Schon
lange dürstete es Aphrodite nach einer Tochter, die ihr an
Schönheit ebenbürtig wäre.
So
machte sie sich auf die Suche nach einem Mann, dessen Äußeres
ihren Wünschen entsprach. Und sie entdeckte auf ihrer Reise in
die Menschenwelt den Bauern Yannis, der mit seiner Frau Pelagia in
kinderloser Ehe lebte.
"Mensch."
sprach sie ihn an "Ich will eine Tochter."
Auf
dem Feld sprang der Bauer ehrfürchtig vor Aphrodites schöner
Gestalt zurück.
"Herrin,
ich habe nichts, was ich dir geben könnte. Sieh, mich bindet ein
Schwur an Pelagia."
Doch
Aphrodite ließ sich nicht beirren.
"Ich
habe Welten durchwandert, um in dir den Vater meiner Tochter zu
finden."
"Doch
Herrin." entgegnete Yannis "Siehst du nicht, meine Ehe
blieb kinderlos? Ich kann dir nicht geben, wonach du verlangst."
"Gibst
du es mir nicht freiwillig, so werde ich es doch bekommen."
sprach Aphrodite erbost.
Und
der Bauer floh in das Haus zu seiner Frau, aus Angst, Aphrodites Zorn
würde ihn treffen.
In
der Göttin der Schönheit reifte jedoch ein anderer Plan.
So
kam es, dass Aphrodite in der Frühe des nächsten Tages die
Gestalt einer jungen Markfrau annahm, deren Haar von der Farbe der
Morgensonne war.
Yannis,
auf dem Felde, wurde ihrer Schönheit wohl gewahr, doch konnte er
an nichts anderes denken, als an sein eigenes Weib, das im Hause auf
ihn wartete.
"Yannis."
sprach die Marktfrau "Nimm mich zu deiner Frau und zeuge mit mir
ein Kind."
"Ich
erkenne wohl deine Schönheit." entgegnete der Bauer "Doch
dein Zauber mag mich nicht blenden. Du bist die Göttin
Aphrodite."
Und
Aphrodite ging.
Am
nächsten Tag jedoch trat sie in Gestalt einer jungen Weberin zu
ihm, mit Haaren, die die Farbe von schwarzem Pech hatten.
"Yannis,
liege mir bei."
Doch
der Bauer ließ sich auch an diesem Tage nicht täuschen.
"Fort
mit dir, Aphrodite! Denn nur mit Pelagia, meinem Weib, werde ich dass
Bett teilen."
"Dann
wird eure Ehe auf ewig kinderlos sein." sprach die Göttin
erbost.
"So
sei es." Und er fuhr fort, seine Arbeit zu verrichten, und
Aphrodite verschwand.
Bei
Anbruch des nächsten Tages aber besuchte sie als Pelagia
verkleidet den Auserwählten auf dem Felde auf.
"Yannis."
rief sie ihn an "Ich bin es, dein Weib Pelagia. Komm zu
mir und liege mir bei."
Und
Yannis erkannte in ihr seine Frau und wohnte ihr bei.
Da
nahm Aphrodite ihre wirkliche Gestalt an und sprach triumphierend:
"Nun habe ich doch die Tochter bekommen, die du mir nicht geben
wolltest."
Und
Aphrodite gebar nach drei Tagen eine Tochter, die schöner war
als ein junger Frühlingsmorgen. Sie taufte diese Tochter Agape,
was Liebe bedeutet.
Doch
als Agapes Schönheit der ihrer Mutter nicht nur ebenbürtig
wurde, sondern sie weit überstieg, wurde die Göttin
eifersüchtig. Niemand in der Götterwelt sollte anmutiger
sein als sie selbst.
So
suchte sie den Bauern Yannis erneut auf dem Felde auf.
"Mensch."
sprach sie.
Der
Bauer fiel auf die Knie und jammerte.
"Oh
Herrin, Gnade! Ich bin nur ein armer Mann, der alles verloren hat.
Meine Pelagia hat sich in ihrem Schlafzimmer mit einer Haarspange das
Leben genommen, als sie von Eurer grausamen Täuschung erfuhr.
Was verlangt ihr noch von mir?"
Aus
ihrem Kleid zog Aphrodite die Tochter hervor.
"Das
Kind, das du mir gegeben hast. Ich will es nicht mehr. Zieh meine
Tochter groß und es wird dir an nichts fehlen."
Und
so kam es, dass Yannis, der Bauer, ein Kind bekam, das in Schönheit
und Grazie der Göttin Aphrodite in nichts nachstand.
