weißes, das ist zu
unschuldig und kriegt schnell Flecken."
"Hm."
macht Julie nachdenklich und hängt es zurück. Prüfend
dreht sie sich vor dem Spiegel und stützt eine Hand auf die
Hüfte. Sie grinst. "Ich hatte nicht vor, es so lange
genug anzubehalten. Aber gut, dein Wille ist mein Befehl, ich nehme
ein schwarzes und zwardas hier, das sitzt nicht schlecht."
"Es muss
perfekt sitzen, und du musst es tragen, Julie."
"Und Lucas muss verstehen, wie er es wieder von mir runter bekommt."
lächelt Julie "Nein, das hier ist gut... ich will das
hier." Als sie brav angezogen wieder aus der Umkleide kommtkramt sieihr Geld heraus und schüttelt den Kopf.
"Sieht so aus, als müssten wir das teure Café
ausfallen lassen, aber ich könnte dir ein Eis spendieren."
Gabrielle zückt
ihr Portemonnaie und fischt einen Fünfhundert-Euro-Schein
heraus, um ihn schulterzuckend zu betrachten.
"Ich
glaube, das reicht für dein Korsett und fünfzig Café
Latte. Erik ist ekelhaft reich."
"Das kann
ich aber nicht annehmen. Er unterrichtet mich schon und ich wohne bei
euch. Mehr kann ich wirklich nicht verlangen." protestiert
Julie.
"Pah."
macht Gabrielle "Und wenn ich dich trete, wenn du dich nicht
einladen lässt? Freu dich einfach. Er hats ja nicht mal richtig
gemerkt, als ich mir den Ferrari gekauft habe." Sie grinst.
"Diesen Monat habe ich noch keinen Cent für was schönes
ausgegeben; hilf einer armen kranken Frau, das zu ändern."
"Pf."
Julie hebt die Hände "Bevor du mich verprügelst. Aber
dafür bekommst du ein Eis... oder ein großes Stück
Kuchen... oder beides."
"Na gut,
und dann sind wir quitt und du lässt dich von mir einladen, so
oft ich will. Okay?" Sie hält Julie ihre Hand hin.
Die runzelt die
Stirn und schlägt dann ein.
"Gut, dann
zeig mir jetzt das teuerste Café, das Brüssel zu bieten
hat."
"Erzähl
mir noch was von Lucas." murmelt Gabrielle träge, während
sie auf der Sonnenterrasse des Ritz in einem Stuhl fläzt und
ihren doppelten Café Latte umrührt. "Was... was
macht ihr so zusammen?""Zusammen?"
Julie denkt kurz nach, "Wir habeneine gemeinsame
Wohnung, manchmal gehen wir zusammen aus... Kino oder so. Weniger ins
Theater, davon hab ich meistens tagsübergenug gehabt.
Bei meinem Job ist das halt alles etwas kompliziert. Meistens arbeite
ich, wenn er endlich Feierabend hat." Sie seufzt und lehnt sich
zurück.
"Klingt
anstrengend."
"Der Job?"
Julie zuckt mit den Schultern "Er macht Spaß, wenn man mal
ein Engagement hat und nicht ständig zu Auditions laufen muss."
"Nein, ich
meine, einen Freund zu haben."
Julie lacht
auf.
"Es gibt
wesentlich schlimmeres."
"Hm."
macht Gabrielle. Dann kichert sie "Ich hab mal eine Anzeige
aufgegeben und ganz viele Briefe bekommen. Aber Erik hats
rausgekriegt. Sonst wäre ich bestimmt längst verheiratet
und hätte fünfundzwanzig Kinder am Hals."
Julie runzelt
die Stirn.
"Will er
nicht, dass du einen Freund hast?" Sie zerdrückt die
letzten Kuchenkrümel mit der Gabel.
"Das...
das ist nicht so einfach..." Gabrielle nimmt ihre Serviette und
faltet ein Schiff daraus "Er beschützt mich vor mir selber,
ich... ich mach ziemlich wilde Sachen manchmal... Niemand könnte
sich so um mich kümmern wie Erik. Er kennt mich genau. Ohne ihn
säße ich in einer geschlossenen Anstalt und es ginge mir
viel schlechter." Sie beginnt, die Serviette in kleine Fetzen zu
reißen, die sie zu Kugeln rollt und in einer Reihe auf den
Tisch legt.