Julie hält
die Augen geschlossen und lauscht Gerard Butlers 'Music of the
Night'. Der Stuhl ist bereits seit Einbruch der Dunkelheit unter der
Haustür verklemmt. Bisher hat sie keinen Schlaf gefunden, aber
sie hat auchkeine Lust, noch einmal durch alle Fernsehkanäle
zu zappen.Plötzlich
ist da ein Geräusch vor der Tür. Sie schreckt hoch, sucht
hektisch nach der Fernbedienung und schaltet die Musik mit zitternden
Händen aus. Jemand klopft... Ihre Beine werden weich und sie
muss sich an der Wand entlang zu Küche tasten. Der
Messerblock... Ihre Finger schließen sich um das größte
Messer, das sie finden kann. Dann geht sie zurück in den Flur
und späht durch das kleine Fenster. Nichts...
Sie zerrt den
Stuhl unter dem Türgriff hervor und öffnet die Tür
einen winzigen Spalt.
"Julie?
Ich bin es..." kommt Eriks Stimme von draußen. "Ich
komme in friedlicher Absicht und habe Geschenke mitgebracht."
Erleichert
zieht sie die Tür ein wenig weiter auf, doch erst, als sie ihn
erkennt, lässt sie langsam das Messer sinken.
"Komm
rein."
Amüsiert
mustert Erik die Waffe.
"Beim
nächsten Mal nimm lieber einen der Küchenstühle mit
zur Tür. Damit kannst du dir jemanden vom Leib halten. Das
Messer hat dir ein geübter Angreifer schnell abgenommen, und
dann kann er es gegen dich verwenden." er reicht ihr das große
Honigglas, das er mitgebracht hat "Ich dachte mir, dass deine
Vorräte wieder erschöpft sein müssen."
Julie lächelt
schwach.
"Weißt
du, dass du manchmal ziemlich beunruhigend sein kannst?" Sie
schüttelt den Kopf und schließt die Tür hinter ihm.
"Ich hatte den Küchenstuhl schon unter die Tür
geklemmt und wahrscheinlich hätte ich das Ding nicht mal oben
gehabt, bevor der Einbrecher mich angegriffen hätte." Sie
runzelt die Stirn. Sie muss Lucas daran erinnern, dass er ihr
Pfefferspray mitbringt.
"Gehe in
Defensivhaltung, ehe du die Tür aufmachst. Aber, wie ich dir
bereits versichert habe, das Gelände hier ist absolut
einbrecherfrei. Und wenn nicht, weiß Gabrielle davon und gibt
es mir weiter. Nun..." er folgt Julie ins Wohnzimmer und schaut
sich um "Wie ich sehe, hast du dich schon gut eingerichtet.
Waren deine letzten Nächte erholsamer als die erste?"
"Etwas."
weicht sie aus und nimmt das Wollknäuel und das Buch vom Sofa,
um Platz für ihn zu machen. "Morgen Abend ist Lucas wieder
da."
"Gut."
er setzt sich und schlägt die Beine übereinander "Wird
morgen ein produktiver Unterricht möglich sein?"
"Nach fast
vier Tagen Ruhe?" Sie grinst, "Ich hoffe, ich werde dich
endlich positiv überraschen können." Sie lehnt sich
gegen die Wand und betrachtet ihn.
"Willst
du... etwas trinken?"
"Nein,
danke. Gabrielle erzählte gestern, dass ihr gemeinsam in der
Stadt wart. Ich hoffe, sie hat dich nicht zu sehr mit Beschlag
belegt." Er nimmt das Buch vom Tisch und beginnt, darin
herumzublättern.
Julie errötet.
Wieviel hat ihm Gabrielle erzählt? Etwa auch von dem Korsett?
Nein, das würde sie nicht... Sie schüttelt den Kopf und
setzt sich zu ihm.
"Nein, es
war sehr lustig. Deine Schwester ist nett."
"Das selbe
hat Gabrielle über dich gesagt." er lächelt "Es
freut mich, dass ihr euch versteht." Er legt das Buch zurück
und deutet mit dem Blick auf Julies Strickwerk "Dein Hobby?"
Sie nickt.
"Ja...
Strümpfe... Nur selbstgestrickte halten wirklich warm." Sie
beginnt, an dem blauen Wollknäuel herumzunesteln. "Gabrielle
ist sehr krank?" vermutet sie.
"Ja. Aber
sie kommt zurecht, solange sie ihre Medikamente nimmt."
"Manisch
hat sie gesagt." sie runzelt die Stirn "War das schon immer
so, oder hat sie etwas schlimmes erlebt? Entschuldigung, ich möchte
dich nicht ausquetschen, aber ich wollte Gabrielle auch nicht selbst
fragen."
Erik schüttelt
den Kopf.
"Ist schon
gut, ich kann verstehen, dass du darüber bescheid wissen willst.
Gabrielle ist manisch depressiv. Sie pendelt zwischen den Extremen.
Man kann davon ausgehen, dass es bei ihr angeboren ist; unser Vater
litt auch an dieser Krankheit. Er hat sich kurz nach meiner Geburt
umgebracht." Erik bewegt sich unbehaglich auf seinem Platz
"Unsere Mutter starb unter... weniger schönen Umständen,
Gabrielle hat es mitansehen müssen. Das hat die Krankheit wohl
endgültig ausgelöst."
Julie senkt den
Blick und zwirbelt den Faden zwischen ihren Fingern.
"Das ist
schrecklich... für... für euch beide. Und es gibt keine
Möglichkeit, dass Gabrielle wieder völlig gesund wird und
keine Medikamente mehr braucht?"
Erik zuckt mit
den Schultern.
"Gabrielle
kommt meist ganz gut damit zurecht. Und ihre Krankheit... Ganz ohne
Phasenprophylaxe wird sie vermutlich nie leben können; aber sie
ist heute wesentlich stabiler als noch vor ein paar Jahren."
Julie runzelt
die Stirn.Und was ist mit ihm? Belastet ihn der Tod seiner
Mutter gar nicht? Aberwahrscheinlich will er einfach nicht
darüber sprechen. Nicht mit ihr. Sie weicht seinem Blick ein
weiteres Mal aus.
"Wie waren
die Orchesterproben?"
Erik lacht
leise.
"Anstrengend.
Solisten sind... grauenvoll jähzornige Menschen."
"Tatsächlich?"
Sie schmunzelt, als ihr einfällt, das Gabrielle und sie die
gleiche Feststellung über ihn gemacht haben. "Kann... kann
ich mir das ganze anhören?"
"Wenn du
dich in die Dunkelheit hinaustraust, mit nichts als deinem
Gesangslehrer, um dich zu beschützen."
"Raus?"
fragt sie tonlos. "Ach... achso. Natürlich... Ich weiß
nicht, wenn ich nicht allein bin..." Warum sollte es mit ihm
etwas anderes sein als mit Lucas? Sie traut Erik nicht zu, dass er
ihre Angst ausnutzen würde, um über sie herzufallen. Sie
hebt den Blick und zwingt sich zu einem Lächeln. "Warum
nicht?"
"Gut."
er steht auf und geht in Richtung Tür "Komm. Eine Jacke
brauchst du nicht, es ist noch sehr warm draußen."
Julie folgt ihm
und schaut sich noch einmal im Wohnzimmer um. Anlage und Fernseher
sind ausgeschaltet. Sie seufzt.
"Aber du
musst mich nachher auch wieder bis hierher bringen!"
"Natürlich."
Sie ballt die Hände zu Fäusten und tritt aus dem Haus.
"Gehen
wir." Kaum fällt die Tür hinter ihr ins Schloss, merkt
sie, dass sich alles in ihr verkrampft. Sie macht ein paar ängstliche
Schritte in Eriks Richtung.
"Entschuldigung."
murmelt sie, als sie ihm auf den Fuß tritt.
"Macht
nichts." antwortet er automatisch und mustert sie "Wir
können das ganze auch auf morgen verschieben, Julie."
Sie seufzt.
"Morgen
kommt Lucas zurück und jetzt stehe ich sowieso schon hier
draußen." Sie schließt einen kurzen Moment die
Augen.
"Lucas
hätte etwas dagegen, dass du noch mit ins Hauptgebäude
kommst?" fragt Erik irritiert und legt seine Hand auf ihren Arm.
Julie schüttelt
den Kopf, genießt die Wärme seiner Hand. Es hat etwas
beruhigendes.
"Nein,
aber ich würde mir morgen nach der Stunde gerne noch etwas Zeit
zum Aufräumen nehmen... um etwas zu kochen oder so. Und ich habe
noch eine Überraschung für ihn..." murmelt sie und öffnet langsam die Augen.
"Ich bin
mir sicher, er freut sich darüber." antwortet Erik mit
leichtem Sarkasmus, als er sich denken kann, was mit 'Überraschung'
wohl gemeint ist, und sich erinnert, welche Reaktion Gabrielle für
Lucas prophezeit hat. "Nun komm." er geht ein paar Schritte
voraus.