"Hm."
Nachdenklich blickt Julie auf die Reihe Serviettenkügelchen.
"Siehst du, dann hast du auch einen männlichen Beschützer
an deiner Seite, so wie ich Lucas habe. Und ich wette, Erik ist
manchmal genauso stressig wie ein Freund." Sie blinzelt gegen
die Sonne an und lehnt sich dann wieder zurück.
"Aber er
ist mein Bruder... das... macht ein paar Sachen... anders."
"Mal
abgesehen davon dass ihr nicht... " Julie bricht ab. "Aber
du hattest irgendwann schon mal... ich meine, da gab es mal
jemanden... ganz kurz?"
Gabrielle macht
eine philosophisch-selbstironische Geste.
"Ganz ganz
viele ganz ganz kurz."
"Oh, hm."
Julie nickt "Naja, aber ich glaube, wenn du neben deinem Bruder
noch einen Freund hättest, würde das auf Dauer nur in
Stress enden. Erik ist sicher auch nicht immer leicht."
Gabrielle
nickt.
"Man muss
ihn manchmal ignorieren. Wenn er seine irren zehn Minuten hat und
ausrastet, weil etwas nicht genau so ist, wie er es gerne hätte.
Dann schreit er rum und hat ein... sehr kreatives Vokabular."
sie grinst "Wie Rumpelstilzchen."
"Künstler.
Was meinst du, was ich an den Theatern schon erlebt habe...
Regisseure, Dirigenten..." Julie schüttelt den Kopf und
löffelt die letzten Reste Honig aus dem Glasschälchen,
neben ihrer Teetasse.
"Ja..."
Gabrielle lacht "Er ist ein Künstler."
Julie schielt
auf die Uhr.
"Wann
müssen wir zurück sein?"
"Och...
der Soundcheck geht bestimmt bis mitten in der Nacht. Erik ist
krankhaft pedantisch. Aber wenn du willst, können wir wieder
nach Hause fahren."
"Nein."
hastig schüttelt Julie den Kopf "Ich dachte, wenn ich schon
mal die Gelegenheit habe, in Brüssel zu sein... wer weiß,
wann ich das nächste Mal frei habe... Was kannst du mir noch so
zeigen?"
Gabrielle zückt
wieder die Karte und reicht sie Julie.
"Da steht
alles drauf, Museen, Monumente... Zeug..."
"Kein
Museum." sagt Julie entschlossen "Dafür ist das Wetter
zu schön. Wir könnten in den Park gehen, oder zum Atomium?"
"Klar.
Wenn dus auf der Karte findest."
Julie legt die
Stirn in Falten.
"Ich bin
ein miserabler Kartenleser..." Dann breitet sich ein
triumphierendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. "Schongefunden. Also?"
"Kellner!"
blökt Gabrielle quer über die Terrasse "Zahlen!"
Am späten
Abend desselben Tages lässt Julie den Kopf zurück
auf ihr Kissen fallen. Neben ihr liegt das schwarze Korsett
ausgebreitet.
"... Also,
eigentlich nichts besonderes." beendet Lucas seine Erzählung.
Sie presst den
Hörer noch fester an ihr Ohr und schließt die Augen. Es
ist schön, seine Stimme zu hören.
"Wie geht
es dir? Hast du wiedergesungen?" reißt er sie aus
ihren Gedanken.
"Nein, ich
hatte frei. Das Orchester war da, also gar keine Zeit für eine
Gesangsstunde. Gabrielle und ich waren in Brüssel."
"Du und
Gabrielle?" vergewissert er sich, und Julie kann sich nur allzu
gut vorstellen, wie ungläubig er in diesem Augenblick schaut.
Sie grinst.
"Es war
lustig. Wir haben ein paar Boutiquen abgeklappert, waren in... einem
Café... oh, und ich habe mir endlich das Atomium angesehen."
fällt ihr ein.