Verwirrt
kräuselt Julie die Nase und folgt ihm hastig mit hochgezogenen
Schultern.
"Wenn du
etwas anderes vorhast oder lieber schlafen willst... ich kann das
auch ein anderes Mal hören."
"Nein."
er schaut sie über seine Schulter an "Ich habe mir zwei
Stunden für einen Besuch bei dir freigehalten."
"Habe ich
irgendetwas falsches gesagt?" Sie schluckt und drängt sich
ein Stück näher an ihn. Sie hat sich absolut überschätzt,
als sie dachte, es würde kaum ein Problem darstellen, mit
ihm im Dunklen nach draußen zu gehen.
"Nein…
Ganz ruhig, wir sind gleich da."
Sie presst die
Lippen aufeinander.
"Gut."
Ihre Hände sind schweißnass.
"Du neigst
dazu, dir zuviel zumuten zu lassen, habe ich recht? Das kann ich
nicht mit ansehen. Vorsicht..." er nimmt sie auf den Arm "Mach
die Augen zu und stell dir vor, es wäre hell."
"Was
meinst du, was ich die ganze Zeit versuche." entgegnet sie
schwach "Aber da sind immer noch diese Geräusche. Nachts
ist es hier so ruhig, dass man jedes Rascheln und Knacken hört."
Sie stöhnt und lehnt den Kopf an seine Schulter. Doch vor lauter
Angst kann siekaum die Wärme, die sein Körper
ausstrahlt genießen. Immer wieder schlägt sie die Augen
kurz auf um sich zu vergewissern, dass da wirklich nichts ist, was
sie bedrohen könnte.
"Waldtiere."
antwortet er "Und keines ist größer als du,
jedenfalls keines, das Fleisch frisst." Er schaut auf sie
hinunter "Was müsste passieren, damit du deine Angst
verlierst?"
"Nachts
müsste die Sonne scheinen." sie schmunzelt gezwungen "Ich
habe keine Ahnung. Manchmal geht es. In Quebec... wenn ich in einer
hell beleuchteten Stadt bin. Obwohl das vollkommener Unsinn ist. Da
werden viel mehr Verbrechen begangen als hier." Sie schluckt
schwer.
"In der
Tat... So, da wären wir." er stellt sie wieder auf ihre
Füße und öffnet die Tür.
Im Hörsaal
heißt er sie, auf dem Sessel in der Mitte des Raumes Platz zu
nehmen. Dann kramt er sich durch die Kiste mit den Tapes.
"Moment,
ich habe das alles noch nicht richtig beschriftet..."
Julie dreht
sich um die eigene Achse und bestaunt die riesigen Lautsprechertürme
in den vier Ecken des quadratischen Raumes. Dann lässt sie sich
in dem einladend aussehenden Sessel in der Zimmermittenieder.
Ihre Finger gleiten vorsichtig über die Fernbedienung zu ihrer
linken. Langsam fährt die Lehne des Sessels nach hinten.
"Wofür
sind diese ganzen Funktionen auf der Fernbedienung? Das sind
wesentlich mehr als bei einer normalen für eine Musikanlage."
stellt sie erstaunt fest.
"Balance,
Höhen, Bass... Und eine schaltet das Licht aus." antwortet
Erik trocken. Dann geht er zu ihr hinüber und nimmt ihr die
Fernbedienung aus der Hand. "So. Diese Aufnahme dürfte dem
Endergebnis nahe kommen..." Er tippt auf Play. "Voilà.
'Fille noire', es untermalt den Abspann. Du wirst dazu singen."
Julie schließt
die Augen und lauscht der Musik, die sie von allen Seiten umflutet,
fast so, als säße sie inmitten des Orchesters.
Das Stück
klingt anders, als das, was Erik sonst komponiert, aber es gefällt
ihr. Sehr sogar.
Als plötzlich
Eriks aufgebracht fluchende Stimme vom Band zu hören ist, setzt
sie sich erstaunt auf.
"Merde!
" Erik hackt mit dem Finger auf 'Pause', aber die Anlage
reagiert nicht gleich "Ohje... habe ich das wirklich gesagt...?"
Julie grinst.
"Nana,
manche Dinge solltest du sicher in einem Tresor verschließen."
Dann prustet sie los. "Bitte was ist das?"
"Ich
glaube, das willst du nicht wissen..." er spürt, wie er
leicht errötet, und schaltet die Anlage manuell aus "Ich
nehme meine Arbeit eben ernst."
"Das merke
ich." Sie lehnt sich wieder im Sessel zurück "Ich habe
jedenfalls noch keinen Gesangslehrer gehabt, der so fest davon
überzeugt war, dass meine Stimme zu mehr fähig ist als
jetzt."
"Du wirst
noch über dich selber staunen." Er wirft einen Blick auf
die Uhr der Fernbedienung. "Gleich ist es halb elf. Du solltest
jetzt ins Bett gehen; ich will dich morgen um neun ausgeschlafen und
mit einem Frühstück im Bauch neben meinem Flügel
stehen sehen."
Julie rutscht
von dem Sessel.
"Eines
Tages möchte ich auch so ein Ding haben." sagt sie und
wendet sich Erik zu. "Gut, dann auf ein Neues... raus ins
Dunkle Ich verspreche auch, mich ganz doll zu beherrschen."
"Das
Angebot mit dem Zimmer hier im Haus gilt noch immer." erinnert
er sie.
"Nicht
wegen dieser einen Nacht... das wäre Unsinn." Sie legt den
Kopf schräg und zieht eine Augenbraue hoch. "Es sei denn,
du hast weder Zeit noch Lust mich zu begleiten."
"Nein,
diese fünf Minuten kann ich gerade noch erübrigen."
Sie lächelt
schief.
"Das ist
schön. Nimmst... nimmst du meine Hand, wenn wir draußen
sind? Nur bis wir ankommen..."
"Natürlich."
Sie beißt
sich auf die Lippe, als es immer dunkler wird und sie sich langsam
vom Lichtkegel des Hauses entfernen. Ihr Atem wird schneller und sie
klammert sich an Eriks Hand "Erzähl mir was... irgendwas!"
"Es lebte
einmal vor langer Zeit ein Prinz, der war sehr eitel und
selbstverliebt. Deshalb verwandelte ihn eine Fee in einen Frosch."
"Wir haben
gestern in Brüssel auch Frösche gesehen." presst Julie
hervor "Im Schaufenster." Sie schluckt.
"Tatsächlich?
Magst du Frösche?"
"Ich mag
Ratten."
"Warum?"
"Hochintelligente
Tiere... lernfähig... eigentlich ganz putzig, wenn man sich an
den nackten Schwanz gewöhnt hat." Sie runzelt die Stirn.
"Hast du zufällig diese grässliche Vergewaltigung des
Phantoms von Argento gesehen, mit den Ratten, die aussahen, als hätte
Jim Henson sie entworfen? Abartig war das..."
"Diese
Version kenne ich nicht. Nach Charles Dance ist mir die Neugier auf
Phantom-Filme vergangen."
"Charles
Dance war die Version, die in der Pariser Oper gedreht wurde."
spult Julie herunter und drückt Eriks Hand fester als
beabsichtigt "Beruht auf dem Yeston-Kopit-Musical. Erik hat
einen liebevollen Vater und eine noch liebevollere Mutter gehabt."
Sie blinzelt. "Hältst du so etwas für möglich?"
"Nein."
antwortet er kurz.
"Ich auch
nicht." sie atmet ruckartig aus. "Welches war die beste
Verfilmung, die du gesehen hast?"
"Oh...
Ehrlich gesagt finde ich keine sonderlich gelungen... Und schon sind
wir da." er bleibt stehen und lehnt sich an die Wand "Soll
ich für dich aufschließen?" fragt er dann, mit Blick
auf ihre zitternden Hände.
Julie beißt
sich auf die Zunge.
"Nein, ich
denke, das geht schon." Sie kramt den Schlüssel aus ihrer
rechten Hosentasche und schiebt ihn mit beiden Händen ins
Schloss. "Drei Jahre Übung..." Sie stößt
die Tür auf, streckt die Hand nach innen und tastet an der Wand
nach dem Lichtschalter. Erst als der Flur erleuchtet ist, tritt sie
ein.
"Wirst du
schlafen können?"
"Bestimmt...
ich muss nur ein bisschen warten und Musik hören." Sie
zwingt sich zu einem Lächeln obwohl ihre Beine noch so stark
zittern, dass sie kaum stehen kann.
Erik schaut sie
ernst an.
"Ich will
morgen nicht gezwungen sein, den Unterricht ausfallen zu lassen."
"Das wirst
du nicht."
"Gut."
Er berührt sanft ihr Kinn "Gute Nacht." Damit wendet
er sich ab, und während er zum Haus zurückgeht, versucht
er, nicht darüber nachzudenken, wie er sich jetzt fühlen
würde, wenn das Methadon seine Libido nicht so gnadenlos
ausbremsen würde.