Lucas stöhnt.
"Sieht so
aus, als wäre mir da jemand zu vorgekommen. Ich hatte das fest
eingeplant, wenn ich zurück bin und du wieder frei hast."
Julie lächelt.
"Das
nächste Mal fahre ich mit dir dort hin. Aber es war wirklich ein
schöner Tag."
"Schläfst
du wieder besser?"
"Heute
Nacht werde ich bestimmt schlafen wie tot." weicht sie aus
"Gabrielle hat mich wirklich durch halb Brüssel gezerrt."
Lucas räuspert
sich.
"Das
klingt fast so, als würdest du dich gut mit ihr verstehen. Ist
sie nicht mehr so komisch?"
"Ach, man
gewöhnt sich ziemlich schnell an sie. Und ich habe auch eine
Überraschung für dich." Sie grinst und berührt
den Stoff des Korsetts mit den Fingerspitzen.
"Sag!"
Sie schüttelt
den Kopf.
"Erst wenn
du wieder kommst."
"Also
übermorgen..." meint er leise.
Julie schürzt
enttäuscht die Lippen.
"Übermorgen
erst? Ich dachte, vielleicht kommst du schon morgen..."
"Leider
nicht. Aberdafür bleibe ich dann auch länger. Ach,
meine Mutter lässt fragen, ob du irgendetwas brauchst."
Julie seufzt.
"Nein,
eigentlich nur dich."
Er macht ein
merkwürdiges Geräusch am anderen Ende der Leitung.
"Du fehlst
mir auch. Übermorgen... und ich bin gespannt auf die
Überraschung."
"Das
darfst du auch sein." grinst sie.
"Julie?"
"Ja?"
"Du weißt
schon..."
Sie verzieht
traurig das Gesicht. Nur ein einziges Mal, Lucas...
"Ich dich
auch."
"Erik?"
"Ja?"
kommt es nach einer Weile aus der Gegensprechanlage.
"Wo bist
du?"
"In meinem
Büro. Ich bin noch sehr beschäftigt. Ist irgendetwas
wichtiges?"
"Wie war
der Soundcheck?" Gabrielle zieht die letzten Haarnadeln aus
ihrer Perücke und streift sie ab, um sich über den Kopf zu
reiben.
"Es ging."
er gähnt "Die erste Geige hat ein Problem mit mir. Sonst
noch was?"
"Ich war
mit Julie in Brüssel."
"Erzählst
du mir das morgen beim Frühstück?"
"Wir waren
in einem Café."
Sie hört
ein Seufzen.
"Ich komme
gleich ins Wohnzimmer und höre dir zu."
"Danke."
Gabrielle lächelt.
"... und
ein Korsett mit Strapsen und halterlose Strümpfe."
Erik starrt sie
einen Moment lang an.
"Gabrielle..."
murmelt er dann und schüttelt den Kopf.
"Lucas
hält auch nichts davon." sie grinst.
"Darum
geht es nicht. Du musst mir nur wirklich nicht alles erzählen,
was du mit Julie unternimmst. Es ist doch... recht privat, aus ihrer
Sicht."
"Ja, gib
mir wieder Unterricht in Sozialverhalten." Gabrielle rümpft
die Nase. "Wir hatten jedenfalls viel Spaß miteinander.
Gute Nacht." Sie will gekränkt aufstehen und das Zimmer
verlassen, doch Erik hält sie an der Gesäßtasche
ihrer Jeans fest, zieht sie aufs Sofa zurück und schließt
sie in seine Arme.
"Entschuldige,
Gabrielle. Erzähl nur weiter. Ihr wart also zusammen einkaufen.
Was habt ihr noch gemacht?"
"Das
Atomium angesehen." sie schmiegt ihren Kopf an seinen Bauch und
schließt die Augen "Wir waren im Park. Und ich habe ihr
erzählt, wo ich ohne dich wäre. Aber sie findet es nicht
schlimm. Sie war danach immer noch normal zu mir."
"Das ist
schön. Ich freue mich für dich."
"Das
solltest du auch. Ich hab sie den Ferrari fahren lassen."
